12.09.2014: Die jüngsten Präsidentschaftswahlen in der Türkei brachten zweifellos keinen Überraschungssieger. Doch der Ablauf und einige Erkenntnisse über zukünftige Wege der Führung sowie über notwendige Orientierungen für einen Zuwachs von linken Kräften sind es wert, auch noch mit dem Abstand einiger Wochen reflektiert zu werden. Die in der Schweiz über Menschenrechte in Europa und staatliche Gewalt arbeitende türkische Doktorandin Ezgi Yildiz hat dies so zusammen gefasst:
Recep Tayyip Erdogan wurde der erste in allgemeinen Wahlen bestimmte Präsident in der Geschichte der türkischen Republik und errang in den Präsidentschaftswahlen am 10. August 52% der Stimmen. Eklemeddin Ihsanoglu, der gemeinsame Kandidat der CHP (als säkular und Mitte-Links bezeichnet) und der MHP (Nationalisten des rechten Zentrums) wurde Zweiter mit 38% der Wählerstimmen. Selahattin Demirtas von der HDP (pro-kurdisch, links) wurde Dritter mit 9,6% der Stimmen.
Die Wahlen vom 10. August beleuchten gut das Rätselhafte der türkischen Politik und den Erfolg von Erdogans AKP bei der Verschiebung der türkischen Politik nach rechts. Ein sichtbares Ergebnis war der klare Gewinn der Wahl durch Erdogan bereits in der ersten Runde, was ihn zum ersten Präsidenten durch allgemeine Wahlen machte, was eine Tatsache darstellt, auf die er seine (un)rechtmäßigen Aktionen als Präsident gründen wird. Der allgemeine Schwenk der Politik der Mitte nach rechts war jedoch ein feiner und systematischer Wandel, der nicht nur Erdogan in die Hände spielte, sondern vielen Wählern die Enttäuschung brachte, dass sie von den Oppositionsparteien nicht vertreten wurden.
Erdogans Erfolg, die zentralen Gebiete der Türkei und damit die Wahlen zu gewinnen, ist eine Enttäuschung, an die viele weltliche und linke Türken über die Jahre traurigerweise gewöhnt sind. Eine weitere Enttäuschung, die sie immer wieder erlebt haben, ist die willensschwache Politik der großen Oppositionsparteien. Die Republikanische Volkspartei (CHP) – offiziell eine sozialdemokratische Partei – hat schon lange, um mit den Rechten und Islamisten der AKP zu konkurrieren, keinerlei Verbindung mehr mit der Linken. Sie verlor ihre Luft, indem sie dem Schatten der AKP in der Absicht nachjagte, deren Erfolg zu erreichen. Ihre Entscheidung zur Unterstützung von Ihsanoglu, einem Theologen und ehemaligen Generalsekretär der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, beleuchtet nur noch einmal ihre strategische Totgeburt.
Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, von dessen Präsident traditionsgemäß erwartet wird, als unparteiischer Verfechter des Rechtsstaats zu handeln. Das erklärt zum Teil das Ausmaß, in dem der Kandidat der größten Opposition sich selbst als ideologisch neutral darstellte. Jedoch wurde Ihsanoglus konservative Grundhaltung in einigen seiner weniger protokollierten Kommentare deutlich, die er während seiner Wahlkampagne machte.
Ihsanoglu gab sich die größte Mühe, darauf zu pochen, dass er „die Geisteshaltung und die Präferenzen" der AKP-Wähler vertrete, und dass er von inzwischen desillusionierten Gründungsmitglieder der Partei Erdogans unterstützt werde. Er rief zudem die LGBT-Gemeinschaft, deren Sache gerade in die Hauptströmung der oppositionellen Politik Eingang findet, dazu auf, den Status der Türkei als einer „konservativen Gesellschaft" zu achten und sich entsprechend zu verhalten.
