30.10.2017: Wieder einmal treffen sich Politiker zur UN-Klimakonferenz. Diesmal in Bonn vom 6. bis zum 17. November. Von Tagung zu Tagung rückt die Welt näher an die Klimakatastrophe. "Das Klima wird zum Kollaps getrieben, und zwar durch die der kapitalistischen Gesellschaftsformation eigenen systemischen Antriebsmechanismen, die daher als Ursachen auf die Agenda des politischen Handelns gesetzt werden müssen", schreibt Elmar Altvater, und stellt fest, dass auch unter "der Drohung der Klimakatastrophe eher die Existenz des Planeten in Frage gestellt wird als die des kapitalistischen Wirtschaftssystems". Altvater schlussfolgert, dass "sich die bedrohlichen Probleme des Anthropozän nur durch Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Machtverhältnisse bewältigen" lassen.
Elmar Altvater:
Die Faszination, die vom Anthropozän ausgeht, ist dem Fetischismus geschuldet, die Menschen könnten nicht mehr nur ihre eigene Individual- und Sozialgeschichte machen, sondern auch die des Planeten Erde. Menschen leben erstens ihr jeweils individuelles Leben, zweitens handeln sie in der längerfristigen Geschichte von Kultur und Gesellschaft und gestalten deren Formen (deren Ensemble die Gesellschaftsformation bildet) mit ihrer Art und Weise zu produzieren und zu leben, und drittens befinden sie sich in der tausende, ja Milliarden Jahre umschließenden Geschichte der irdischen Natur. Die Rationalität des Handelns des Menschen ist in den Zeitskalen dieselbe, nämlich instrumentell im Sinne Max Webers, ihre Wirkungen freilich sind in den verschiedenen Sphären der menschlichen Existenz höchst unterschiedlich.
Der Erdball ist eine Baustelle des homo sapiens. Er greift absichtsvoll, zumeist aber rücksichtslos in die Sphären des Planeten ein. Anders als der Artentod in der früheren Erdgeschichte ist dieser heute von der selbsternannten "Krone der Schöpfung", dem Menschen und seinem übergroßen Fußabdruck verursacht. Das "sechste Sterben" (Kolbert 2016) der Lebewesen ist in vollem Gange, das nicht wie das Sauriersterben vor 60 Millionen Jahren auf den irdischen Vukanismus oder einen Kometeneinschlag aus den Weiten des Weltraums zurückzuführen ist. Auch der von Menschen zu verantwortende Klimawandel verändert die Existenzbedingungen des Lebens auf diesem Planeten. Zwischen der nicht lebendigen und der lebendigen Natur und daher auch zwischen den Zeitskalen der Geschichte gibt es also irritierende Überschneidungen.
Die Rückwirkungen zwischen toter und lebendiger Natur können sogar tragisch sein. Der Klimawandel des Anthropozän tötet. Hunderttausende haben als Folge des Meeresspiegelanstiegs, von Hitzeweilen, Überflutungen, Hurricanes und anderen während des Holozän "ungewöhnlichen Wetterereignissen" ihre Heimat verloren oder gar ihr Leben lassen müssen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass jährlich weltweit annähernd sieben Millionen Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung sterben.
Das ist inzwischen globales Alltagswissen, wenn man Trump und andere Idioten unberücksichtigt lässt, die externalisierte "Nebensachen" völlig aus ihrer Weltwahmehmung verdrängen. Idioten sind im klugen Sprachgebrauch der griechischen Polis vor fast zweieinhalb Jahrtausenden jene Zeitgenossen, die sich, weil ohne Empathie und Weitblick, um das Geschick ihrer Mitbewohner und das Schicksal der kommenden Generationen auf Erden nicht scheren. Ihre Strategie der Externalisierung hat also unweigerlich die Verblödung zur Folge. "America first" muss als das gesehen werden, was es ist: eine Kriegserklärung an den Planeten und seine Bewohner, seien sie nun männlich oder weiblich, schwarz oder weiß. Das Leben existiert nur als Netzwerk gleichberechtigter Wesen (als ,"web of life" schreibt Jason Moore 2015) und verträgt weder ein gekröntes Haupt noch die Hervorhebung einer Rasse (der weißen), eines Geschlechts (des männlichen) oder einer Nation ("America first").
