11.04.2011: Im November 2009 hatten die Bürger Uruguays die Wahl zwischen der Fortsetzung der durchaus erfolgreichen progressiven Politik unter Führung des Ex-Guerilleros (Tupamaro) José Mujica und dem neoliberalen Kurs des Luis Alberto Lacalle. Inzwischen befindet sich Uruguay bereits im zweiten Jahr der Amtszeit des Präsidenten José "Pepe" Mujica. Was hat sich geändert unter der Frente-Amplio-Regierung in ihrer zweiten Legislaturperiode in einem Land, das wie viele andere Entwicklungsländer einen dornigen Weg zu eigenem Wohlstand und zur Befreiung aus neokolonialen Abhängigkeiten vor sich hat?
Auf den ersten Blick scheint sich so gut wie gar nichts geändert zu haben. Wirtschaftlich läuft alles wie gehabt. Steigender Export, steigendes Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosigkeit. Die Regeln des Steuersystems, der Lohnpolitik, des Gesundheitssystems und der Armutsbekämpfung bewirken weiterhin allmähliche Verbesserungen bei der Situation der unteren Klassen. Da aber die oberen ebenfalls sich 'verbessern', bleibt die Kluft zwischen unten und oben auch nach wie zuvor. Die unter Tabaré Vázquez eingeführte progressive Einkommenssteuer ist als Mechanismus zur Umverteilung gewiss unverzichtbar, aber die Rückwirkungen auf die Verteilung von Armut und Reichtum sind eher gering. Der dafür maßgebende Gini-Index verbesserte sich in sechs Jahren gerade mal um sieben Prozent.
Auf drei anderen Ebenen aber zeigen sich Unterschiede zu der vorhergehenden Politik unter Tabaré Vázquez.
Erstens: Mujica bindet die Opposition ein
Unter Tabaré waren die Parteien der Opposition nur im Parlament vertreten, aber in keiner der staatlichen Institutionen. Mujica suchte eine Annäherung an die Parteien auf den anderen Bänken des Parlaments; immerhin sind sie Repräsentanten von fast der Hälfte der Bevölkerung. Seine Regierung bildete vier Kommissionen, in denen alle Parteien des Parlaments vertreten sind – Frente Amplio, Partido Colorado, Partido Nacional (Blancos) und Partido Independiente. Sie sollen Richtlinien für die laufende Legislaturperiode erarbeiten, und zwar im Bereich der Erziehung, der Energiepolitik, des Wohnbaus und der Sicherheit der Bürger.
Danach lud er die drei Oppositionsparteien ein, Direktoren für alle staatlichen Institutionen und Unternehmen zu ernennen, um an der Leitung – in Minderheit freilich – teilzunehmen. Als Gegenleistung konnte er deren Blockade einer Proporz-Besetzung des Wahlgerichts, des Rechnungshofes und der Kammer für Verwaltungssachen aufheben, so dass, erstmals nach anderthalb Jahrzehnten, die Frente Amplio in diesen Schlüssel-Institutionen nach ihrem Stimmenanteil, also zur Hälfte, vertreten ist. Da zur Ernennung der betreffenden Ministerialen eine Zweidrittelmehrheit im Senat vonnöten ist, konnten die bürgerlichen Parteien der Linken dieses Recht bis dahin vorenthalten.
Zweitens: Besseres Verhältnis zu Argentinien
Auch auf einem anderen Gebiet zeitigte die Konzilianz des 'Guerrillero-Präsidenten' Erfolge. Hatte Tabaré Vázquez Verhandlungen mit Argentinien den Rücken gekehrt, solange die Brücke über den Uruguay bei Fray Bentos aus Protest gegen die Zellulosefabrik am uruguayischen Ufer gesperrt war, so ging Mujica das Problem von der entgegengesetzten Seite an: Er zeigte sich verhandlungsbereit, hob das Veto Uruguays gegen die Kandidatur von Néstor Kirchner für die Präsidentschaft der UNASUR (Vereinigung der südamerikanischen Staaten) auf und machte das Angebot zur Bildung einer gemeinsamen argentinisch-uruguayischen Umweltkommission, um Wasser und Luft in der Umgebung und auch innerhalb der Zellulosefabrik zu kontrollieren.
