Analysen

12.06.2011:

Thesen zur Schuldenkrise des globalen Kapitalismus

1) Der Metropolen-Kapitalismus ist pleite. Soviel Schulden waren noch nie. Als sich Ende Mai 2011 im französischen Deauville die Staats- und Regierungschefs der „führenden Industrieländer“ zu ihrem jährlichen G-7-Gipfel trafen, tagten sie auf einem Schuldenberg von etwa 35 Billionen (35.000 Milliarden) Dollar Staatsschulden. Das ganze System ist inzwischen eine einzige Schuldenwirtschaft. Die gesamten Schulden – Staatsschulden, Schulden der Privathaushalte und Schulden der Unternehmen – in den kapitalistischen Zentren USA, Eurozone und Japan, addieren sich 2011 auf ca 100 Billionen Dollar, etwa das 2,5-fache ihres aggregierten Jahres-BIPs.

2) Besonders stark sind in und mit der Finanz- und Weltwirtschaftskrise die Staatsschulden gestiegen: In den genannten kapitalistischen Zentren von 2007 bis 2011 im Durchschnitt um knapp 50 Prozent, auf ein Mehrfaches der jährlichen Steuereinnahmen. Deutschland z.B. müsste die gesamten Steuereinnahmen von vier Jahren aufwenden, um seine Bund-, Länder- und kommunalen Schulden abzutragen.

Die Staaten haben sich durch Banken-Rettungsschirme und Konjunkturpakete in Billionen-Höhe total verausgabt. Zudem versiegten in den Krisenjahren weitgehend die Steuereinnahmen, insbesondere die Gewinnsteuern. Billionenkosten für Hochrüstung und Kriege (Irak, Afghanistan) taten ein übriges. Die wachsenden Löcher in Staatshaushalten wurden mit immer größeren Mengen an Staatsanleihen gestopft, die von Banken emittiert und gehandelt werden. Die gestern geretteten Banken und Finanzinstitute verdienen heute an den Schulden, die von den Staaten für die Rettungsaktionen aufgenommen werden mussten.

3) Das Pendant zu den globalen Schuldenbergen sind die  Geldschätze der Reichen, die sich ebenfalls himmelhoch auftürmen. Ein Geldvermögen von 121,8 Billionen Dollar wird von Fondsmanagern weltweit verwaltet (Boston Consulting Group). Anders als die Schulden sind die Geldschätze in den Händen weniger Millionäre und Milliardäre hoch  konzentriert. 12,5 Millionen Millionäre weltweit – das sind 0,9 % aller Haushalte mit größerem Geldvermögen – besitzen 39 % (48 Billionen) des gesamten globalen Geldreichtums. Die Geldvermögen der Reichen liegen heute um 11 Billionen Dollar  höher als vor der Finanzkrise. Reiche kennen keine Krise, sie verdienen an ihr.

Da sich profitable Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft infolge gekappter Massenkaufkraft und verschuldeter öffentlicher und Privathaushalte minimieren und sich in der Finanzsphäre infolge überquellender Geldmassen ein Anlagenotstand auftut, ist für die Finanzinvestoren die wachsende Verschuldung der Staaten ein begehrtes und expandierendes Anlage- und Spekulationsfeld.

4) Das Geschäft mit Staatsanleihen war für Banken und Finanzinvestoren früher ein eher langweiliges, weil wenig renditeträchtiges Geschäft. Eine Rendite von zwei bis drei Prozent bei Staatspapieren war die Norm. Das ist heute anders: Mit der gestiegenen Geldflut auf der einen und dem wachsenden Schuldendruck auf der anderen Seite, ist es heute möglich, die Zinsen und Renditen hochzutreiben und selbst gegen Leitwährungen oder auf den Bankrott ganzer Staaten zu spekulieren. Ein wichtiges Instrument der Spekulation sind dabei die cds-Papiere, die dredit-default-swaps (Kreditausfallbürgschaften) bzw. deren Derivate, die nach der Finanzkrise vom Derivates Dealers´Club (die führenden 16 Investmentbanken) auch auf Staatsschulden ausgeweitet wurden.

Eine zentrale Rolle beim Hochtreiben der Zinsen und Renditen von Staatsanleihen spielen die drei privaten Rating-Agenturen: Moody´s, Standard & Poors und Fitch. Im Zusammenspiel mit Spekulanten und Investmentbanken nehmen sie die Risikoeinstufung vor. Ihr down-grading (Herabstufung) der Bonität von Staaten treibt die Zinsen und Renditen in die Höhe. Sind die Staaten dann gezwungen, zu diesem höheren Zinssatz Kredite aufzunehmen, dann ist das ein weiterer Grund zur Herabstufung. Es ist eine Art Doppelpass-Spiel von Ratingagenturen und Spekulanten, das die Staaten immer mehr in die Zinsfalle treibt. Erste Opfer sind die kleinen, nicht mehr wettbewerbsfähigen Länder an der „Peripherie“ der Eurozone; ins Fadenkreuz der globalen Spekulanten geraten zunehmend auch mittelgroße Euroländer, wie Spanien und sogar das G-7-Land Italien. Aber selbst die ökonomische und Schulden-Supermacht USA wurde von den Ratingagenturen bereits angezählt. Daraus erklärt sich der große Zins-Spread für Staatsanleihen (10-jähroge Laufzeit) in den einzelnen Ländern der Euro-Union; z.B. im März 2011: Griechenland 12,44 %, Irland 9,67 %, Portugal 7 %, Spanien 5,25 %, Italien 4,88 %, Frankreich 3,61 % und Deutschland 3,21 %.

