Europa

alt05.04.2010:  Da sah es doch am Sonntag vor einer Woche noch so aus, als ob der Staatsbesuch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei zu einem echten Feuerwerk harter Auseinandersetzungen werden würde. Die Stichworte dazu hatte im Vorfeld der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan großzügig geliefert. Und dann war am Dienstagnachmittag alles eitel Freude und Sonnenschein. Erdogan betonte gleich mehrmals vor der Presse sein "großes Glück" über den Besuch aus Deutschland und lobte den "überaus großen Erfolg" des Zusammentreffens mit Frau Merkel. Also alles vorher nur Schaukampf?

Am 24.3. hatte der türkische Ministerpräsident in einem Austausch mit 'Die Zeit' die Einführung von türkischen Gymnasien in Deutschland vorgeschlagen und die doppelte Staatsbürgerschaft für Türken in Deutschland gefordert. Beim ersten Wunsch irritierte er mit der Begründung, dadurch den anhaltenden Sprachproblemen vieler der drei Millionen Türken in Deutschland begegnen zu können: "Hier hat Deutschland noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt. Man muss zunächst die eigene Sprache beherrschen, also Türkisch – und das ist leider selten der Fall." Als ob ausgerechnet türkische Gymnasiasten (!) ein Problem mit der Beherrschung der deutschen Sprache hätten. Und noch vor zwei Jahren, im Februar 2008, hatte er als erster Regierungschef der Türkei seine Landsleute in Deutschland aufgefordert, gut Deutsch zu lernen.

Und hinsichtlich der Staatsbürgerschaft führte Erdogan aus: "Auch wenn jemand seine Staatsbürgerschaft ablegt, kann er seine ethnische Herkunft nicht ändern. Zur Zeit wird ja viel über doppelte Staatsangehörigkeiten gesprochen ... Ich finde es sehr bedauerlich, dass Deutschland zu den Ländern in der Europäischen Union gehört, die das nicht zulassen." Er hoffe, "dass Deutschland das auch eines Tages erlauben wird". So richtig die erste Aussage ist, ihre Umkehrung in die Behauptung, dass jede Ethnie in einem anderen Land auch der Staatsbürgerschaft des Ursprungslandes bedürfe, um glücklich zu leben, entspricht vollständig dem türkischen National-Chauvinismus, in dem alle Staatsbürger der Türkei per Definition der türkischen Nationalität angehören und in dem der türkische Staat für alle Türken im Ausland (unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft) einen Schutzauftrag zu erfüllen hat.

Das Bild der türkischen Außenpolitik gegenüber der EU (und insb. Deutschland) wird abgerundet, wenn man noch die Lobby-Veranstaltung hinzunimmt, die die türkische AKP-Regierung am 17. März in Istanbul durchführte. Dort hatte sie 1500 Türken im europäischen Ausland eingeladen, Reisekostenübernahme und exklusives Hotelessen inclusive. Motto des Treffens: "Wo auch immer einer unserer Landsleute ist, dort sind auch wir." Und die zentrale Botschaft lautete: Im Ausland die dortige Staatsbürgerschaft annehmen, um dort politisch für die Türkei aktiv zu wirken. Diese Instrumentalisierung der Türken im Ausland durch die türkische Staatsführung ist nichts Neues und längst nicht immer erfolgreich: die Abgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke), sowie Memet Kilic und Özcan Mutlu (Die Grünen) nahmen die Einladung erst gar nicht an.

Aber das Vorgehen der türkischen Regierung und die damit verbundenen Aussagen sind natürlich bestens geeignet, um nationalistische Gegenreaktionen und 'völkische' Abwehrhaltungen in Deutschland zu erzeugen. So etwa forderte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, es dürfe nicht bei einer Integration der Türken in Deutschland bleiben, sondern deren Assimilation - was ja nur als Ruf nach einem entsprechenden Zwang zu verstehen ist. Und Bayerns Innenminister Herrmann formulierte: "Erdogan demonstriert immer mehr einen neuen türkischen Imperialismus und Nationalismus, der für uns Deutsche unerträglich ist." Wie gut, dass er dank solch aufgehetzter Stimmung nicht mehr über den eigenen Imperialismus (z.B. in Afghanistan oder in Klimafragen gegenüber den Entwicklungsländern) reden und sich rechtfertigen muss. Und Tayyip Erdogan goss noch zwei Tage vor dem Staatsbesuch der Bundeskanzlerin Öl ins Feuer, als er sie für ihre Ablehnung der von ihm geforderten türkisch-sprachigen Gymnasien auf einer Nahost-Konferenz in Libyen kritisierte: "Warum dieser Hass gegen die Türkei? Ich verstehe es nicht. Das hätte ich von der Bundeskanzlerin Merkel nicht erwartet. Ist die Türkei ein Prügelknabe?" Und dann am Montag und Dienstag während und nach dem Staatsbesuch die Überraschung: (verkniffene) Harmonie und Beteuerung der guten, erfolgreichen Zusammenarbeit.

