22.03.2014: Venezuela hat in den vergangenen Wochen Schlagzeilen gemacht. Es war rund um den Globus Thema in sozialen Netzwerken, und eine ganze Reihe von Berühmtheiten und Stars aus Kunst, Film, Sport und Politik hielten es für angebracht, sich betroffen zu Wort zu melden. Doch was ist jenseits dieses in Venezuela als "Photoshop-Frühling" bezeichneten Trends im Land wirklich geschehen? Seit Nicolás Maduro im April 2013 einen äußerst knappen Wahlsieg davontrug, versucht die Opposition, sich rund um die Idee zu konsolidieren, dass der Chavismus sich als politische Kraft im Niedergang befindet – ohne allzu großen Erfolg. Dabei sind zwei Flügel sichtbar geworden: derjenige um Henrique Capriles Radonski und der um Leopoldo López und María Corina Machado von der Partei Voluntad Popular.
Der erste stellt sich als moderate Option der Rechten dar, die sich an demokratische Spielregeln hält, seitdem sie scharf für ihre Weigerung, das Ergebnis der letzten Wahlen anzuerkennen, kritisiert worden ist. Nachdem Oppositionsführer Capriles 2013 seine Anhänger dazu aufgerufen hatte, ihren Frust auf die Straße zu tragen, war es zu neun Toten gekommen. Der von López und Machado angeführte Flügel strebt dagegen eher unmittelbare "politische Lösungen" außerhalb des verfassungsrechtlich vorgesehenen Rahmens an, wie etwa den Sturz von Präsident Maduro.
Beide Flügel bilden gemeinsam das Wahlbündnis 'Mesa de Unidad Democrática' (MUD). Doch ist es bisher keinem von beiden gelungen, eine oppositionelle Hegemonie aufzubauen. Als Folge der Kommunalwahlen im Dezember 2013 stellt die Partei von Chávez, die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (Partido Socialista Unido de Venezuela, PSUV), 242 der Lokalregierungen, die MUD hingegen nur 75, womit sich die PSUV als stärkste politische Kraft im Land behaupten konnte. Inzwischen verlaufen Risse durch die vielgerühmte Einheit der MUD, während die Regierung Maduro auf der anderen Seite versucht hat, sich Teilen der Opposition und der Unternehmerschaft öffentlich anzunähern.
Vor knapp zwei Monaten setzte der Präsident sich mit allen Bürgermeistern und Gouverneuren der Opposition zusammen und hörte sich über vier Stunden lang die Kritiken und Vorschläge der gewählten RepräsentantInnen der Gegenseite an. Die Versammlung wurde im Fernsehen übertragen. Der einzige, der fernblieb, war Henrique Capriles, derzeit Gouverneur des Bundesstaats Miranda. Zudem hat Maduro versucht, anlässlich der hohen Kriminalitätsraten und der instabilen Wirtschaftslage, die sich unter anderem in Versorgungslücken, Hamsterkäufen, Spekulation, Inflation und einem Liquiditätsexzess ausdrückt, Brücken zu historisch oppositionellen gesellschaftlichen Sektoren zu bauen sowie Räume für den Dialog zu schaffen, um damit seine Legitimität zu untermauern und die Regierbarkeit des Landes zu verbessern.
In diesem Kontext haben die von María Corina Machado und Leopoldo López angeführten oppositionellen Kräfte eine Kampagne namens "la salida" (deutsch: der Abgang) über die sozialen Netzwerke lanciert, mit der sie zu einer Demonstration am 12. Februar aufriefen, die die Freilassung von inhaftierten Studenten im Bundesstaat Táchira an der Grenze zu Kolumbien fordern sollte. Die betreffenden Studenten waren festgenommen worden, weil sie vor der Residenz des lokalen Gouverneurs protestiert hatten, wobei sie mit Steinen geworfen und den Zugang zum Haus versperrt hatten.
