09.01.2012: Im Frühjahr 2010 wurde das chinesische System von einem bis dahin in diesem Ausmaß nicht gekannten Phänomen erschüttert: Eine Welle von vielen hunderten Streiks krachte über die Industriezentren des Landes. Trotz eines gesetzlichen Streikverbots und trotz eines All- Chinesischen Gewerkschaftsbundes, der 226 Millionen Mitglieder und 400.000 hauptamtliche Mitarbeiter zählt und der nach dem Gewerkschaftsgesetz die Aufgabe hat, solche Streiks zu verhindern und bei Arbeitsunterbrechungen auf die Aufnahme der Produktion hinzuwirken. Folgerichtig hatten die Beschäftigten an der Gewerkschaft vorbei und gegen sie ihre Streiks organisiert und auch die Vermittlungsfunktion der Gewerkschaft in vielen Fällen nicht akzeptiert.
Wolfgang Müller, Sekretär der IG Metall, hat mehrere Jahre in China gelebt und gearbeitet und ist regelmäßig als Gewerkschafter mit den Problemen vor Ort befasst. Er untersucht den notwendigen Transformationsprozess der Gewerkschaften vom "Transmissionsriemen" der staatlichen Politik bei den Beschäftigten hin zu ihrer kämpferischen, konfliktbereiten Interessenvertretung. Als die Wirtschaft dominiert war von staatlichen Betrieben, war die Rolle der Gewerkschaften als Sozialmanagement, als Organisator der "eisernen Reisschale", die von der Arbeit bis zu Alter und Krankheit Vorsorge für die Beschäftigten traf, eine akzeptierte Einrichtung. Doch heute, da die meisten Unternehmen in privater Hand und auf den Höchstprofit aus sind, sieht die Sache anders aus. Die Privatunternehmen in China erzielen einen zwei- bis dreimal höheren Profit als die Staatsbetriebe. Das Profitgeheimnis: größere Ausbeutung der Arbeitskraft. Wolfgang Müller untersucht, wie die Gewerkschaften in dieser Lage ein neues Selbstverständnis als wirkliche Interessenvertretung gewinnen können. Gelingt es ihnen nicht, verlören sie ihre Bedeutung bei den Massen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die mehr von dem von ihnen geschaffenen Reichtum abbekommen wollen und die anfangen, die eigene Kraft zu erkennen. Müller hält es für eine offene Frage, ob den Gewerkschaften diese Wandlung gelingt.
Wolfgang Däubler, renommierter Arbeitsrechtler der Bundesrepublik und seit Jahren immer wieder zu Lehraufträgen an chinesischen Universitäten, setzt sich mit der Entwicklung des Arbeitsrechts in China seit 1949 auseinander. Den Höhepunkt dieses Prozesses bildet das Arbeitsvertragsgesetz von 2007, das die Befristung der Arbeitsverhältnisse aufheben und den unbefristeten Arbeitsvertrag als das Normalarbeitsverhältnis durchsetzen will. Als zweite wichtige Vorschrift unterwirft das Gesetz die Leiharbeit tiefgreifenden Einschränkungen. Beide Vorschriften treffen in der Praxis auf erhebliche Widerstände, sie sind bis heute nicht auf breiter Front durchgesetzt.
Auch Däubler konstatiert, dass die Gewerkschaften keine Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten sind (und auch gesetzlich davon abgehalten sind) und fragt, wieso dennoch die chinesische Wirtschaft so überaus erfolgreich sein kann. Seine Antwort: Im betrieblichen Alltag dominieren informelle Regelen, die einen fairen Umgang mit den Beschäftigten verlangen. Die jüngsten Beschlüsse der Partei sehen stärkere Lohnerhöhungen und eine Verbesserung der Sozialversicherung vor. Wird das ausreichen, um die politische Stabilität des Systems zu sichern? Wohl dann nicht, meint Däubler, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen keine vergleichbaren Verbesserungen mehr zulassen. Die Zukunft sei offen.
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