10.05.2012: Euroland - abgebrannt. Soviel Schulden hatte das Abendland noch nie. Ende 2011 haben die Staatsschulden der EU-27 die Zehn-Billionen-Marke überschritten: 10.422 Milliarden Euro (alle Zahlen Eurostat); ein Drittel (33,8%) mehr - 2632 Millilliarden – als zu Beginn der Finanzkrise 2008. Offenbarungseid auch für die Euro-Zone: 8,2 Billionen Schulden, 26,7% = 1733 Milliarden Euro mehr als 2008. Die Schuldenquote der EU beträgt inzwischen 82,5% des BIPs von 9,4 Billionen Euro: 20 Prozentpunkte mehr als 2008. Bei der Euro-Zone ist der Verschuldungsgrad noch höher: 87,2% des addierten BIP – 17,1 Prozentpunkte mehr als vor der Krise.
Schuldenberge...
Die größten Verschuldungsquoten weisen die Peripherieländer auf: Griechenland 165,3% des BIP (2008: 113,0), Italien 120,1% (105,7), Irland 108,2% (44,2), Portugal 107,8% (71,6), Belgien 98,0% (89,3), Großbritannien 85,7% (54,8).
Den höchsten Schuldenstand in absoluten Euro-Beträgen verzeichnet Deutschland: Über zwei Billionen Euro (2088) Ende 2011. Anstieg seit 2008: 27%. Der Verschuldungsgrad beträgt 81,2% des BIP (2008: 66,7). Es folgen Italien 1897 Mrd.Euro, Frankreich 1717 Mrd. Euro (85,8%).
Noch relativ niedrig sind die ost- und südosteuropäischen Länder verschuldet. Ihr Verschuldungsgrad liegt in der Regel unter 50 Prozent des BIP. Ausnahme Ungarn mit 80,6%, Polen 56,3%.
Die Pro-Kopf-Verschuldung in der EU beträgt 20.750 Euro, d.h. jeder EU-Bürger – ob Kind ob Greis – steht bei den Besitzern von Staatsanleihen – Geldbürger, Banken, Fonds – mit über 20.000 Euro in der Kreide.
… und Zinslawinen
Die drückenden Schuldenberge gebären wachsende Zinslawinen. Anfangs allerdings im Vergleich zum Schuldenzuwachs in einem retardierten Tempo. Das resultiert daraus, dass die gesamten Staatsschulden zum großen Teil noch mit Staatsanleihen zu niedrigeren Zinsen aus den Vorjahren finanziert sind. Erst für die Neuverschuldungen aus den Jahren 2010/11 mussten gerade die Peripherieländer infolge verschlechterten Ratings höhere Zinsen in Kauf nehmen. Länder mit Top-Rating, wie Deutschland, Österreich, Niederlande, kamen mit niedrigeren Zinszahlungen aus, obwohl ihre Schulden angestiegen waren. Deutschland z.B. hatte für seine um 27% gestiegenen Staatsschulden 2011 um 1% weniger Zinsen zu zahlen als 2008: 67,7 Milliarden Euro gegenüber 68,4 Milliarden Euro. Der Grund liegt neben dem Top-Rating in der gestiegenen Nachfrage nach „sicheren“ deutschen Staatsanleihen, wodurch Zinsen und Rendite gedrückt wurden. Um mindestens ein Prozent ist dadurch der Zinssatz bei neu emittierten deutschen Bundesanleihen niedriger als im Euro-Durchschnitt. Bezogen auf die Gesamtverschuldung von über zwei Billionen bedeutet das um 20 Millionen niedrigere Zinszahlungen pro Jahr. Deutschland profitiert von der Schuldenkrise, von der Misere anderer Länder. Griechenland musste dagegen 26% mehr Zinsen berappen als drei Jahre davor, Spanien 49%, Irland 112%, Portugal 24%, Polen 26% und Großbritannien 34%.
Insgesamt stiegen 2011 die Zinszahlungen in der EU-27 auf den gigantischen Betrag von 371 Milliarden Euro und in der Eurozone auf 288 Milliarden Euro. Man stelle sich vor, welch zukunftsweisendes Struktur- uns Beschäftigungsprogramm zum sozialen und ökologischen Umbau Europas sich mit diesem Geld hätte finanzieren lassen. Ein Programm zu einer echten Energiewende, zum Ausbau des Massenverkehrs, der Städtesanierung und ökologischen Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge. So aber fließt das Geld in die Tresore der Euro-Millionäre, der Fonds und Banken. Und diese pumpen es erneut zur zinsheischenden und spekulativen Geldvermehrung in die Finanzmärkte und programmieren damit die nächsten Spekulationsblasen vor.