Als Papst Franciscus in seinem "Apostolischen Schreiben" vom 24. November 2013 "Evangelii Gaudium" verkündete, dass "diese Wirtschaft tötet" (Paragraph 53), hatte er nicht in erster Linie den Klimawandel vor Augen, sondern "die Ausschließung und die Disparität der Einkommen". Die soziale und nicht die ökologische Frage, ein Soziozid und weniger das Ökozid treibt den Papst um. Er weiß aber um die Herausforderungen der drohenden Klimakatastrophe für die Menschheit und berücksichtigt die Erkenntnisse der aktuellen Klimaforschung in der Enzyklika "Laudatio si" aus dem Jahre 2015. Es sind nicht das Klima und die anderen Sphären des Planeten Erde für die Folgen des Klimawandels verantwortlich zu machen; deshalb zielt jeder Versuch des "Geo- oder des Climate Engineering" ins Leere, weil die Ursachen gar nicht ins Visier geraten.
Nicht jeder und jede einzelne ist verantwortlich, und deshalb sind Appelle an eine Änderung des Lebenswandels so hilflos. Denn das Klima wird zum Kollaps getrieben, und zwar durch die der kapitalistischen Gesellschaftsformation eigenen systemischen Antriebsmechanismen, die daher als Ursachen auf die Agenda des politischen Handelns gesetzt werden müssen. Die Krisen der Natur sind dem Doppelcharakter der Produktion geschuldet. Werte müssen wachsen, die pausenlose Akkumulation von Kapital, das ist "Moses und die Propheten" (MEW 23: 621), und das auf einem in Zeit und Raum endlichen Planeten. Das kann ja nicht gut gehen.
Die Produktion und Aneignung des Überschusses in der Form des Mehrwerts ist Existenzbedingung des Kapitals (Greffrath 2017). Die Größe des Mehrwerts hängt von der Länge der Arbeitszeit und der Intensität (der Verdichtung) der Arbeit ab. Es ist offensichtlich, dass es physische Grenzen der Ausdehnung von Zeit und Arbeitsdichte und daher auch der Mehrwertproduktion gibt, die, wenn sie nicht respektiert werden, in Klassenkämpfen durchgesetzt werden. Die Grenze ist aber überwindbar, und zwar durch den historischen Trick der Steigerung der Produktivität der Arbeit. Dadurch nämlich wird die Arbeitszeit zur Herstellung derjenigen Güter (und Dienste) verkürzt, die jeder Arbeiter zu seiner eigenen Reproduktion (und der seiner Familie) benötigt. Die Zeitspanne wird verlängert, in der der Arbeiter für fremde Rechnung arbeiten kann. Das ist in der kapitalistischen Produktionsweise so, gilt aber prinzipiell in allen anderen Produktionsweisen auch. Die Möglichkeit, den Überschuss in der Form des absoluten Mehrwerts zu erzeugen, ist gegeben, weil die Form von Ware, Geld und Kapital dies zulässt. Am Anfang der Analyse von Produktion und Akkumulation steht bei Marx daher die Analyse der Formen des Arbeitens und Lebens im Kapitalismus, auch um den Unterschied der Ausbeutungsformen in kapitalistischer, feudaler oder Sklavenhaltergesellschaft zu begreifen.
Von der historischen Möglichkeit zur Steigerung der absoluten und vor allem der relativen Mehrwertproduktion hängt die Profitabilität des eingesetzten Kapitals der heute so genannten "lnvestoren" ab. Mehr von allem in der gleichen, möglichst aber in kürzerer Zeit lässt sich nur durch die Beschleunigung aller Prozesse erreichen. Also muss der Raum für das Tempo der Mehrwertproduktion entsprechend zugerichtet werden. Zu diesem Zweck werden gewaltige und manchmal großartige lnfrastrukturen geschaffen, ICE-Trassen, Kanaltunnels, Containerhäfen. Temposteigerung, um die Produktivität zu erhöhen, ist oberstes Ziel der technischen Entwicklung im Kapitalismus. Die Technik wird so entwickelt, dass sie die kapitalistischen Treiber bedient, nicht etwa menschliche Bedürfnisse besser befriedigt.
Zur Überwindung der Barrieren von Raum und Zeit muss vor allem Energie zur Verfügung stehen, und zwar umso mehr und umso dichter, je höher das Tempo. Möglichst potente Energie mit hohem "Energy Return on Energy lnvested" (ERoEI) ist im Kapitalismus gefragt. Dafür werden die geeigneten Technologien entwickelt. Die Energieträger, die dieser Bedingung am besten genügen, sind die fossilen Kohlenwasserstoffe in der Gestalt von Kohle, Öl, Erdgas und Methan, die aus der Erdkruste "exhumiert" (MacBrien 2016: 122) werden müssen. Exhumiert, weil sie in Millionen Jahren aus lebendiger Biomasse gebildet wurden und sich in einem langen geologischen Prozess in "Fallen" gesammelt haben. Das sind die Flöze, Lagerstäten, Quellen, die Sehsuchtsorte der fossilen Begierden. Denn die Beschleunigung im Interesse der relativen Mehrwertproduktion wird bei deren Protagonisten zur Sucht.