Zudem ist die Spekulation mit Staatsanleihen weitgehend risikofrei, die Risiken werden an die Öffentliche Hand verschoben, z.B. in Form des Euro-Rettungsschirms. Selbst bei einem Schuldenschnitt (haircut) dürften primär Steuerzahler und kleine Sparer bluten müssen, während großen Gläubigerbanken und ihre Anteilseigner aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien als „systemisches Risiko“ eingestuft und mit Steuergeldern herausgehauen werden. Wobei die Politik nicht einmal die Definitionsmacht in Bezug auf „systemische“ Risiken hat, also Risiken, die zur finanziellen Kettenreaktion mit Gefahr einer Kernschmelze führen könnten.

5) Die EU- und Euro-Krisenstrategen wollen den Staatsbankrott der „Problemländer“ vermeiden. Sie befürchten ein Auseinanderbrechen der Währungsunion und eine Implosion des Euros. Die Hardliner der „Troika“ aus Internationalen Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission versuchen über drakonische Zwangsmaßnahmen die Krisenländer zur Entschuldung zu vergattern und sie mit so genannten Strukturanpassungsprogrammen wettbewerbsfähig zu machen, damit sie „ihre Schulden zurückzahlen können“ (Merkel). Zu diesen Spar- und Anpassungsprogrammen  zählen nach der Doktrin des Washington Konsens rigorose Haushaltsdisziplin und -einsparungen, Beschneidung des Öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Daseinsvorsorge, Kappung von Sozialleistungen und Renten, Lohnkürzungen und Erhöhung der Massensteuern. Die knallharten Auflagen zur Bedienung der Staatsschulden, führen zum Ausbluten der betroffenen Staaten und reißen sie infolge Kaufkraft- und Nachfragebeschneidung noch mehr in den Krisenstrudel, wie der Wachstumseinbruch in diesen Ländern  beweist. Was nutzt zudem eine irgend geartete Konkurrenzfähigkeit für einen Weltmarkt, der von Überkapazitäten und fehlender Nachfrage gekennzeichnet ist und dessen Nischen von Schwellenländern und osteuropäischen EU-Beitrittsländern besetzt sind.

Zudem werden die Schuldnerländer zur Privatisierung öffentlichen Eigentums in neuen Dimensionen gezwungen. „Alles muss raus“. Selbst Kulturgüter sind nicht mehr tabu. „Akropolis for sale“ überschrieb die Süddeutsche Zeitung ihren Griechenland-Kommentar und die Bild-Zeitung chauvinistischer: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen“. Die Regierung Papandreou hat sich verpflichtet, Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden Euro zu privatisieren. Der IWF rechnete vor, dass 300 Milliarden Euro allein an staatlichen Immobilienbesitzes zu verscherbeln wären. Pro Kopf eines Griechen/in wären das rein rechnerisch über 27.000 Euro. Eine beispiellose Ausplünderung und Enteignung des Volkes und Vermögens-Umverteilung an die Reichen. Die zudem kein Entkommen aus der Schuldenfalle brächte, sondern bestenfalls einen Aufschub in der Schuldenproblematik.

6) Aber auch in den kapitalistischen Industrieländern, die noch nicht unmittelbar in den Abwärtssog des Krisenstrudels geraten sind und vor einem Staatsbankrott stehen, führen die horrenden Schulden zu steigenden Zinslasten und sozialen Einschnitten. Grob gerechnet haben die Gesamtschulden (Staat, Privathaushalte, Unternehmen) der G-7-Länder zur Folge, dass jährlich 10 bis 15 Prozent des BIP an Zinsen für die Geldvermögensbesitzer abgeführt werden müssen. Es ist dies gewissermaßen eine dritte Umverteilung zugunsten des Kapitals und der Reichen. In der Primärverteilung zwischen Kapital und Arbeit verschieben sich die Proportionen seit dem Jahr 2000 kontinuierlich zum Nachteil der Lohnquote und zugunsten der Gewinnquote. In der zweiten, der fiskalpolitischen Verteilung über die Steuern geht infolge der unsozialen Steuerpolitik der Anteil der Gewinnsteuern am Steueraufkommen zurück. Konzerne und Reiche verabschieden sich  von der Finanzierung des Gemeinwesens. Der Zinstribut an die Geldkapitalisten ist die dritte Form der Umverteilung von unten nach oben. Denn die Zinsen für Staatsschulden müssen von den Steuerzahlern aufgebracht werden, letztlich also von Lohnsteuerzahlern und Verbrauchern. Bei den Privatschulden schmälern sie direkt das Haushaltseinkommen, bei den Unternehmen werden sie häufig in den Preisen weitergegeben oder durch Lohnkosteneinsparungen hereingeholt.