Der neu in der türkischen Politik auftretende Ihsanoglu bot zu Erdogan keinerlei Alternative, weder in der Klassenpolitik noch im Hinblick auf emanzipatorische soziale Standpunkte. Seine Wahlkampagne konzentrierte sich stattdessen auf demokratische Verfahren und auf bescheidene Begrenzungen der Rolle des Staates im Leben der Bürger. Er versprach, die Erhaltung der bestehenden Machtstrukturen und das Beschränken der Exzesse von 'Erdogans Demokratie', vornehmlich der von Erdogans AKP-Regierung verfolgten vorherrschend autoritären und populistischen Politik. Ihsanoglus Vision von Demokratie schließt einige Elemente der Weltlichkeit und eine größere Bekräftigung der Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen ein.
Bei einer Präsidentschaft Ihsanoglus würden die Aktivitäten der Regierung auf öffentliche Lebensbereiche beschränkt und die Einmischungen in die Privatsphären würden nicht toleriert. In anderen Worten heißt das, dass der Staat nicht mehr eine Maschinerie der sozialen Gestaltung wäre, dessen höchste Aufgabe es wäre, die privaten Lebensbereiche durch eine solche Einmischung in die Lebensweise der Menschen oder ihre Glaubenssysteme zu regeln, wie es die von Erdogan hochgelobte „konservative Demokratie" bedeutet.
Zudem versprach er in seiner Wahlkampagne angesichts sowohl der inländischen, wie auch der regionalen Unruhen Frieden und Stabilität. Ihsanoglus von der CHP abgesegneten Position ist bestenfalls eine Form des klassischen Liberal-konservativen Denkens ohne irgendwelche Spuren linker Gedanken. Obwohl sein Wahlprogramm im Vergleich zu dem Erdogans schmackhafter klang, war er doch für alle auch nur minimal links von der Mitte Stehenden nicht die Alternative, auf die sie gehofft hatten.
Kapitalistisch in der Struktur und zurückhaltend konservativ in kulturellen Angelegenheiten und mit einem sich etwas mehr zurückhaltendem Staat spiegelt Ihsanoglus Türkei[vision] den Stand von etwa 2010 wider. Zwar nicht ein Rückfall in die Tage vor der AKP-Herrschaft, aber in die Zeit vor dem Sieg der AKP in dem Verfassungsreferendum, der ihr die Macht und den benötigten Schwung für den vollumfänglichen Angriff des Staats auf weltliche Lebensweisen und die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit gab, der seither stattgefunden hat.
Während Ihsanoglu implizit also eine Rückkehr zu dem 'zurückhaltend islamischen' Mitte-Rechts-Profil der AKP um 2010 befürwortete, schlug Demirtas Schritte zu einer Türkei vor, die es niemals vorher gab, nicht in den frühen Tagen des weltlichen Nationalismus und auch nicht später. Die Wahlkampagne der HDP wurde im Geiste linken Denkens geführt. Demirtas ist eine ehemaliger Menschenrechtsanwalt mit kurdischen Wurzeln und hatte in seiner vorhergehenden politischen Karriere die Rolle des Kampfes für die kurdische Sache wahrgenommen.
In den Präsidentschaftswahlen stellte er sich jedoch als Kandidat 'des Volkes und des Wandels' vor, als ein Kandidat, der nicht nur die Kurden, sondern auch andere in der Türkei lebende Gruppe vertritt und mit einer Vision [für die Türkei], die über einen rein kurdischen Standpunkt hinausgeht. Er forderte „radikale Demokratie", ein von Laclau und Mouffe entwickeltes spät-marxistisches Konzept, welches ihm für die gegenwärtige Sachlage der Türkei passend erschien.
Er betonte, dass die traditionellen politischen Parteien die Zusammenstöße von verschiedenen Gruppen der Türkei – wie Nationalisten, Linken, Weltlichen, Kemalisten, Islamisten oder Menschen mit verschiedenen ethnischen Identitäten – stets ausgenutzt hatten, indem sie eine oder mehrere als ihre Machtbasis einsetzten und sich gegen die anderen wandten. (Die AKP-Regierung war in besonders herausragender Weise ein schlauer Anwender dieser üblen Politik.)