Damit schuf er nicht allein ein neues, besseres Verhältnis zu Argentinien, sondern konnte auch dessen Blockade des MERCOSUR-Fonds aufheben, die bisher die angeforderten Förderungsmittel für die Hochspannungsleitung von Brasilien nach Uruguay sperrte. Ebenfalls erreichte er das Abkommen zur gemeinsamen Ausbaggerung des Kanals von Martín García im Río de la Plata, der den Verkehr auch großer Frachtschiffe in die uruguayischen Häfen nördlich Montevideos ermöglichen wird. Überhaupt ist die Verstärkung der wirtschaftlichen und politischen Bindungen in Lateinamerika, in erster Linie zum MERCOSUR (dem nun auch Venezuela angehört) eine Konstante von Mujicas Außenpolitik. Kaum ein Monat vergeht, in dem er nicht bei Cristina in Buenos Aires oder bei Vilma und vorher Lula in Brasilia zu Besuch ist. Und meist bringt er ein neues gemeinsames Projekt mit.
Drittens: Verhältnis von Regierung und Regierungsparteien
Die dritte Variante ist noch keine, aber sie bahnt sich an: ein neues Verhältnis von Partei zur Regierung. Und das könnte die größten Folgen haben. Unter Tabaré Vázquez befand sich das Bündnis Frente Amplio im Schlepptau der Regierung. Dass ein Minister der Regierung zugleich Präsident der Frente Amplio war, war durchaus symptomatisch. Ein einziges Mal bremste die Partei eine bevorstehende Regierungsmaßnahme: Das war, als das Wirtschaftsministerium einen Freihandelsvertrag mit den USA schließen wollte. Damals war der Widerstand dagegen derart einstimmig, dass die Regierung nicht umhin konnte, den Punkt von der Tagesordnung zu nehmen.
Zurzeit herrscht zwar alles andere als Einstimmigkeit, aber – was besser ist – eine große Debatte. Selbst die Partei, aus der Mujica kommt (MPP, Movimiento de Participación Popular), hat andere Vorstellungen von Linksregierung und alternativer Wirtschaftspolitik als die Sektoren, die zurzeit in diesen Fragen das Sagen haben. So wird zunächst einmal in der Partei darüber diskutiert. Zuerst hatten die Ideologen des Wirtschaftsministeriums sauer darauf reagiert. Vizepräsident Danilo Astori erklärte, jede Änderung könne die Wirtschaft destabilisieren, die Investoren vertreiben - allein die Debatte in der Frente Amplio könne unwiederbringlichen Schaden anrichten. Für ihn und seinen Standpunkt spricht eine wirtschaftliche Konjunktur, wie sie Uruguay zumindest seit sechs Jahrzehnten nicht erlebte, und die auch, im Unterschied zu vorhergehenden Konjunkturen, der großen Mehrheit und damit auch den unteren Einkommensschichten zugutekommt.
Aber auch so sind 30 Prozent der Berufstätigen noch im informellen Sektor beschäftigt, d.h. ohne Sozialversicherung (vordem waren es 40 Prozent). 12,5 Prozent verdienen weniger als den Mindestlohn (230 Euro) und ein Drittel der Erwerbstätigen verdient weniger als das Doppelte davon. Bei der Verteilung des Nationaleinkommens sieht es so aus: Das Fünftel an der Spitze der Pyramide bekommt 47,7 Prozent, für die untersten 20 Prozent bleiben nur 5,7 Prozent.
