25.04.2020: Bettina Jürgensen zu der Frage: Was machen wir eigentlich am 1. Mai? |
Diese Frage wird in den letzten Tagen immer häufiger gestellt. Zu Recht, wie ich finde! Die Absage des DGB für Demonstrationen und Kundgebungen am 1. Mai 2020 kam schon zu einem Zeitpunkt, als noch nicht richtig absehbar war, wie sich die Corona-Pandemie entwickeln wird.
Der DGB hat festgestellt: "Zum ersten Mal seit der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 wird es 2020 keine Demos und Kundgebungen auf Straßen und Plätzen zum Tag der Arbeit am 1. Mai geben. Denn in Zeiten von Corona heißt Solidarität: mit Anstand Abstand halten."
Nun werden seit einigen Tagen neue Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in den Bundesländern verordnet oder empfohlen, die Beschränkungen des öffentlichen Lebens werden etwas gelockert. Damit soll eine "Rückkehr in die Normalität" erreicht werden.
Gehört zu unserer "Normalität" nicht auch, den 1. Mai und die Forderungen nach einer demokratischeren, solidarischen und sozialen Welt auf die Straße zu bringen?
Das Virus ist kein politischer Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Alle müssen das tägliche Leben und die Arbeit der Aufgabe zur Eindämmung der Verbreitung anpassen. Da können auch unter Berücksichtigung der hygienischen Sicherheitsmaßnahmen, wenn es denn politisch von den Regierenden in Bund und Land und in den Organisationen gewollt ist, entsprechende Möglichkeiten zum Protest entwickelt und geschaffen werden.
Aktiv sein mit den Gewerkschaften und nicht gegen sie!
Was hindert uns also daran kreative Formen für diesen 1. Mai zu entwickeln?
Der DGB möchte bei seiner ausgegebenen Linie bleiben. "SOLIDARISCH IST MAN NICHT ALLEINE", sagt die Gewerkschaft und ruft zu online-Demonstrationen auf. Im Internet, auf Youtube, auf Facebook sollen Beiträge kommen und uns virtuell das Gefühl der Gemeinsamkeit geben.
Dieses "Angebot" wird wohl genutzt werden von denen, die sich mit den neuen Medien und dem Umgang auf diesen Plattformen auskennen, die überhaupt einen Internetzugang haben und noch dazu nicht gerade in einem "Funkloch" sitzen, die einen dafür geeigneten PC haben.
"Mein" DGB kennt doch hoffentlich auch die Realität und weiß: es gibt ebenso viele Kolleg*innen, die diese Voraussetzungen nicht haben oder (noch) nicht nutzen können oder wollen. Im internet-technisch nachtrabenden Deutschland trifft dies auf Junge wie Alte zu. Hand aufs Herz: manch ein/e DGB-Vorsitzende/r wäre wahrscheinlich ohne unterstützendes Büroteam auch überfordert.
Dabei sollte für Alle zählen: Solidarisch ist man nicht alleine!
Viele Gewerkschafter*innen sagen deshalb: Der 1. Mai muss auf der Straße stattfinden!
Beispiele, wie mit "Anstand Abstand", nicht nur in den eigenen vier Wänden oder am Arbeitsplatz funktionieren kann, gibt es. In den letzten Wochen wurden Aktionen in vielen Städten durchgeführt. Allen voran müssen hier die #LeaveNoOneBehind Aktivitäten zur Aufnahme und Solidarität mit den Geflüchteten genannt werden. Auch verschiedene Friedensaktionen zum 60. Jahrestag der Ostermärsche, Protest gegen die Pegida-Demonstration in Dresden wurden durchgeführt. Überall haben die Teilnehmer*innen verantwortlich für andere und sich selbst gehandelt: mit Abstand, mit Mund-Nase-Abdeckung und den Forderungen auf Plakaten und mindestens 2 Meter breiten Transparenten den öffentlichen Raum besetzt. Und dort, wo die Polizei aufgetreten ist, hat diese gegen die empfohlenen Maßnahmen zu Eindämmung der Pandemie verstoßen und nicht die Aktivist*innen.
Beispielhaft war, wie am 19. April in Tel-Aviv eine Kundgebung mit über1.000 Aktivist*innen stattgefunden hat, um gegen anti-demokratische Maßnahmen der Netanjahu-Regierung im Zeichen der Corona-Bekämpfung zu demonstrieren: Markierungen waren auf den Platz gemalt, auf die sich dann mit Abstand die Teilnehmer*innen versammelten.
19.4.2020, Tel Aviv: Tauesende beim "Schwarze Flaggen"-Protest gegen die anti-demokratischen Maßnahmen der Netanyahu-Regierung im Zuge der Corona-Krise siehe auch http://maki.org.il/en/?p=22667. |
Wir können also mit Kreativität, Verstand, Mut unsere politischen Forderungen trotz Corona auf die Straße bringen. Dabei sollte wie immer beim 1. Mai der DGB als Veranstalter*in auftreten. Wer denn sonst als die Gewerkschaft ist am 1. Mai Akteur – es ist nicht die Aufgabe von Parteien dies nun stellvertretend zu organisieren.
Es hindert uns niemand unsere Erwartung für die eine oder andere Aktion an die örtlichen DGB-Vorstände die zu tragen! Und ja, natürlich haben wir mehr Durchsetzungskraft, wenn wir als aktive Gewerkschafter*innen bekannt sind und mit anderen gemeinsam dies fordern. Dabei können wir unsere Ideen einbringen und auch die Umsetzung mit organisieren.
Eine Mund-Nase-Abdeckung hindert doch nicht daran, gleichzeitig ein Transparent, eine Fahne oder ein Plakat zu tragen. Sogar eine Trillerpfeife wird gehört!
Es muss ja keine Kundgebung mit einer (zu) großen Zahl der Teilnehmenden sein – in den Stadtteilen kann etwas "Kleineres" organisiert werden. Eine lange Menschenkette verbunden durch ein langes Band – selbstverständlich mit dem Abstand von 2 Metern – durch die Stadt oder Stadtteile hat Wirkung - mit Fahnen und Transparenten noch mehr. In den Ketten können in Abständen Kolleg*innen mit Megaphon Reden halten.
Fahnen, Plakate in die Fenster hängen – der DGB sollte dieses Material nicht im Keller liegen lassen, sondern an Kolleg*innen geben, die es dann weiter verteilen.
Am 1. Mai 2020 zu Hause zu bleiben ist für mich keine Option!
Lasst uns den 1. Mai 2020 so gestalten und feiern, damit wir auch in Zukunft gut kämpfen können!
Lasst uns kreativ sein! Virtuell ist gut - real ist besser
Fordern wir das Mögliche! Heraus zum 1. Mai!
Bettina Jürgensen, marxistische linke
P.S. Der 8. Mai, der 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, ist dann der nächste Kampf-und Feiertag! Unsere kreativen (Ur-)Großväter und Großmütter haben während des Faschismus sehr einfallsreich ihren Protest gezeigt: das Symbol der Roten Nelke wurde statt einer roten Fahne getragen, es wurden die Betteninletts, damals in der Regel aus dickem rotem Baumwollstoff, "zum Lüften" aus den geöffneten Fenstern gehängt, es gab Treffen in kleinen Gruppen zur gemeinsamen Lesung oder Rezitation fortschrittlicher Literatur oder gemeinsames Singen von Liedern der Arbeiter*innenbewegung. Formen, die wir uns dann am 8. Mai – dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus – bewusst machen.