Und das Jahr für Jahr, in wachsenden Dimensionen, denn die Zinslast wird drückender. Um 635 Milliarden Milliarden Euro erhöht sich die Zinslast allein für Italien in den kommenden zehn Jahren , wenn die Staatsschulden statt mit 5% mit 8% verzinst werden müssen (HB, 10.11.2011). Die Durchschnittsverzinsung der Staatsschulden für den gesamten Euro-Raum betrug 2011 3,48%, für
die EU-27 3,55%. Mit dem Anstieg des Zinsniveaus um nur ein Prozent werden in Euro-Land 82 Milliarden, in der EU 104 Milliarden Euro zusätzliche Zinsen pro Jahr fällig.
Die Zinsen fressen immer mehr von den neugeschaffenen Werten auf. Griechenland musste 2011 bereits 7,0% seines BIP als Tribut an den Geldadel abliefern, Italien 4,8%, Ungarn 4,2%, Portugal 3,9%; im EU-Durchschnitt 2,9% (Euro-Zone: 3,0%). In Deutschland waren es erst 1,9%. In wenigen Jahren dürften die Quoten in den Peripherieländern nahe an die Zehn-Prozent-Marke herankommen. Der Zehnte war auch im Mittelalter von den Fronbauern an die Feudalherren abzuliefern. Ein immer größerer Teil des BIP muss nach oben umverteilt werden, um die Zinsansprüche der Geldvermögenden zu bedienen.
Kehrseite der Schulden: Vermögen
Das Pendant zu den europäischen Schuldenbergen sind die Geldschätze der Reichen, die sich ebenfalls himmelhoch auftürmen. „Die Staaten haben hohe Schulden, dafür haben die Privaten hohe Vermögen“, erkennt die FAZ (15.12.11). Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Christoph Deutschmann, Professor für Soziologie an der Uni Tübingen, weisen darauf hin, dass Schulden immer eine Kehrseite haben: Vermögen. „Schulden sind nichts weiter als der Anspruch auf künftige Zahlungen“. Und sie schlußfolgern: „Es gibt zu viel Vermögen. Die Schuldenkrise ist die Kehrseite eines übermäßigen Aufbaus an Vermögen, das durch keine Substanz gedeckt ist“. (HB, 15.12.11).
In Europa betrug das angelegte Geldvermögen im Jahr 2010 45,6 Billionen Dollar (etwa 33,8 Billionen Euro). Europas Reiche mit einem Geldvermögen von mindestens einer Million Dollar besaßen 2010 insgesamt ein Geldvermögen von 10,2 Billionen Dollar (7,6 Billionen Euro). Im Durchschnitt brachte es jeder dieser Dollar-Millionäre auf 3,3 Millionen Dollar oder knapp 2,5 Millionen Euro (vgl. dazu: Die Herren des Geldes, isw-spezial 26).
Die Korrelation der Schulden auf der einen Seite mit dem Geldvermögen auf der anderen zeigt, dass es keinen Weg aus der Schuldenkrise gibt, wenn nicht die Vermögen abgeschmolzen werden. „Die Schuldenkrise ist nur lösbar, wenn die Vermögen reduziert werden“, schreiben auch Beckert/Deutschmann.
Diesen Weg aber wollen Kapital und Kabinette in EU und Euroraum nicht gehen. Die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF, bislang eingepeitscht durch Merkozy, vergatterte die Euro-Länder zu Spardiktaten, Schuldenbremsen und jetzt Fiskalpakt. Letzterer ist nichts anderes als ein „Ermächtigungsgesetz der Finanzmärkte“ (Angela Klein) zum finanzdiktatorischen Durchregieren in den einzelnen EU- und Euro-Ländern. Das Budgetrecht der nationalen Parlamente wird ausgehebelt.
Doch die Austerity-Politik der vergangenen Monate hat immer mehr Länder kaputt- und die die Krise gespart. 8 von 17 Ländern der Eurozone befinden sich bereits in der Rezession: Belgien, Niederlande, Slowenien, Zypern, Spanien, Italien, Portugal und Griechenland. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie nie in der EU-27 und Eurozone (siehe isw-home: EU und Euroraum: Rekordarbeitslosigkeit). Es wächst die Gefahr, dass jetzt auch die so genannten Kernländer in den Krisenstrudel gezogen werden, was sich im Falle der Niederlande ankündigte.