Das Damoklesschwert der Exportabhängigkeit
Eine andere große Frage lautet: Was ist, wenn die Agrarpreise auf dem Weltmarkt sinken und der Export – zu größtem Teil von landwirtschaftlichen Primärprodukten – einknickt und kein Wachstum mehr bringt?
Die Antwort ist eigentlich klar: Dann muss der Binnenmarkt den Ausfall kompensieren. Doch dazu bedarf es zweier Voraussetzungen: Eine wesentliche Stärkung der Kaufkraft der Volksmassen und eine ebenso wesentliche Steigerung der für den Binnenmarkt produzierenden Industrie (die den Import ersetzt, der bisher mit gestiegenem Export bezahlt werden konnte). Und das erfordert andere Maßnahmen als die gegenwärtigen, die in erster Linie mit Steuervergünstigungen und Standortvorteilen von Freihandelszonen den Export fördern.
Es stimmt, ein eingelaufenes Wirtschaftsmodell kann nicht ohne Schaden von heute auf morgen umgekrempelt werden. Wenn man nur von den Export-Einnahmen von 11 Millionen Rindern, ebenso vielen Schafen, den Getreideernten von einer Million Hektar Land und dem Holz oder der Zellulose von 850.000 Hektar Eukalyptus- und Kieferplantagen zehrt, muss man diese nutzen, so gut es geht. Bestehende Strukturen zu verändern ist schwierig und stets ein Wagnis: was kommt an deren Stelle? Doch da wirtschaftliche Strukturen auch die Verteilung des Reichtums und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingen, so muss eine linke Regierung auch hier linke Veränderungen herbeiführen. Schrittweise, um nicht das Erreichte zu gefährden, aber stetig und mit festem Ziel.
Was für eine Land, was für eine Gesellschaft brauchen wir?
Dass diese Diskussion in Gang gekommen ist, ausgehend von jener Partei im Regierungsbündnis, deren hervorragendster Führer als Präsident regiert, aber kritisch zur eingeschlagenen Wirtschaftspolitik steht, eröffnet eine neue Perspektive. Zumal diese kritische Sicht von etwa der Hälfte der Sektoren und des größeren Teils der Basiskomitees der Frente Amplio geteilt wird.
Die Anlässe zu dieser Debatte lagen zunächst ausserhalb der Wirtschaftspolitik: Da waren einerseits die Niederlage der Frente Amplio beim Plebiszit zur Aufhebung der Straffreiheit für die Mörder in Uniform und dann die Provinzwahlen im Mai 2010, wo vier von acht Provinzregierungen verloren gingen und nur eine dazugewonnen wurde. Was haben wir da falsch gemacht?
Steuerpolitik auf dem Prüfstand
Inzwischen sind weitere Diskussionsthemen hinzugekommen, beispielsweise die vom Wirtschaftsministerium vorgesehene allgemeine Senkung der Mehrwertsteuer um zwei auf 20 Prozent. Man stellte die Frage: Wem kommt das zugute? Würde ein gleich hoher Steuerverzicht nur zugunsten der Armen – also nicht für den Kauf eines Autos oder eines Staubsaugers – nicht sinnvoller sein?
Ein anderes Thema wird diskutiert: Die Einkommenssteuer für Lohnabhängige und Altersrentner ist progressiv (Steuerfreiheit für 65 Prozent der Einkommensbezieher, Spitzensteuersatz bei 25 Prozent). Warum ist der Steuersatz für Kapitaleinkommen unabhängig von der Höhe nur sieben Prozent?
Der Preis der Tonne Soja stieg in zwei Jahren von 350 Dollar auf fast 500 Dollar, aber seit der hohen Verschuldung der Agrarwirtschaft (2002/2003), wo deren Besteuerung zur Entschuldung fast aufgehoben wurde, hat sich kaum etwas geändert. Großagrarier mit ihren Riesengewinnen entrichten deshalb nicht einmal die Steuer für den Grundschulunterricht, den alle anderen bezahlen.
