Meinungen

19.12.2022: Der Krieg in der Ukraine ist nicht der erste in Europa. Durch Umbrüche entstehen Konflikte und jetzt müssen wir einen Weg finden, im Krieg den Frieden vorzubereiten, schreibt Michael Brie. Aber, so Brie weiter, Frieden kann man nur vorbereiten, wenn man sich den Ursachen des Krieges stellt.

 

Der Krieg in der Ukraine geht bald ins zweite Jahr. Es ist nicht der erste Krieg in Europa seit 1990 und schon gar nicht der erste Krieg an den Grenzen Europas. In alphabetischer Reihenfolge könnte man unter anderem nennen: Afghanistan, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Irak, Jugoslawien, Kuwait, Libyen, Serbien und Kosovo, Syrien, Tschetschenien. Wir wähnten uns im Frieden und lebten umgeben von Kriegen.

Die Welt ist im Umbruch und aus diesen Umbrüchen entstehen Konflikte, die zu Kriegen werden. Noch hat die Europäische Union, noch hat die Bundesrepublik darauf keine Antwort gefunden. Der Krieg in der Ukraine wird zum Testfall, ob es gelingt, einen Ausweg aus dieser Spirale immer neuer Kriege zu finden. Die Römer hatten den Leitfaden: Si vis pacem para bellum (Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor). Wir aber müssen jetzt im Krieg endlich dauerhaften Frieden vorbereiten.

Die drei Ursachen des Krieges

Frieden kann man nur vorbereiten, wenn man sich den Ursachen des Krieges stellt. Solange man von der Vorstellung ausgeht, dass Russlands Politik die alleinige Ursache des Krieges in der Ukraine ist, ist Frieden unmöglich.

Es wird weitgehend verdrängt, dass der Krieg drei Ursachen hat: Er ist ein imperialer Angriffskrieg Russlands zur Sicherung einer – nunmehr vom Westen deutlich unterschiedenen – "Russischen Welt" und ihrer Rolle in Eurasien. Er resultiert nicht zuletzt aus der Schwäche Russlands, dem es nicht gelungen ist, jenseits einer rohstoff- und rüstungszentrierten Wirtschaft nach 1990 ein erfolgreiches Entwicklungsmodell und ein politisches System mit lebendiger Demokratie und Zivilgesellschaft aufzubauen.

In den Augen Russlands waren die Ostausdehnung von Nato und EU eine Bedrohung und Anreiz zum Regimewechsel. Russland sah rote Linien überschritten, als die Ukraine und Georgien 2008 eine Perspektive als Teil der Nato erhielten. Der Westen hat die Schwäche und Verwundbarkeit Russlands und seiner Eliten und deren Wahrnehmung der Nato-Osterweiterung nicht ernst genommen.

Weiterhin ist dieser Krieg vonseiten der Ukrainer ein legitimer Verteidigungskrieg. Die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sind Opfer brutaler Kriegshandlungen. Viele Städte und Dörfer sind zerstört. Millionen sind auf der Flucht. Die Ukraine ist in ihrer Souveränität und in ihrem Recht auf Selbstbestimmung bedroht. Zugleich wurde seitens der Ukraine der eigenen Sicherheitslage nicht Rechnung getragen. Dies war ein katastrophaler Fehler, über den die Gewissheit des formalen Rechts nicht hinweghilft.

Kissingers Rat von 2014, dass die Ukraine nur als Brücke zwischen West und Ost eine Zukunft hat, wurde ausgeschlagen (Kissinger 2014). Die Sicherheitsinteressen Russlands, die spätestens seit 2007 laut wurden und diplomatisch zu lösen gewesen wären, wurden nicht ernst genommen und der Weg einer einseitigen Westanbindung gewählt.

Schließlich hat der Krieg in der Ukraine darin seine Ursache, dass die USA kein Interesse an einer strategischen Autonomie Europas hatten und – beginnend mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – in der Westausdehnung von Nato und EU das wesentliche Mittel sahen, auch weiterhin dem Leitspruch des ersten Generalsekretärs der Nato, Lord Ismay, zu folgen – "to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down".