Und das, obwohl sich in der Frage einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei nichts bewegt hatte und auch sonst erhebliche Widersprüche zwischen beiden Staaten bestehen. So unterhält die Türkei gute Beziehungen zum Iran und weigert sich völlig zu Recht, an der aggressiven Politik der EU und der USA zur Unterbindung einer nicht vorhandenen Entwicklung von Atomwaffen im Iran teilzunehmen. "Was rechtfertigt Sanktionen gegen einen Staat ohne Atomwaffen, während der einzige Staat mit Atomwaffen in Nahost unsanktioniert bleibt", stellte er fest. Zudem will die türkische Regierung das Handelsvolumen mit dem Iran bis zum kommenden Jahr auf knapp 15 Milliarden Euro mehr als verdoppeln. Heftig hat Erdogan auch im letzten Jahr Israel kritisiert. Obwohl erst jüngst dort auch wieder Waffen (Drohnenflugzeuge) eingekauft wurden, sind die diplomatischen Beziehungen eher auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Positionen der AKP-Regierung sind bezüglich Israel weit entfernt von der blinden und bedingungslosen Unterstützung Israels durch die herrschende Klasse der BRD.

Ein zentraler Streitpunkt ist weiterhin mit der Teilung Zyperns verbunden. Das südliche, griechisch-sprachige Zypern ist seit Jahren Teil der EU, dem die Türkei aber wirtschaftliche und politische Gleichbehandlung mit anderen EU-Staaten verweigert. Deswegen wurden von der EU aus dem Katalog der 35 Regelungsbereiche für einen EU-Beitritt auch 8 Bereiche (u.a. Zollunion, Fischerei, Finanzdienstleistungen, Niederlassungsfreiheit) ausgeklammert. Hier zeigt die türkische Regierung wenig Bewegung, den EU-Forderungen entgegen zu kommen. Dagegen dürften die eigenständigen Bemühungen der Türkei, mit Armenien und Aserbaidschan - trotz aller inneren Widersprüchlichkeit - die Beziehungen zu verbessern, durchaus im Interesse der EU und der BRD liegen. Denn damit wäre ein wichtiger Korridor zur Energieversorgung (Nabucco-Pipeline) aus Zentralasien gesichert.

Kaum Beachtung finden in den aufgehetzten Debatten Gesichtspunkte, die für die Position gerade von Frankreich und der BRD bzgl. eines EU-Beitritts der Türkei hohes Gewicht haben. So ist die Türkei mit 75 Mio. Einwohnern derzeit diesbezüglich das zweitgrößte Land der EU. Schätzungen gehen davon aus, dass die Türkei in den nächsten 10-20 Jahren auf 80-90 Mio. Einwohner anwachsen wird. Sie hätte damit bei bestimmten Prozessen nach dem Lissabon-Vertrag ein entsprechend hohes Gewicht, die derzeitig ausgehandelten Regelungen der doppelten Mehrheit würden wesentlich anders wirken, als derzeit. Zudem würde die vollständige Öffnung des türkischen Wirtschaftsraumes für die Industrien der EU-Zentren im Ausgleich - nach bisherigen Regeln der EU - immens hohe Transferleistungen erfordern. Schätzungen gehen von 45 Mrd. Euro pro Jahr aus. Problematisch bliebe auch die Integration des hohen Anteils der Landwirtschaft in der Türkei und der 'Liquidierung' der kleinen Landwirtschaften, so wie dies etwa in Osteuropa innerhalb weniger Jahre geschah.

Doch trotz aller Probleme - für die deutsche Wirtschaft ist die Türkei eines der wichtigsten Partner. Als Zielmarkt deutscher Exporte war die Türkei mit 15 Milliarden Euro im Jahr 2008 wichtiger als Japan. Die Türkei gilt als Markt mit hohen Wachstumsraten und junger Bevölkerung. Von zentraler Bedeutung ist etwa der Bau der Nabucco-Pipeline, die die europäische Gasversorgung ab 2014 unabhängiger von Russland machen soll. Umstritten ist aber die Höhe der Transitgebühren, die die Türkei erheben wird. Mit ihnen steht und fällt die Wirtschaftlichkeit des Projekts, an dem auch RWE beteiligt ist. Ein Vertreter des Energiekonzerns EnBW, der in der Wirtschaftsdelegation beim Staatsbesuch der Bundeskanzlerin mitreiste, schwärmte vom "Riesenpotenzial bei Wasserkraft und Geothermie".