Investitionspolitik in der Zweckmühle
Hinter diesen Tagesfragen stehen, noch wenig präzisiert, grundsätzliche Überlegungen: Wo kommen die Investitionen für die Entwicklung des Landes her und wo gehen sie hin? Was entwickeln sie wirklich?
Die Frente-Amplio-Regierung rühmt sich, die Investitionen seien so hoch wie nie zuvor. In Anbetracht, dass die meisten Direktinvestitionen in die Produktion gehen, während sie in der vorhergehenden Epoche in die Banken und Finanzinstitutionen aus reinen Spekulationsmotiven flossen, ist das tatsächlich ein Fortschritt. Und ein Verdienst der Regierung, die Anreize wie Steuerentlastung nur nach Kriterien der Schaffung von Arbeitsplätzen, Einführung neuer Technologien und dezentraler Ansiedlung der Produktionsstätten im unterentwickelten Hinterland vergibt.
Auch ist es ein Verdienst, dass jetzt die uruguayischen Botschaften, ebenso wie die Auslandsreisen des Präsidenten, der Minister und Parlamentarier in den Dienst der Werbung von Investoren im Ausland sowie der Erschließung neuer Absatzmärkte gestellt sind.
Uruguay braucht Investitionen auch von großen ausländischen Konzernen. Denn für ein schlecht entwickeltes und dazu noch kleines Land sind die öffentlichen Investitionen nicht ausreichend, auch wenn sich das Steueraufkommen der Bürger jetzt mehr als verdoppelt hat; gleiches gilt für die bescheidene Kapitalakkumulation der privaten nationalen Unternehmen.
Die unvermeidliche Abhängigkeit vom internationalen Kapital hat ihre Schattenseiten. Sie reproduziert sich in alle Ewigkeit, denn die beträchtlichen Gewinne fließen zurück an die Aktionäre oder Investoren im Ausland. Und was weit negativer ist, das Kriterium für die Kapitalanlage ist der höchste Gewinn und nicht die bestmögliche Entwicklung des Landes.
Zwischen Vorsicht und Wagnis
Eben deshalb Monokulturen von Eukalyptusplantagen, transgener Sojaanbau mit chemischer Überdüngung und Herbiziden, Konzentration der Gefrierfleischproduktion, Export zu 77 Prozent von Primärprodukten mit geringem Beschäftigungspotential. Häute statt Leder, allenfalls Leder statt Schuhen, Taschen oder Lederjacken. Rohwolle statt Kleidung, allenfalls Tuch statt Bekleidung. Holz statt Zellulose, Zellulose statt Papier, weniger noch Bretter oder gar Möbel. Zuweilen sogar Rinder auf vier Beinen statt Fleisch. Was bringt am schnellsten Profit?
Uruguay brauchte viel mehr eigene Industrie, um unabhängiger zu werden. Aber wer gibt das Geld dazu? Schon die bestehenden Fabriken haben Schwierigkeiten bei den offenen Zollgrenzen. Eine der Chancen liegt in der regionalen Integration. Es gibt auch schon einige Produktionsketten, in der Automobilbranche, bei Brauereien, im Schiffs- und Kesselbau, vor allem mit Brasilien und Argentinien.
Das Wirtschaftsministerium will kein Porzellan zerschlagen. Vorsicht ist gut, aber eher Bremse als Motor. Wenn man nicht zu Veränderungen bereit ist, bleibt es beim Alten. Früher oder später kommt eine Weltwirtschaftskrise, dann müssen die Exporte kompensiert werden. Gefordert sind von der Linken Wagnisse mit Vorbedacht. Kann man überhaupt Eierkuchen backen, ohne die Eier zu zerschlagen?
Text: Ernesto Kroch / Quelle: Casa Bertolt Brecht, Montevideo
Foto: Pesidencia de la República del Ecuador (Mujica - links - bei einer Ehrung Simón de Bolívar)