Die von Marx so bezeichnete "reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" verlangt also auch die reelle Subsumtion der Natur unter das Kapital. Die Produktion des Mehrwerts hat eine "Naturbasis" (MEW 23:534), und die hat eine Geschichte, die länger zurückreicht als die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, die Marx am englischen Beispiel des Übergangs zum Kapitalismus im 24. Kapitel des "Kapital" beschreibt. Sie hat auch Folgen, die uns von einer Klimakonferenz zur nächsten treiben. Obwohl die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital immer zusammen mit der der Natur unter das Kapital stattfindet, hat Marx letztere nicht so ausführlich und auf die politischen Konsequenzen hin in seine Kritik der politischen Ökonomie einbezogen, wie die Vielfalt der Begleitumstände der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. Das war zu seiner Zeit sowohl theoretisch als auch hinsichtlich der politischen Konsequenzen vollkommen berechtigt.
Doch sind die Grenzen des Planeten (planetary boundaries) erreicht, Ressourcenlager sehr weitgehend geleert und die Schadstoffdeponien in den Erdsphären übervoll. Daher provozieren die Folgen von Inwertsetzung und Verwertung der Natur des Planeten soziale und ökologische Bewegungen vergleichbar der Arbeiterbewegung gegen die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. Doch die Unterschiede sind ebenfalls beträchtlich. Die Bewegungen zum Schutz von Luft (gegen den Klimawandel), Wasser, Artenvielfalt, Land und Böden haben ein Momentum, das den Erkenntnis- und Aktionshorizont der zumeist national aufgestellten traditionellen Arbeiterbewegung übertrifft. Sie müssen Zeithorizonte der Natur berücksichtigen, die über Gesellschaftszeiten und die darin gebildeten Konfliktperspektiven hinausgehen.
Für das Kapital und seine Protagonisten ist es entscheidend, dass die Entwicklung der Arbeitsproduktivität es erlaubt, "die notwendige Arbeitszeit auf einen Teil des Arbeitstags zu beschränken" (MEW 23 534). Diesen Teil nicht nur im Einzelfall, sondern für den "produktiven Gesamtarbeiter" insgesamt zu verkürzen, ist das ungestüme Streben des Kapitals, das sich dazu der Hilfe von Arbeitswissenschaft- und Betriebswirtschaftslehre bedient. Die "naturbedingten Produktivkräfte der Arbeit" erscheinen nun mit wissenschaftlicher Autorität begründet als ,"Produktivkräfte des Kapitals, dem sie einverleibt" werden (MEW 23: 538).
Die Steigerung der Produktivkräfte zur relativen Mehrwertproduktion wird fortgesetzt bis zur "reellen Subsumtion des Planeten Erde unter das Kapital" (McBrier 2016 122). Für diese endlose Geschichte wird der ununterbrochene Nachschub fossil gebundener Energie gebraucht. Diese wird durch Verbrennung des jeweiligen Energieträgers freigesetzt. Dabei entstehen unvermeidlich jene Treibhausgase, die für den Klimawandel und seine Folgen verantwortlich sind.
Auch die Inbesitznahme und Inwertsetzung des Planeten erscheint als Produktivkraft des Kapitals und diese wird als Wirtschaftswachstum und Wohlstandssteigerung positiv in den kapitalistisch dominierten Gesellschaften verbucht und kommuniziert. Unter der Drohung der Klimakatastrophe wird daher eher die Existenz des Planeten in Frage gestellt als die des kapitalistischen Wirtschaftssystems (Kovel 2002). Das ist politisch nicht belanglos. Vom Menschen zu verantwortende Probleme des Anthropozän ließen sich mit technischer Raffinesse bewältigen. Doch wenn verstanden wird, dass nach wenigen Jahrhunderten kapitalistischer Akkumulation der Planet nicht vom Menschen, wie er seit mehr als 100.000 Jahren die Erde bevölkert, reell subsumiert und dabei ruiniert wird, sondern vom Menschen in kapitalistischer Vergesellschaftung, dann ließen sich die bedrohlichen Probleme des Anthropozän nur durch Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Machtverhältnisse bewältigen.