Nach dem offiziellen Ende dieser Demonstration blieben einige Gruppen von Studierenden vor Ort und lieferten sich Scharmützel mit der Guardia Nacional. Obwohl auch Chávez-AnhängerInnen dort waren, kam es nicht zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern. Allerdings gab es am Ende des Tages zwei Tote zu beklagen. Es wurde sowohl ein Teilnehmer der Oppositionsdemonstration als auch ein Mitglied eines bekannten chavistischen Kollektivs ermordet. Aus den Reihen der Opposition wurden daraufhin Bilder der Repression gegen die protestierenden Studierenden rund um die Welt gesandt. Darunter waren alle möglichen Fotos – von Studentendemonstrationen aus Chile, von Protesten in Ägypten, von Polizeiübergriffen in den USA und selbst von gefolterten baskischen AktivistInnen, allesamt verschickt, als handele es sich um Bilder der aktuellen Ereignisse in Venezuela.
Tage später wurde bekannt, dass möglicherweise Funktionäre des Geheimdienstes 'Sistema Estratégico Bolivariano de Inteligencia Nacional' (SEBIN) in die beiden Morde verstrickt sind. Die Untersuchung der Ereignisse wurde unmittelbar eingeleitet, und Maduro gab Anweisung, die Verantwortlichen in Haft zu nehmen. Dennoch erwies es sich als sehr schwierig, das einmal entstandene Bild zurechtzurücken, die Regierung habe die Repression angeordnet und tue dies auch weiterhin.
Von diesem Zeitpunkt an kam es zu einer Reihe kleinerer Proteste auf der Straße, vor allem aber zirkulierten alle möglichen Informationen und Stellungnahmen, die vor allem international eine erhebliche Wirkung entfalteten: die Festnahme von Leopoldo López am 17. Februar, sein Aufruf, tägliche Straßenblockaden vor allem in Vierteln der gehobenen Mittel- und Oberschicht durchzuführen, Aufrufe für internationale Intervention, Schilder, auf denen Maduro zum Rücktritt aufgefordert wird, das Verbrennen von Müll sowie das Spannen von Stacheldraht über die Fahrbahn – das alles eingebettet in einen medialen Diskurs, der behauptet, Venezuela befinde sich am Rand des Bürgerkriegs. All dies ist an der Tagesordnung im Rahmen eines konstanten Sperrfeuers von Informationen, von denen einige zutreffen, viele aber auch nicht.
Seit dem 12. Februar sind um die 20 Menschen umgekommen. Es ist derzeit fast unmöglich, angesichts der zahllosen zirkulierenden Versionen etwas Genaues über die Anzahl und die Umstände dieser Todesfälle zu sagen. Doch sind die Toten eindeutig nicht, wie kolportiert, allesamt Opfer der Staatsgewalt. Es gibt auch keine systematische Politik der Menschenrechtsverletzung von Seiten der venezolanischen Regierung. Während manche Tote in der Tat auf Aktionen der Polizei und des Geheimdiensts SEBIN, die derzeit untersucht werden, zurückgehen, wurden andere Opfer der oppositionellen Barrikaden, zum Beispiel Motorradfahrer, die in einen über die Straße gespannten Stacheldraht fuhren. Wieder andere wurden von bewaffneten Zivilisten der Opposition erschossen oder starben bei Auseinandersetzungen auf den Straßen.
Die Regierung ist um Aufklärung bemüht und hat deutlich gemacht, dass Polizeiübergriffe sanktioniert werden. Die Staatsanwaltschaft richtete vor wenigen Tagen einen gesonderten Stab ein, um Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und zu untersuchen. Seit 2006 bereits arbeitet die chavistische Regierung an einer strukturellen Polizeireform, die auch Menschenrechtsverletzungen in den Griff bekommen soll.