Entsprechend zurückhaltend geben sich viele Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft. "Die deutsche Wirtschaft mahnt eine emotionsfreie Diskussion um die Beitrittsverhandlungen der Türkei an. Unsere Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei entwickeln sich seit Jahren überdurchschnittlich gut. Das Land bleibt absehbar ein Wachstumsmarkt in strategisch bedeutender Lage", sagt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Werner Schnappauf, im 'Handelsblatt'. Auch der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt gibt sich diplomatisch und sprach sich für ergebnisoffene Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei aus, wies aber auch allgemein auf die notwendigen Voraussetzungen hin.

So war es nur folgerichtig, dass die Bundeskanzlerin in der Türkei offene Konfrontation vermied und sogar eine kleine Geste des Entgegenkommens machte, die Zusage zu "Erleichterungen der Visaerteilung" für Geschäftsleute, Wissenschaftler, Studenten oder Künstler. Türkische Medien werteten Merkels Äußerungen als "Freudenbotschaft". Einig war man sich zudem, dass die Prozesse zur vollen EU-Mitgliedschaft der Türkei weiterhin "ergebnisoffen" fortgesetzt werden sollen. Nur, bei Beachtung all der aufgezeigten Widersprüche und Problemsituationen ist es dennoch wenig wahrscheinlich, dass es in den nächsten Jahren zu einem EU-Beitritt der Türkei kommen wird. Und eine Forderung nach Entscheidung über den EU-Beitritt der Türkei durch die Bevölkerungen, wie sie Sevim Dagdelen als Sprecherin der Bundestagsfraktion von 'Die Linke' für internationale Beziehungen erhob, wirkt da wenig überzeugend. Denn schon jetzt sind am Ende der Beitrittsverhandlungen die Zustimmungen aller EU-Staaten vorgesehen. Und mindestens die Referenden in Frankreich und Österreich haben nach derzeitigem Stand (etwa 80% Ablehnung) keine Aussicht auf Erfolg, was allein ausreichen würde, den EU-Beitritt der Türkei zu verhindern.

Während SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisierte, dass bei dem Besuch der Bundeskanzlerin in der Türkei "wirtschaftliche Interessen geopfert" worden seien, sieht 'Die Linke' "vor allem die Lebensinteressen von Menschen und ihre sozialen und politischen Menschenrechte den wirtschaftlichen Interessen" geopfert. Allerdings geht es bisher und auch in Zukunft bei der evtl. Eingliederung der Türkei in den imperialistischen Block EU sicherlich nur am Rande und nachgeordnet um soziale und politische Menschenrechte. Die Abwehrhaltung der EU-Zentren gegen die EU-Vollmitgliedschaft ist derzeit vor allem anderen politisch begründet. Ihre wirtschaftlichen Interessen versucht die BRD auf dieser Basis durchzusetzen und sie hat dabei, anders als Gabriel meint, keinesfalls etwas 'geopfert'.

So weisen Beobachter immer wieder darauf hin, dass die Anpassungen im Rechstsystem der Türkei von der AKP-Regierung vor allem im Eigeninteresse instrumentalisiert (!) wird, um die kemalistischen Kräfte zurück zu drängen und zu entmachten. Wie wenig Tayyip Erdogan Lebensinteressen von Menschen am Herzen liegen, hat er deutlich in dem von ihm voran gestriebene Prozess der Privatisierung der Tabakindustrie und den damit verbundenen Massenentlassungen (Stichwort: Tekel-Streik) gezeigt. Er ist der Vorkämpfer einer neoliberalen Wirtschaftspolitik in der Türkei. Nicht einmal in der Minderheitenpolitik macht die türkische Bourgeoisie wesentliche Schritte zu echter Demokratie und Menschenrechten. Und die EU selbst hat deutlich bewiesen, dass ihr Minderheitenrechte bei Erweiterung des Imperiums ggf. egal sind. Bei der Eingliederung der baltischen Staaten in die EU hat sie wenig Rücksicht genommen auf die fast völlige Entrechtung der russisch-sprachigen Minderheiten, deren Status dort in rechtlicher Hinsicht noch geringer ist, als derjenige der Kurden in der Türkei.

Unabhängig von jeder zukünftigen Entscheidung über eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU bleibt die Erfahrung, dass ein Schielen auf mögliche Schützenhilfe durch imperialistische Zentren bei der eigenen sozialen und politischen Befreiung für die Volksmassen eines Landes keine wirkliche Lösungsperspektive beinhalten kann.

Text: hth  /  Foto: abou ilias

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