09.12.2013: Es gibt viele Wege, über welche es die kapitalistischen Beherrscher der Welt schaffen, die durch revolutionäre Führer geborene und ermutigende Hoffnung der Unterdrückten einzudämmen: Verleumdung, Schweigen -- und in manchen Fällen Verdrängung. Alles wurde gegenüber Nelson Mandela praktiziert. Gegenwärtig widerfährt vor allem Letzteres dem Verstorbenen:
Im Kontext der letzten Reise von US-Präsident Barack Obama durch Afrika Ende Juni dieses Jahres berichtete BBC News folgendes:
In Pretoria sagte Herr Obama, das Beispiel Mandelas für "die Macht von Prinzipien der sich für das, was richtig ist, erhebenden Menschen, wird weiterhin wie ein Leuchtturm scheinen". "Die überquellende Liebe, die wir in den letzten Tagen [Mandela war kritisch krank] gesehen haben, zeigt an, dass der Triumph von Nelson Mandela und seiner Nation etwas tief im menschlichen Geist anspricht: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Würde, welche die Grenzen von Rassen, Klassen, Glauben und Land übergreifen", fügte er hinzu. ... Und er drängte seine Zuhörer, sich von dem eine lange Gefängnishaft durchstanden habenden Mandela inspirieren zu lassen. "Denken Sie an 27 Jahre im Gefängnis. Denken Sie an die Härten und die Kämpfe und die Trennung von Familie und Freunden. Es gab dunkle Stunden, die seinen Glauben an Menschlichkeit prüften, doch er weigerte sich, aufzugeben. In Ihrem Leben wird auch ihr Glauben vielmals geprüft werden."
Ohne Zweifel ist dies für sich gesehen wahr, doch aus dem Munde eines US-Präsidenten klingt es nach Falschheit. Und auch scheint in dieser [Obamas] Porträtierung noch etwas zu fehlen: das militante Ethos, der Instinkt des Kämpfers, der unversöhnlich revolutionäre Geist des Mannes. Und man fühlt eine Art des Schweigens, durch das Mandela auf den Träger des Friedensnobelpreises von 1993, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Südafrikas nach der Apartheid und den Widerstandskämpfer für Toleranz und nationale Aussöhnung reduziert wird.
Thomas Friedman von der New York Times lieferte im November 2011 in Anmerkungen über seine Sicht auf die arabischen 'Revolutionen' ein bestes Beispiel für diese liberale Fehldarstellung von Mandelas Leben und Wirken. Er schrieb dort:
"Wir wissen also, dass es keinen unparteiischen Geburtshelfer von außen geben wird, der die Wandlungen in Ägypten, Syrien, Tunesien, Libyen und Jemen anführt. Doch kann es jedes dieser Länder ganz ohne schaffen? Sie werden es nur schaffen, wenn sie ihren jeweils eigenen Nelson Mandela entwickeln - einmalige zivile Führer oder Koalitionen, welche die Vergangenheit würdigen und die Ausbrüche eindämmen, ohne die Zukunft zu begraben."
Dies ist - kurz gesagt - eine Beschreibung Mandelas, die der liberal-demokratischen Ideologie des späten 20. Jahrhunderts vom "Ende der Geschichte" entspricht. Doch es drängt die Frage: Wer ist der wahre Mandela?
In der Tat gibt es einen radikalen Unterschied zwischen dem aus politisch 'korrekter' liberaler Überzeugung bejahten Mann, dem von nationalen Befreiungsbewegungen und ihren Führern bejubelten Staatsmann und dem von revolutionär gesinnten Jugendlichen und Militanten in aller Welt gepriesenen Kämpfer. Diese gegensätzlichen und oftmals miteinander verwobenen Darstellungen desselben Mannes spiegeln in sich die innere Widersprüchlichkeit der Lebenszeit Mandelas wider: der an der Gründung der ANC-Jugendliga 1944 mitwirkende 26 Jahre alte Mandela ist nicht wirklich der gleiche, wie der Organisator der Sabotagegruppe 'Speer der Nation' (Umkhonto we Sizwe) in Rivonia im Jahre 1960-61 - auch ohne Beachtung des 27 Jahre lang eingesperrten Häftlings und des 1994 gewählten neuen Präsidenten Südafrikas.
Wer hat also Recht, wer Unrecht? Post-Modernismus und Skeptiker aller Art würden entgegenhalten, dass es diesbezüglich weder richtig noch falsch gäbe, da Mandelas Bedeutung so vielfältig wäre, wie das ihn bewertende politische Spektrum: jedem also 'sein eigener Mandela'. Doch solche Beliebigkeit erweist sich anhand der historischen Fakten als unhaltbar. Geschichte basiert auf Tatsachen, nicht auf Fiktionen und auch nicht auf politischen Mythen. Das gilt nicht nur für die ferne Vergangenheit. ... Und die geschichtlichen Fakten beweisen unwiderlegbar, dass die liberal-demokratische Darstellung Mandelas weit mehr ein Mythos ist, als allgemein zugegeben.