Die Protestierenden sind in erster Linie Studierende aus der gehobenen Mittel- und Oberschicht, meist ohne nennenswerte Organisation hinter sich. Obwohl die Regierung zum Dialog aufgerufen hat, haben die VertreterInnen der MUD angekündigt, sich nicht an den Verhandlungstisch zu setzen, bis die "politischen Gefangenen" freigelassen würden oder ein Dialog "garantiert" würde. Die wichtigsten Parolen der DemonstrantInnen sind: "Maduro, geh endlich" und "Wir wollen keine Diktatur in kubanischem Stil". Laut Verfassung könnte die Opposition bereits im kommenden Jahr ein Referendum zur Absetzung von Maduro durchführen lassen, doch offensichtlich sind die AnführerInnen von 'la salida' nicht bereit, diesen politischen Weg einzuschlagen, der das Risiko birgt, in einer erneuten Wahlniederlage zu enden.
Scheinbar setzen diese Teile der Opposition darauf, die Demonstrationen aufrecht zu erhalten und damit die Lage eventuell weiter zu eskalieren. Mehrfachen Hinweisen von Chávisten auf die Präsenz paramilitärischer Gruppen in den Bundesstaaten an der kolumbianischen Grenze sowie der Angst- und Destabilisierungskampagne der Opposition versucht die Regierung mit der beruhigenden Botschaft der zivilmilitärischen Einheit zu begegnen. Zugleich kritisiert sie den Putschplan der Opposition. Diese wiederum nutzt hauptsächlich zwei Argumente: Sie prangert Menschenrechtsverletzungen gegen DemonstrantInnen an sowie die komplizierte wirtschaftliche Lage des Landes.
Es wird ein chaotisches Bild von der Situation in Venezuela gezeichnet, das aber dem gelebten Alltag in den einfacheren Vierteln nicht wirklich entspricht. In Venezuela hungert heute niemand, das Land ist nicht paralysiert – ganz anders als vor dem 27. Februar 1989, der als Caracazo in die Geschichte eingegangen ist und heutzutage häufig von den Medien evoziert wird. Das Hauptproblem besteht eher darin, dass die Leute in allen Bevölkerungsschichten über mehr Geld verfügen, als sie angesichts der Versorgungsengpässe ausgeben können.
Diese Engpässe sind auf viele Gründe zurückzuführen: An erster Stelle ist die rentistische unproduktive Struktur der venezolanischen Wirtschaft zu nennen, dann aber auch Misswirtschaft sowie private und staatliche Korruption in Bereich Warenimport und -distribution. [Rentistisch bedeutet, dass die venezolanische Wirtschaft im Wesentlichen auf der Förderung von Rohstoffen und deren Verkauf auf dem Weltmarkt basiert, das heißt, die wirtschaftlichen Aktivitäten beruhen in erster Linie auf der Verteilung der Erdölrente durch den Staat.] Viele der knappen Güter sind aufgrund von Spekulationsgeschäften auf dem Schwarzmarkt zu höheren Preisen aber durchaus erhältlich.
Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chávez wirken in der breiten Basis des chavistischen Transformationsprozesses immer noch die Lektionen vom Putschversuch am 11. April 2002 nach. Die Leute sind geduldig und aufmerksam und bemüht, sich auf der Straße nicht provozieren zu lassen. Offensichtlich setzt die Opposition auf eine Zermürbungstaktik mit immer mehr Gewalt und Toten, während gleichzeitig die internationale Lobbyarbeit verstärkt wird, wonach die Situation in Venezuela unhaltbar ist und nach einer unmittelbaren Lösung verlangt.
In Wirklichkeit sind die gegenwärtigen Proteste jedoch auf einen sehr kleinen Teil der Kommunen und Bundesstaaten beschränkt und haben längst nicht das ganze Land erfasst. Was die Opposition nicht sehen will, ist, dass große Teile der venezolanischen Bevölkerung und ihre Organisationen nach wie vor ihre Hoffnung auf den bolivarianischen Prozess setzen und bereit sind, ihn mit voller Überzeugung zu verteidigen und zu vertiefen.
s.a. die aufschlussreiche Analyse -> Rechte in linkem Gewand
Quelle und CR: Lateinamerikaportal amerika21.de / Foto: Telesur