Es gibt keine Alternative zu Haircut und Vernögensschnitt!
Die Menschen haben die Nase voll von den Sparprogrammen und Sozialkürzungen ihrer Regierungen. Sie wollen nicht mehr den Gürtel enger schnallen, wenn dies neben Verschlechterung des Lebensstandards nur eins bewirkt: eine zunehmende Job-Misere. Der Widerstand der Völker Europas gegen das Diktat der Finanzmärkte nimmt zu, wie Demonstrationen, Streiks und Wahlen der vergangenen Wochen und Tage gezeigt haben. Reihenweise werden die Regierungen abgestraft, die die Schuldenbremsen immer schärfer anziehen und sich den Fiskalpakt zu ihrer finanzpolitischen Leitmaxime gemacht haben. Die jüngsten Wahlen in Frankreich und Griechenland gerieten zu Volksabstimmungen gegen Sparkurs und Fiskalpakt. Mit der Abwahl Sarkozys verlor Merkel ihren wichtigsten Verbündeten in Sachen Austeritätspolitik. Davor mussten bereits sieben Regierungen vorzeitig den Hut nehmen.
Europas unheilige neoliberale Allianz versucht nun mit Tricks und Augenwischerei dem Volkszorn zu entkommen. „Sparen und Wachsen“ heisst die neue Zauberformel. Sie gleicht einem Beten für mehr Wachstum. Denn Geld für ein effektives europäisches Konjunkturprogramm will zumindest Merkel nicht in die Hand nehmen.: „Wir brauchen Wachstum durch nachhaltige Initiativen, nicht einfach durch Konjunkturprogramme, die die Staatsschulden weiter erhöhen“, sagt die Bundeskanzlerin.
Wachstum ohne neue Schulden, das geht nach Ansicht von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz durchaus, wie er in einem Interview mit der FAS (28.8.11) skizzierte. Allerdings anders als Merkel sich das vorstellt: „Wenn Sie in Deutschland tatsächlich Angst vor Schulden haben, dann machen Sie es anders – kurbeln Sie die Wirtschaft an, ohne dass es Geld kostet“. FAS: Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Wie soll denn das gehen? Stiglitz: „.... Sie können die Steuern für reiche Leute erhöhen und das Geld investieren. Oder sie senken mit dem Geld die Mehrwertsteuer, das hilft dem Konsum. Man könnte auch eine Spekulationssteuer einführen. Das würde Geld bringen und helfen, die Finanzmärkte unter Kontrolle zu bringen“.
Es führt kein Weg daran vorbei: Europa und insbesondere die Eurozone wird aus der Euro-Staatsschulden- und Zinsspirale nur mit einem radikalen und gleichzeitigen Schuldenschnitt aller EU- bzw Eurostaaten herauskommen. Dieser Haircut muss verbunden sein mit der Möglichkeit der Staaten, sich direkt bei der EZB Geld zu leihen, und zwar zu den Billigstkonditionen mit denen diese den Banken eine Billion Euro hinterherwarf. Die eingesparten Zinsen könnten dann in ein Programm für den sozialen und ökologischen Umbau mit Schwerpunkt Energiewende gesteckt werden. Statt 371 Milliarden Zinsen in der EU, müssten die 27 Länder bei 1% EZB-Zinssatz nur noch 104 Milliarden an Zinsen berappen (Euro-Zone: 82 Milliarden statt 286 Milliarden Euro). Eigentlich noch weniger, da durch den Haircut die Staatsschulden um einen bestimmten Prozentsatz zusammengestutzt würden. Durch diese Regelung wären Staatshaushalte aus dem Würgegriff von Banken, Finanzinstituten und Ratingagenturen befreit. Das Pendant zum europaweiten Haircut ist natürlich ein entsprechender Schnitt bei den Geldvermögen, vorrangig bei den Millionärs- und Multimillionärsvermögen. Im Durchschnitt verfügen die europäischen Geldmillionäre über 2,5 Millionen Euro an Finanzvermögen. Würde man 60% wegsteuern, dann hätten sie noch immer eine Million an reinem Geldvermögen; die entsprechende Vermögensteuer aber brächte knapp 5 Billionen Euro, womit sich die Staatsschulden auf etwa die Hälfte reduzieren ließen. Der Ausweg aus der Schuldenkrise kann nur ein radikaler sein; alles andere ist Herumdoktorei und Systemkosmetik. Wer den Millionären nichts nimmt, kann den Millionen nichts geben.
Fred Schmid, isw