Verantwortliche Politik verlangt, Gefahren, ungewollte Nebenfolgen und langfristige Perspektiven im Auge zu haben

Die Ansätze für eine neue Architektur gemeinsamer Sicherheit und Entwicklung wurden diesem Ziel geopfert, nicht zuletzt mit dem Beschluss der Nato von 2008, der Ukraine und Georgien eine Nato-Perspektive zu bieten, wenn auch nicht im Schnellverfahren, wie die USA und osteuropäische Länder wollten, sondern im Rahmen des regulären Aktionsplans, der den Umbau der Armee der Ukraine einleitete. Es war und ist nicht nur legitim, sondern nötig, die Ukraine bei der Verteidigung zu unterstützen, es ist aber unzulässig, die Ukraine den geopolitischen Zielen der USA und der Nato zu opfern und die eigenen europäischen Werte und Interessen aufzugeben.

Wenn man Frieden will, muss man sich der realen Alternativen bewusst sein, die eigenen Ziele bestimmen und sie untereinander abwägen und die vorhandenen Mittel der Politik in Rechnung stellen. Verantwortliche Politik verlangt, Gefahren, ungewollte Nebenfolgen und langfristige Perspektiven im Auge zu haben.

Nach dem Scheitern des russischen Versuchs, mit großer militärischer Macht und einem Überraschungsangriff die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen, und beträchtlichen militärischen Erfolgen der Ukraine liegen die wahrscheinlichen Alternativen auf dem Tisch.

Einerseits ist klar, dass Russland nicht dazu in der Lage ist, neue umfassende militärische Erfolge zu erringen. Es ist ein Zermürbungskrieg entstanden, der durch die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine und die Mobilisierung der militärischen Ressourcen in Russland gespeist wird. Andererseits werden neue militärische Offensiven beider Seiten zu einer weiteren Eskalation führen, die den Krieg intensivieren und brutalisieren werden und letztlich Europa in einen Krieg unter Nutzung atomarer Waffen stürzen können.

Der Einschlag einer Flugabwehrrakete der Ukraine in Polen war ein weiteres Alarmzeichen, wie schnell alles außer Kontrolle geraten kann. Alles bringt die Mitgliedsstaaten der Nato näher an einen direkten Krieg mit Russland. Ein Sturz Putins und eine radikale Kehrtwende in Russland angesichts militärischer Niederlagen ist zwar nicht ausgeschlossen. Es wäre aber fahrlässig bis extrem gefährlich, darauf verantwortliche Politik aufzubauen.

Dieser Konflikt ist zugleich einer zwischen Russland und dem Westen

Unter diesen Bedingungen sollte der erste Schritt darin bestehen, einen sofortigen Waffenstillstand herbeizuführen und Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, sekundiert durch die Uno aufzunehmen. Dazu wird es aber nur kommen, wenn die immer weitere Steigerung der Lieferung von Waffen an die Ukraine gestoppt wird und die weitere Unterstützung der Ukraine an die Bereitschaft zu solchen Verhandlungen ohne Vorbedingungen als denen einer Waffenruhe geknüpft wird. Zugleich sollten jene Sanktionen gegenüber Russland aufgehoben werden, die keinen Einfluss auf die Kriegsfähigkeit Russlands haben und zugleich im besonderen Maße die Bevölkerung in Russland, in den Staaten der EU, in Deutschland, aber auch im globalen Süden treffen.

Der zweite Schritt bestünde darin, ein Abkommen zur mittelfristigen Regulation des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland zu schließen, immer auch unter der Prämisse, dass dieser Konflikt zugleich ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist.