Demirtas trat dafür ein, dass eine Lösung der gegenwärtigen politischen Krise nicht auf der Vorherrschaft einer dieser Gruppierungen auf Kosten der anderen begründet sein dürfe. Denn das würde nur die sozialen Spannungen vertiefen und zu weiteren Missständen führen. Demirtas 'radikale Demokratie' würde die Unterschiede zwischen diesen Gruppen und den Menschen am Rande der Gesellschaft akzeptieren, ohne ihnen eine gleichförmige Identität aufzuzwingen. Diese Strategie würde der Möglichkeit einer harmonischen Koexistenz unter den anleitenden Grundsätzen des Menschenrechts und einer starken Vorstellung positiver Freiheit Vorrang geben. Sein Wahlkampf enthielt das Eintreten für Frauen, Arbeiter, für die Umwelt und sogar für schwule und lesbische Rechte, und diese starken Standpunkte unterschieden ihn sehr von den beiden anderen Kandidaten.
In der Tat unterscheidet sich Demirtas Vision von der Erdogans nicht nur graduell, sondern im Wesen. Obwohl die türkische Verfassung den Präsidenten als unparteiischen Wächter der Republik und ihrer Gesetze betrachtet, machte Erdogan deutlich, dass er kein neutraler Präsident sein würde, sondern dass er an der Seite 'seines Volkes' sein werde, womit er die Wählerschaft der AKP meinte. Erdogan hat zudem versprochen, von der Präsidialmacht zur Auflösung des Parlaments Gebrauch zu machen, einer von der gültigen Verfassung im Hinblick auf einen Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnis, die in der Praxis seit der Präsidentschaft von Kenan Evren, als er 1980 mit einem Militärputsch an die Macht kam, nicht mehr eingesetzt wurde.
Demirtas Programm bot eine erfrischende Lösung der traditionellen Widersprüche in der türkischen Politik und wurde tatsächlich von einer beträchtlichen Zahl von Menschen in der Türkei bewundert, obwohl man nicht sagen kann, dass dies in den Wahlurnen völlig zum Ausdruck kam. Unmittelbar vor den Wahlen und kurz danach, diskutierte ich mit Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen, die mir sagten, sie würden für Ihsanoglu oder Erdogan stimmen oder hätten das bereits getan. Wenn ich sie nach ihrer Meinung zu Demirtas fragte, war die Antwort die gleiche und kann wie folgt zusammen gefasst werden: „Ich mag Demirtas Gedanken und Ansätze ... wenn er nur nicht offen oder schweigend die PKK unterstützte", oder „wenn seine Partei nur nicht allein für die kurdische Sache einträte".
Man kann daraus zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens wird ein aktives Eintreten für die kurdische Sache weiter wie ein Tabu behandelt, welches die nicht kurdische Bevölkerung zurück hält, Politikern ganz zu vertrauen, die eine Vergangenheit in dieser Sache haben. Zweitens ist die Zahl der linken Sympathisanten erheblich. Dies kann aus der unerwarteten Popularität von Demirtas abgeleitet werden, die er in den Augen von Menschen hat, die sich normalerweise nicht mit den kurdischen Anliegen verbinden, und einschließlich derer, die letztlich nicht für ihn stimmten. Diese Beobachtung gibt den Blick auf einen starken Wunsch frei, das Zentrum der türkischen Politik nach links zu verschieben. Jede Partei, die ein wirklicher Gegner von Erdogan sein will, muss zuallererst diese Suche der Menschen wahrnehmen.