Mandelas Aufnahme in den westlichen heiligen Kreis der verehrenswerten Giganten des 20. Jahrhunderts hat nicht nur seine Untergrundtätigkeit gelöscht - sondern sie hat auch sehr lange Zeit gebraucht. Noch 1987 hat die britische Ministerpräsidentin Margret Thatcher auf der Commonwealth Konferenz in Vancouver den ANC als "eine typische terroristische Gruppe" abqualifiziert, womit sie die allgemeine Ansicht unter britischen Konservativen aussprach. Und die freien Journalisten Anthony Bevins und Michael Streeter belegten 1996, dass eine Durchsicht des 'Hansards' des britischen Unterhauses keinen Eintrag für Nelson Mandela bis 1983 gab, also 20 Jahre nach dem Beginn des historischen Rivonia-Prozesses, in dem Mandela und seine Kameraden nach dem 'Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus' angeklagt waren. Bis in die 1980er Jahre existierte Mandela also in der vorherrschenden Politik nicht.
Wer war Nelson Mandela wirklich?
Eine Auslegung vom Friedman-Typ erweist sich als anachronistisch, wenn man sie mit dem vergleicht, was Mandela im Rivonia-Prozess im Jahre 1963 selbst darlegte. Von der
Todesstrafe bedroht, betrat Mandela das Gericht am 9. Oktober 1963 in khakifarbenen kurzen Hosen des Gefängnisses und mit dünnen Sandalen. Gemeinsam mit seinen Waffengefährten hob er die geballte Faust zum ANC-Gruß. In seiner 4 Stunden währenden Ansprache gab er eine Erklärung seiner Politik ab. Hier diese Selbstbeschreibung:
"Ich habe bestritten, dass ich Kommunist bin. ... Ich habe mich stets und an erster Stelle als afrikanischen Patrioten angesehen. Ich bin von dem Gedanken einer klassenlosen Gesellschaft angezogen, was teilweise marxistischer Lektüre und teilweise der Bewunderung der Struktur und Organisation der frühen afrikanischen Strukturen in diesem Land entspringt. Das Land und dann die hauptsächlichen Produktionsmittel gehörten dem Stamm. Es gab keine Reichen oder Armen und es gab keine Ausbeutung. Ja, ich bin von marxistischen Gedanken beeinflusst, aber das waren auch andere Führer wie etwa Gandhi, Nehru, Nkrumah und Nasser."
Mandela war ein Kämpfer gegen die Herrschaft der Apartheid, der diese Sicht mit den anti-imperialistischen nationalen Befreiungsbewegungen seiner Zeit teilte. Sein Nationalismus kam von unten - aus dem Volk - er leitete sich aus der kolonialen Unterdrückung ab und richtet sich auf Emanzipation und er blieb grundlegend von universellem und internationalistischem Geist durchdrungen.
Ein weiterer 'vergessener' Gesichtspunkt der liberalen Mandela-Darstellung ist sein entschiedenes Bekenntnis, die Ketten der Apartheid "mit allen notwendigen Mitteln" - in den Worten von Malcolm X - abzuschütteln. Obama hob Mandelas "Glauben an die Menschlichkeit" und auch seine "Macht der Prinzipien" hervor. Jedoch waren die oben genannten Prinzipien innig mit den [auch gewaltsamen] Methoden seines Kampfes und einer Strategie zu ihrer praktischen Umsetzung verknüpft.
Sein "Glauben an die Menschlichkeit" hat nichts mit einer kontemplativen Haltung gegenüber Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu tun. Mandela hatte genauso wie der Rest der ANC-Militanten Mitte der 1950er Jahre tatsächlich die Erwartung gehegt, die Verwirklichung der Freiheitscharta zu seiner Lebenszeit zu erreichen. Solch eine Erwartung im Zusammenhang mit dem Südafrika der 1950er Jahre bedeutete nichts anderes als eine tiefgehende Revolution. Dies ist durch Mandela selbst klar bekundet. Er schrieb 1956 über die Freiheitscharta:
"Dies ist genau deshalb ein revolutionäres Dokument, weil die von ihm anvisierten Veränderungen nicht ohne einen Umbruch der ökonomischen und politischen Struktur des heutigen Südafrika bewirkt werden können. Sie können nur als Ergebnis einer landesweiten Agitationskampagne erreicht werden, durch hartnäckigen und entschlossenen Massenkampf zum Sieg über die ökonomischen und politischen Richtlinien der nationalistischen Regierung [der die Apartheid verteidigenden National Partei], durch die Abwehr von Angriffen auf den Lebensstandard und die Freiheiten des Volkes."
