Analysen

China Globus globallookpressvon Wolfgang Müller *)       

21.01.2021: Als »neuen Kalten Krieg« in Anlehnung an die frühere Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West bezeichnen Kommentatoren den Schlagabtausch zwischen den USA und China. In dem Konflikt geht es um Handel, Ressourcen, Einflusssphären und die Gestaltung eines globalen Umfeldes, das günstig für die jeweiligen nationalen Interessen ist. Es geht aber vor allem um die Technologien der Zukunft.

 

Doch der Vergleich mit dem bis Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts dauernden »Kalten Krieg« passt nicht zur Beschreibung dieses Konflikts, der die nächsten Jahre und Jahrzehnte prägen wird. Der »Kalte Krieg« zwischen der früheren Sowjetunion und den USA samt ihren Verbündeten ging um eine rivalisierende universale Vision von der Zukunft der Menschheit. Darum geht es jedenfalls China in der Auseinandersetzung nicht. Die Volksrepublik will nicht das eigene Politik- und Wirtschaftssystem des »Sozialismus mit chinesischer Prägung« exportieren. Sie will die Welt auch nicht nach ihrem Vorbild formen, will keine ideologische Bekehrung, nicht die Revolution exportieren und keine Regimewechsel.

Was China will, ist international mehr Einfluss und mehr Respekt gegenüber den chinesischen Interessen. Es geht vor allem um den Schutz seiner wirtschaftlichen Ziele und um die Sicherung der Einheit sowie der nationalen Souveränität des Landes. Diese war in der langen Geschichte Chinas immer wieder gefährdet. Die weltberühmte Große Mauer war ein mehrere Jahrhunderte dauerndes Bauprojekt, das die Einheit des Landes gegen Invasoren und Barbaren schützen sollte. Die Einheit und die Souveränität sind also Kernbestandteile der chinesischen Erzählung. Dass diese angesichts der zunehmend offenen Feindschaft der USA und des Westens gegenüber China auch nationalistisch aufgeladen wird, kann niemanden verwundern. Schon seit Jahrzehnten hat das Land seine territorialen Ansprüche auf Teile des südchinesischen Meeres deutlich gemacht, in dem heute immer noch US-Kriegsschiffe kreuzen. Aus chinesischer Sicht gehörte der US-Brückenkopf Taiwan immer zu China; noch vor einem Jahrzehnt war dies auch die offizielle Position der Regierung Taiwans. Seit der Rückgabe durch Großbritannien 1997 ist Hongkong, im 1. Opiumkrieg 1842 von der britischen Krone als Kolonie annektiert, völkerrechtlich wieder unstrittig Teil der Volksrepublik. Auch im autonomen Gebiet Xinjiang ganz im Westen des Landes und in Tibet geht es bei diesen riesigen dünn besiedelten Gebieten aus chinesischer Sicht in erster Linie um die nationale Souveränität.

Das Projekt der »Neuen Seidenstraße«, deren maritime Variante u.a. den von China finanzierten Ausbau von Häfen entlang der Küsten Südostasiens und des Indischen Ozeans einschließt, zielt auch auf die Absicherung der Exportrouten und der Rohstoffversorgung der demnächst größten Wirtschaftsmacht der Welt. Das gilt ebenso für die terrestrischen Routen der »Neuen Seidenstraße«. Die Landrouten werden nicht nur Chinas Warenverkehr von und nach Europa und damit den Kapitalumschlag wesentlich beschleunigen, sondern können auch die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern Zentralasiens und des Mittleren Ostens stimulieren.

Das Projekt kann damit einen Entwicklungsschub und eine Stabilisierung der Gesellschaften in diesen vom Westen teilweise »vergessenen« und mit Krieg überzogenen Regionen auslösen, die hierzulande oft mit Bürgerkrieg, Terrorismus und Flüchtlingen assoziiert werden. Beispielsweise wird in Deutschland kaum berichtet, dass China in Afghanistan für die Zeit nach dem bevorstehenden Abzug der US-Truppen große Infrastrukturprojekte plant, während die USA und die anderen NATO-Staaten dem gespaltenen und vom Krieg verheerten Land vor allem Militärstützpunkte und Waffenarsenale hinterlassen.

China ist wirtschaftlich eine Weltmacht und politisch und auch militärisch eine Großmacht. Aufgrund der Größe des Landes und seiner Bevölkerungszahl ergibt sich diese Position in der Welt mehr oder weniger zwangsläufig. Anders wäre das nur bei einer weitestgehenden Abschottung des Landes vom Rest der Welt. Zudem haben die marktwirtschaftlichen Reformen eine äußerst dynamische Kapitalakkumulation in Gang gesetzt. Längst haben die chinesischen Kapitalgruppen die nationalen Schranken für ihre Profitmacherei hinter sich gelassen.

Aber ist die Volksrepublik eine neue imperialistische Supermacht?

Chinas Vorgehen speziell in Asien lässt sich als Versuch beschreiben, das regionale Umfeld präventiv zu kontrollieren, zum Schutz seiner territorialen Integrität und der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung. Es ist eine defensive Einflussnahme, gerichtet auf enge Beziehungen zu den Nachbarländern. Allein, weil das Land viel größer ist als die meisten Länder in seiner Umgebung und eine um ein Vielfaches höhere Wirtschaftskraft hat, bringt das zwangsläufig Abhängigkeiten mit sich. Daraus aber einen aggressiven chinesischen Imperialismus zu konstruieren, geht an den Realitäten vorbei. Denn China hat bislang keine Versuche unternommen, sich Länder in anderen Erdteilen wirtschaftlich und politisch oder gar militärisch gefügig zu machen. Der einzige Militärstützpunkt außerhalb des Landes im afrikanischen Djibouti dient westlichen Analysen zufolge allein dem Schutz chinesischer Handelsschiffe vor der Piraterie am Eingang zum Roten Meer (Economist, 9.4.2016).