Transpi Peace Ukr Rus

Im Juni dieses Jahres tagte im Vatikan eine Arbeitsgruppe von Experten. Die Gruppe hat ausgehend von den sofort nach Ausbruch des Krieges erfolgten Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in der Türkei folgende Vorschläge unterbreitet:

  1. Neutralität der Ukraine, d. h. Verzicht auf die nationalen Ambitionen, der Nato beizutreten, bei gleichzeitiger Anerkennung der Freiheit der Ukraine, Abkommen mit der Europäischen Union und anderen Ländern zu schließen;
  2. Sicherheitsgarantien für die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine […];
  3. De-facto-Kontrolle Russlands über die Krim für einen Zeitraum von Jahren, während die Parteien auf diplomatischem Wege eine dauerhafte De-jure-Einigung anstreben würden […];
  4. Autonomie der Regionen Lugansk und Donezk innerhalb der Ukraine […];
  5. Garantierter kommerzieller Zugang sowohl der Ukraine als auch Russlands zu den Schwarzmeerhäfen beider Länder;
  6. Die schrittweise Aufhebung westlicher Sanktionen gegen Russland in Verbindung mit dem Abzug des russischen Militärs […];
  7. Ein multilateraler Fonds für den Wiederaufbau und die Entwicklung der vom Krieg zerstörten Regionen der Ukraine – an dem sich auch Russland beteiligt […];
  8. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Bereitstellung internationaler Überwachungsmechanismen zur Unterstützung des Friedensabkommens. [vollständiger Text der Erklärung hier]

Ein dritter Schritt wäre viel weitergehender. Gegenwärtig verstärken sich die Tendenzen zu einer neuen globalen Konfrontation. Die Gefahr von militärischen Konflikten nimmt zu, von denen einige auch einen Weltkrieg auslösen können. Die Kooperation bei der Lösung der globalen sozialen, ökologischen, demografischen und sicherheitspolitischen Probleme ist nachhaltig geschwächt worden. Die Losung vom Großkonflikt zwischen "Demokratien" und "Autokratien" feuert diese Konfrontation ideologisch an. Der Kampf der USA um die Bewahrung ihrer unilateralen Dominanz und Hüter der "regelbasierten Ordnung" droht, den Übergang in ein Zeitalter des kooperativen Multilateralismus zu verzögern.

Alles dies erhöht die Bereitschaft einzelner Staaten, ihre Interessen konfrontativ zu verfolgen. Die wechselseitig gezogenen "roten Linien" werden ignoriert. In der Folge gibt es immer mehr Feindbilder, werden die Rüstungsausgaben global deutlich erhöht, was die wechselseitige Bedrohung verschärft, wird Mahnung zu Mäßigung, Abrüstung, Übergang zu struktureller Nichtangriffsfähigkeit denunziert. Die Kooperation bei der Lösung der globalen Probleme rückt in den Hintergrund.

Es wäre angebracht, die Erfahrungen aus der letzten Zeit der Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion wieder zu nutzen. Damals entstanden zentrale Dokumente auf der Suche nach gemeinsamer Sicherheit und Entwicklung, die unter Führung von Olof Palme, Willy Brandt und Gro Harlem Brundtland verfasst wurden. Es wurden Maxime entwickelt, die auch heute gültig sind. Dazu gehört vor allem, dass unter den Bedingungen gemeinsamer Bedrohungen eine Politik gemeinsamer Sicherheit oberste Priorität hat, die den Schutz vor unilateraler Schädigung durch den anderen nicht aus-, sondern einschließt. Der Gegner von heute sollte immer auch als möglicher Partner von morgen behandelt werden.

Dies ist natürlich ein längerer Prozess, bei dem durch die Erzielung der heute erreichbaren Erfolge größere in der Zukunft möglich werden. Der anderen Seite sollte nicht die Reform- und Friedensfähigkeit prinzipiell abgesprochen werden, ohne in Illusionen über den andren zu verfallen. Auswege aus dem Krieg in der Ukraine sollten in der Verbindung von Bemühungen um Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit der Wiederaufnahme von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und Russland und weit darüber hinaus gesucht werden.

Eines ist klar: Die Vorbereitung des Friedens schließt schwer ertragbare Zugeständnisse an Gegner ein, wenn sie aus dem Krieg heraus und zu einer neuen Zusammenarbeit und gemeinsamer Sicherheit hinführen sollen. Anerkennung von sehr, sehr unangenehmen Realitäten und die mühselige Arbeit an ihrer Überwindung schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich, will man nicht in einer immer bedrohlicheren Eskalationsspirale gemeinsam untergehen.

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Dr. Michael Brie
ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

 

 


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