Die 'Abwehrkampagne' des Jahres 1952 gegen die Apartheidgesetze, die von 50.000 Freiwilligen des ANCs 1955 durchgeführte Volksbefragung zur Formulierung der Freiheitscharta, ihre am zweiten Tag von der Polizei abgebrochene Verabschiedung in Kliptown am 26. Juni durch 3.000 Delegierte, die Massenbewegung zur "Verteidigung unserer Führer", welch letztere in einem 'Hochverratsprozess' bis 1961 für ihre Beteiligung an der Erstellung der Freiheitscharta verfolgt wurden, die Unterdrückung einer vom Pan-Afrikanischen Kongress (PAC) organisierten Demonstration in Sharpville, die mit einem Massaker und 69 Toten sowie dem Verbot des ANC und des PAC führte - als diese vertiefte Entfaltung der Massenkämpfe gegen die Herrschaft der Apartheid mit Unterdrückung beantwortet wurde, entschieden Mandela und seine Genossen, "Gewalt mit Gewalt zu beantworten".
Nach Denis Goldberg, einem der Mitangeklagten an der Seite Mandelas im Rivonia-Prozess, entwickelte sich die Entscheidung, auf den bewaffneten Kampf zurück zu greifen, allmählich als die wiederholte Unterdrückung der Massenbewegung gegen das Apartheid-Regime praktisch bewies, dass "sich ohne Gewalt dem afrikanischen Volk kein Weg eröffnen würde, in seinem Kampf gegen die weiße Vorherrschaft erfolgreich zu sein".
'Umkhoto we Sizwe', der 'Speer der Nation' wurde 1961 von Militanten im Untergrund gegründet, nachdem der ANC im vorhergehenden Jahr verboten worden war. Sein Ziel war es, "Angriffe auf die wirtschaftlichen Lebensadern des Landes" auszuführen, ausländische Investitionen und Außenhandel abzuschrecken, sowie "Sabotage an Regierungsgebäuden und anderen Symbolen der Apartheid".
Der Einsatz des bewaffneten Kampfes war darüber hinaus Teil dessen, was eine breitere revolutionäre Strategie zu sein schien. Mandela hat dies in seiner Verteidigungsrede im
Rivonia-Prozess zugegeben:
"Es waren drei Formen der Gewalt erwogen worden - Sabotage, Guerillakriegsführung, Terrorismus und offene Revolution. Wir entschieden uns für die Anwendung der ersten Methode und sie umfassend auszudehnen, bevor weitere Entscheidungen getroffen würden. ... Der Kampf mit den für uns günstigsten Aussichten und dem geringsten Risiko für die Leben auf beiden Seiten war die Guerilla-Kriegsführung. Wir entschieden bei unseren Vorbereitungen für die Zukunft daher, Vorsorge für die Möglichkeit eines Guerillakampfes zu treffen. ... In unseren Augen war es wesentlich, einen Kern von trainierten Männern aufzubauen, die zur Ausübung einer Führung in der Lage wären, wie sie bei Beginn der Guerilla-Kriegsführung erforderlich sein würde."
Wenn man versucht, sich die Strategiedebatten unter den Führern des ANC in der kritischen Zeitperiode von 1953 bis 1961 vorzustellen, so sind in ihnen aus Dien Bien Phu (Indochina), Algerien und der Sierra Maestre (Kuba) die Echos der nationalen Befreiung zu hören. Wenn wir diese Tatsachen beachten, können wir den Widerwillen M. Thatchers - und der ganzen Breite der etablierten Mächte - leicht verstehen, Mandela als einen legitimen politischen Führer anzuerkennen. Mandela war ein revolutionärer Demokrat, der keinen Bezug gleich welcher Art zu karrieresüchtigen, geachteten und verantwortlichen 'bürgerlichen' Politikern hatte.
Hinter Gittern wurde Mandela zwischen 1964 und 1990 allmählich ein weltweites Emblem des Kampfes gegen die Apartheid in Südafrika. Bis 1994 war es die vorherrschende Bedeutung Mandelas, die im Rivonia-Prozess erklärten Grundsätze zu verkörpern. In dieser Zeit wurde unter den Anhängern von Mandela ein messianischer Mythos geboren: die Wiederkehr des "verborgenen Häuptlings" als das Zeichen der letztendlichen Befreiung aller Unterdrückten.