Das wäre nicht die erste soziale Revolution in der Erd- und Gesellschaftsgeschichte. Nach der Eiszeit am Ende des Pleistozän hat die Warmzeit des Holozän die Entwicklung der menschlichen Kulturen auf Erden begünstigt. Die neolithische Revolution von Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht beginnt mit dem erdgeschichtlichen Holozän. Seitdem die Menschen sesshaft werden, wird getauscht. Also seit ungefähr 11.700 Jahren, vereinzelt wahrscheinlich schon früher, werden daher auch Waren, also Produkte für den Verbrauch anderer produziert. Das ist die Bedingung für die Entstehung des Geldes als ein allgemeines Tauschmittel. Denn nun waren die klimatischen Verhältnisse für Ackerbau und Viehzucht günstig genug, um in Konkurrenz mit Jäger- und Sammlertätigkeiten zu treten.
In vieler Hinsicht lebten die Menschen als Jäger und Sammler besser als ihre Vieh züchtenden, Acker bauenden und Waren tauschenden Zeitgenossen und Nachfahren, und dennoch setzte sich die Option der Sesshaftigkeit durch. Ihr zu folgen, war allerdings der "größte Fehler", den die Menschheit je begangen hat, sagt dazu der Ethnologe Jared Diamond. Zwar waren diesem Fehler "Ackerbau, Viehzucht und unvergleichliches Bevölkerungswachstum zu verdanken, aber auch eine Welt voller Ungerechtigkeit, Krankheiten und Gewalt. Wenn es je einen Sündenfall der Menschheit gab, dann war es der, das Leben als Jäger und Sammler aufzugeben." (van Schaik und Michel 2016: 36) Allerdings fiel den neolithischen Revolutionären der Sprung aus der Jäger- und Sammlertätigkeit in die Sesshaftigkeit leicht, hatten sie doch inzwischen gelernt, das Feuer zu nutzen zur Rodung von Flächen, zur Dingung der Böden, zur Zubereitung von Speisen, als Wärme- und als Lichtquelle. Das war ein Produktivitätssprung, zu dem, der griechischen Mythologie zufolge, den neolithischen Menschen Prometheus verholfen hatte, der griechische Gott, der den Menschen das Feuer brachte - und damit ihre Lebensweise revolutionieren half. Nicholas Georgescu-Roegen bezeichnet daher die neolithische als eine "Prometheische". Revolution (Georgescu-Roegen 1971), die erst wieder Jahrtausende später von zweiten Prometheischen Revolution, der industriellen Revolution, getoppt wurde.
Am Ende der Entwicklung des Holozän, in unseren Tagen also, werden die Toleranzmargen der Erderwärmung überschritten, und das kann dazu führen, dass über die Jahrzehnte und Jahrhunderte die durch das Holozän so sehr begünstigten Zivilisationen der Menschheit wieder verschwinden. Auch das prometheische Feuer gehorcht den physikalischen Gesetzen und erzeugt Emissionen, und der Kapitalismus braucht ein günstiges Klima, nicht zu kalt und nicht zu warm. Daher hat, so schreibt Marx im Kapital, der Kapitalismus seinen Ursprung nicht in den üppigen Tropen, sondern in den gemäßigten Breiten (MEW 23:534f). Die für die relative Mehrwertproduktion so zentrale Steigerung der Produktivkraft der Arbeit ist "an Naturbedingungen gebunden". Mineralische und energetische Rohstoffe, die Nahrungsmittel für Arbeitskräfte müssen in ausreichender Qualität und Menge und preiswert zur Verfügung stehen, wie Jason Moore hinzufügt (Moore 2016). Daher die Versuche, die Kosten zu senken - durch Steigerung der Produktivkraft oder dadurch, dass sie externalisiert werden.
Elmar Altvater: Auszug aus dem Artikel "Nach 150 Jahren 'Das Kapital' - Kritik der politischen Ökonomie am Plastikstrand" in der Zeitschrift Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 111, September 2017
Klima schützen - Kohle stoppen!
Es gibt also gute Gründe, sich Anfang November an der Demonstration in Bonn (4.11.), an den Aktionen von Ende Gelände gegen die Braunkohle (5.11.) und am Gegengipfel der NGOs und Umweltbewegungen (3. bis 7.11.) aus aller Welt zu beteiligen.
Foto: oben Flickr | Bierlos;
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