7) Eine bislang nie dagewesene Geldflut, die Rückkehr hoch spekulativer Fonds und Finanzhebel, die Spekulation gegen ganze Staaten und Leitwährungen, birgt die Gefahr neuer finanzieller Kettenreaktionen und Finanzkrisen in sich. Die Raserei auf den Finanzmärkten hat sich ins Unvorstellbare beschleunigt. Etwaige Regulierungen an den Finanzmärkten, die gegen die Macht des Finanzkapitals ohnehin nicht zustande kommen, würden das Problem nicht lösen. Die gewaltigen Geldfluten würden ohnehin jede Form von Eindämmung unterspülen oder niederreißen. Zumal die Masse der spekulativen Finanzgeschäfte nicht mehr über die Finanzmärkte, sondern „over the counter“ (außerbörslich) getätigt werden. Das Problem ist nicht der Damm, das Problem ist die Flut. Solange sie nicht abgeschöpft wird, droht die Gefahr neuer Finanz-Katastrophen.
Die Krisenhaftigkeit des gesamten Systems nimmt zu. Mit den geschilderten Umverteilungen wächst die Gefahr einer neuen Überakkumulations- bzw. Unterkonsumptionskrise in der Realwirtschaft. Der Nachfrageboom in und aus den Schwellenländern dürfte hier nur einen vorübergehenden Aufschub bringen.
Kommt es zu einer Finanz- und Wirtschaftskrise, ergibt sich ein neues Moment. Eine staatliche Konjunkturpolitik mit keynesianischem Instrumentarium ist kaum noch darstellbar. Ein deficit-spending mit Konjunktur- und Rettungspaketen wie bei der Krise 2007 bis 2009 hat sich erschöpft. Der Keynesianismus verabschiedete sich gewissermaßen mit einem letzten „Hurra!“. Er hat die G-7-Länder vorübergehend aus der Krise gezogen, um den Preis einer totalen Überschuldung. Eine erneute Staatsintervention ist nur um den Preis einer Hyper-Inflation zu haben, verbunden mit der Enteignung der kleinen Sparer, Rentner und anderen, die sich nicht in Sachwerte und Aktien flüchten können.

8) Der Keynesianismus ist tot, der Neoliberalismus hat sich als Sackgasse erwiesen. Die Antwort der Herrschenden ist: Neoliberalismus Plus. Die sozialen Einschnitte und Amputationen werden noch brutaler, Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse auf die Spitze getrieben, der Sozialstaat gänzlich ausgehungert, eine extreme Polarisierung der Gesellschaft in Armut und Reichtum hingenommen. Das alles geschieht unter dem Schlachtruf „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ und Verhinderung einer Verschuldungsspirale wie in den Peripherie-Ländern. Das alles bedingt den Abbau demokratischer Rechte und den Ausbau autoritärer Herrschaftsformen.

Im Zuge der Finanzkrise wurde die Demokratie eingeschränkt und Weichen in Richtung einer Finanz-Diktatur gestellt. Mit der Aufnahme der „Schuldenbremse“ in das Grundgesetz Deutschland, erhält die Bedienung der Geldvermögen quasi Verfassungsrang. Sie soll auch den anderen Euro-Ländern aufoktroyiert werden. Die Souveränität und der Gestaltungsspielraum der Parlamente werden minimiert. Der Bundestag z.B. behält zwar das Recht, über eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um drei Euro wochenlang zu debattieren, die großen Finanzentscheidungen aber fallen in anderen Gremien.

Rettungspakete über zig-Milliarden Euro für die Banken wurden in Nacht- und Nebel-Aktionen von einem exklusiven Zirkel bestehend aus der Kanzlerin, dem Finanzminister, zwei Privatbankern, dem Präsidenten der Bundesbank und dem Chef der Bankenaufsicht beschlossen. Das Parlament hat sich entmündigen, sein originäres und zentrales Recht, das Budgetrecht, weitgehend nehmen lassen. Der Souverän der Politik sind heute die Banken und das „Urteil der Finanzärkte“. Sie heben oder senken die Daumen über ganze Volkswirtschaften. Gar nicht zu reden von den „Problemländern“ innerhalb der Euro-Zone. Über deren Wirtschafts- und Finanzpolitik bestimmen heute EU-Kommission,  IWF, EZB  und „System“-Banken. Diese Länder stehen unter der totalen Kuratel des Geldes.

Fred Schmid

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