Mandela weigerte sich 1985, als Gegenleistung für die ihm von Südafrikas Präsident Pieter W. Botha angebotene Freilassung der "Gewalt abzuschwören" - ein sicheres Anzeichen, dass dieser Mann der Politik des Massenkampfes der Jahre 1953-61 treu geblieben war. Dies stimmt bestens mit der katalysatorischen Wirkung des Symbols 'Mandela' in den Kämpfen der 1970er Jahre überein, wie etwa dem Soweta-Aufstand im Juni 1976.
Was kann man über Mandela nach seiner Freilassung bis heute sagen? Dieser Zeitabschnitt scheint in Friedmans liberal-bürgerlichem Portrait des Mannes Mandela als eines vernünftigen Nationengründers stärker nachzuklingen. Doch zeigt eine nähere Betrachtung der Hauptaspekte von Mandelas politischen Leistungen als erster frei gewählter Präsident im sich umformenden Südafrika nach der Apartheid, dass die Meinungsbildner von heute erneut nur hervorheben, was zu ihrem Mythos des Mannes passt. Mehr noch haben sich die 1990er Jahre für die Masse des südafrikanischen Volkes als ganz enttäuschend erwiesen.
Obwohl die rassistische Apartheid endgültig abgeschafft wurde, bleibt die Freiheitscharta bis zu diesem Tag ein noch zu erfüllendes Versprechen - immer weniger mit der Politik der regierenden ANC-Führer in Verbindung stehend - statt einer abgeschlossenen Aufgabenstellung. Die Gründe dafür sprengen den Rahmen dieser Betrachtung.
Nichtsdestoweniger ist es für unser Verständnis hilfreich zu unterstreichen, dass Nelson Mandelas Wirken an der Macht teilweise seinem Wirken als Revolutionär auf gleiche Weise widerspricht, wie die Ankunft der meisten Revolutionäre des 20. Jahrhunderts in Machtpositionen mit ihrer vorhergehenden 'heroischen' Zeit des Kampfes und der Verfolgung aufeinander prallt.
'Mandela' zeigt sich selbst sehr oft als eine falsche Abstraktion in ideologisierten Auseinandersetzungen und 'politisch korrekten' Überzeugungen. Jedermann, der diese
historische Figur auf ein einzelnes Merkmal reduziert, sei es Toleranz, Nationengründung oder Gewalt, befindet sich näher an Mythen als an der historischen Wahrheit.
Ganz natürlich ist jedoch die Notwendigkeit, ein Fazit des Lebens und Wirkens eines solchen 'großen Mannes' zu ziehen. Mandela, der Kämpfer, überragt durch seine Bedeutung und seinen Wirkungsbereich in der Weltgeschichte den Staatsmann Mandela der 1990er Jahre.
Wie sähe wohl das Leben und das Schicksal des militanten und verborgenen ANC-Führers heute aus? Er würde heute ohne Zweifel von US-Präsidenten und -Ideologen nicht zur Kenntnis genommen, so wie viele Tausende von gewöhnlichen Kämpfern für Gerechtigkeit und Freiheit ein eisiges Schweigen der herrschenden Medien und Politiker erfuhren und erfahren. Mehr noch würde ein solcher Mann, dessen Bekenntnis auch angesichts von Unterdrückung und Ungerechtigkeit derart radikal und unnachgiebig ist, im Widerspruch zur ihn umgebenden Welt stehen. Und die Vertreter der etablierten Ordnung würden das gleiche zynische Lied singen, wie es ihresgleichen in Mandelas 'heroischer' Zeit machte: Seine Träume hätten keinerlei Chance, je erfüllt zu werden.
Aus diesem Grund wird die Geschichte von Nelson Mandela - die wahre - mehr als je benötigt. Schließlich erhebt sich aus jeder Welle der Massenkämpfe in aller Welt eine Vielzahl von Nelson Mandelas, die 'von unten her' kämpfen und Vorherrschaft abzustreifen versuchen. Ihr Schicksal und ihr Andenken wird in diesen Kämpfen entschieden.
Quelle: Journal of Socialist Renewal / Foto: Wiki (Mandela verbrennt 1960 seinen Apartheid-Pass)
PS: Keiner der großen kapitalistischen und früher die Apartheid stützenden Staaten hat in der Konsolenz zu Nelson Mandelas Tod das ihm und dem südafrikanischen Volk von diesen Staaten angetane Unrecht bedauert. Die USA schämten sich nicht, bis 2008 noch Mandela auf internen Listen als 'Terrorist' zu führen. Zu weiteren Aspekten solcher Verlogenheit empfehlen wir diese Nachdenkseite der Rationalgalerie.