Erdogan überließ die Folgen seines extrem verzerrten politischen Systems nicht unserer Phantasie. Die Folgetage der Wahlen lesen sich wie ein Kriminalfilm. Zuerst eliminierte er seinen langjährigen Verbündeten Abdullah Gül, den früheren Präsidenten und Mitbegründer der AKP, indem er ihn als Bedrohung kennzeichnete. Mit seinem Segen wurde dann Ahmet Davutoglu, der frühere Außenminister und emsige Unterstützer pan-islamistischer Ideologie, mit einem überragenden Abstimmungsergebnis auf dem außerordentlichen AKP-Kongress am 27. August zum Vorsitzenden der Partei gewählt [am Folgetag erteilte ihm Staatspräsident Recep Tayyip Erdo?an den Auftrag zur Regierungsbildung].
In ihren jeweiligen Reden gelobten sowohl Erdogan, als auch Davutoglu Zusammenarbeit und teilten ihre Vision der 'Neuen Türkei' (Yeni Türkiye) der Öffentlichkeit mit. Der neugewählte Präsident Erdogan machte seine Absicht bekannt, dass er die organischen Verbindungen zu seiner Partei, die er 'mein fünftes Kind' nannte, nicht abschneiden werde. Ohne noch irgendwie vorzugeben, eine neutrale Position einnehmen zu wollen, wie es sein neues Amt erfordern würde, handelte er als der de facto Führer der Partei und sprach über die Mission (dava) seiner Partei, die er jetzt als Präsident fortführen werde. Jedoch wäre dies erst der Beginn, wie Erdogan selbst unterstrich, und die Ausformung der kommenden Dinge in seiner 'Neuen Türkei' wird noch etwas anderes sein.
Davutoglu und Erdogan scheinen sich in ihrer Verständigung der Machtteilung im Gleichklang zu befinden, was vermutlich zu weiterer Konzentration von Macht führen wird und ein bereits gefährdetes System von Kontrolle und Ausgewogenheit noch illusorischer macht. Der frühere Präsident Gül handelte oft wie eine Art Notar und unterschrieb jeden Vorschlag der AKP ohne Widerstand. Doch in Erdogans 'Neuer Türkei' werden sich die Gezeiten wenden und die präsidiale Macht wird ausgedehnt werden. Die Verständigung zwischen Erdogan und Davutoglu wird den Weg für Erdogans Vorherrschaft in der türkischen Politik ebnen, was Erdogan durch die Errichtung eines exekutiven Präsidialsystems abzusichern hofft.
Es war aber auch Vertrautes in ihrer Vision der 'Neuen Türkei' versteckt. In erster Linie wurde dies in ihren traditionellen polarisierenden politischen Reden dargeboten, in denen insbesondere die Säkularen (der alte geschlagene Feind) und Fethulah Gülen (der gestern noch loyale Verbündete und heutige grimmige Feind) auf klassische Weise nieder gemacht wurden. Sowohl Erdogan, als auch Davutoglu drückten ihre Entschlossenheit aus, den 'Parallelstaat' der Gülen-Bewegung zu bekämpfen.
Wie es derzeit aussieht, wird die 'Neue Türkei' nichts anderes als eine neue Erscheinungsform der polarisierenden Erdoganschen Demokratie sein, welche als antreibende Kraft ihrer Macht ständig eine Feindgestalt braucht. Das Gerede von Feinden und die dadurch erzeugten Spannungen haben Erdogan gut geholfen, die Öffentlichkeit zu kontrollieren und weitere Macht in seiner Hand zu konzentrieren. Diese krankhafte Tendenz beschädigt jedoch weiterhin das soziale Gefüge, schafft neue Feindschaften und wiederbelebt alte.
Die 'Neue Türkei' hat sich bereits als eine weitere Sackgasse erwiesen. Obwohl der Wahlkampf von Demirtas HDP ein guter Anfang war, wird eine stärker geeinigte Opposition erforderlich sein, um eine Linkswendung zu erreichen und einen neuen Weg zu finden.
Quelle: criticatac (eigene Übersetzung) / Foto: Wikipedia (und weitere Einzelinformationen)