Die Volksrepublik sei eine verantwortungsvoll handelnde Großmacht, erklärte im Sommer 2020 ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums bei der Vorstellung verschiedener chinesischer Initiativen, nach denen die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas demnächst bevorzugt mit in China entwickelten Covid-19-Impfstoffen beliefert werden sollen, die im Herbst 2020 in der entscheidenden Testphase waren. Wahrscheinlich wird China, sicherlich nicht die USA, Gewinner im globalen Impfstoff-Wettrennen sein, wenn es um den Ausbau des weltweiten Einflusses geht.

Schon allein aufgrund seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Stärke ist China ein viel gefährlicherer Konkurrent für die USA als es andere Großmächte jemals waren. Irgendwann in den nächsten Jahrzehnten könnte sich die chinesische Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung jener der USA annähern. Dann wäre die chinesische Wirtschaft um ein Mehrfaches größer als die der USA. Das wäre eine historische Kräfteverschiebung in der Welt. Insofern ist es treffend, vom chinesischen Jahrhundert zu sprechen.

Die im Herbst 2020 zwischen 15 asiatischen und pazifischen Nationen, aber derzeit noch ohne Beteiligung Indiens vereinbarte Freihandelszone (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP) ist ein weiteres Signal für den wachsenden Einfluss Chinas. In dieser neuen Freihandelszone wird jetzt schon ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung erarbeitet. Für Güter, die innerhalb dieses Blocks gehandelt werden, gelten künftig einheitliche Regeln über die Herkunft. Damit können Unternehmen ihre Lieferketten weiter flexibilisieren und die Volksrepublik als Lieferant könnte leichter neue US-Sanktionen umgehen.

Wie die EU schon lange demonstriert hat, kann dieser neue Wirtschaftsblock auch zu einer Vereinheitlichung der internen Normen und technisch-industriellen Standards führen, was praktische Auswirkungen weit über die beteiligten Nationen hinaus haben könnte.

Corona: Beschleunigung der Trends mit Vorteilen

Während viele Länder in der Welt im Herbst 2020 in einer zweiten Welle der Corona-Pandemie und damit vor einem zweiten Wirtschaftseinbruch standen, haben China und andere Länder Ostasiens die Krise vergleichsweise deutlich besser bewältigt. Die Finanzmärkte haben dafür einen untrüglichen Riecher. Die Aufwertung der chinesischen Währung zeigt, dass die Währungsmärkte auf eine weitere Stärkung der chinesischen Wirtschaft und damit auf mehr Nachfrage nach dem Renminbi setzen. Die internationale Auktion von Schuldtiteln des chinesischen Staates Anfang Oktober 2020 war mehrfach überzeichnet. Die Entwicklungen auf den Finanzmärkten sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Schon lange vor dem Ausbruch der Pandemie hat sich eine Verschiebung der globalen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse abgezeichnet – weg vom Westen in Richtung Asien. Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krise der Weltwirtschaft hat diesen Trend nur beschleunigt.

Dass Virusbekämpfung gleichzeitig mit einer erfolgreiche Rezessionsbekämpfung verbunden sein kann, hat das Management der Pandemie durch die chinesische und andere Regierungen speziell in Ostasien gezeigt. Ein kurzer, radikaler, zentral koordinierter Lockdown mit strengen Kontaktbeschränkungen hat das Virus im Land eingedämmt. Fallzahlen und Todesfälle in Relation zur Bevölkerung sind niedrig im internationalen Vergleich. Durch das bessere Krisenmanagement hat sich die Wirtschaft viel schneller erholt. Als einziges von 48 untersuchten Ländern meldete China im zweiten Quartal 2020 ein Wirtschaftswachstum. Taiwan, Vietnam und Südkorea folgen in der Rangliste.

In China hat sich auch der private Konsum in den letzten Monaten wieder erholt. Das alles geschah ohne große Stimuli. China und andere asiatische Länder ernten die Dividende vom erfolgreichen Management der Corona-Pandemie. Im dritten Quartal 2020 wuchs Chinas Wirtschaft wieder um 4,9% im Vergleich zum Vorjahr. Vor allem die Industrie und der Bausektor trugen das Wachstum, während der private Konsum in China langsam wieder anzieht. Im Monat September importierte China mehr Waren und Rohstoffe als jemals zuvor in der Geschichte. Die Exporte wuchsen ebenso, sodass China wahrscheinlich noch Marktanteile gewonnen hat. Die immer wieder beschworene Verlagerung von globalen Lieferketten wegen Corona und der von den USA forcierten Entkopplung ist in den Handelsstatistiken bislang nicht nachweisbar.

Im zweiten Quartal 2020 hatte Chinas Wachstum noch bei 3,2% gelegen, nach einem scharfen Einbruch zum Jahresanfang aufgrund des Lockdowns. Für das ganze Jahr 2020 prognostizierte Yi Gang, der Chef der chinesischen Zentralbank, ein Wachstum von 2%. Die chinesische Wirtschaft sei robust und habe ein großes Potenzial, ihre wirtschaftliche Erholung sei gut für die Welt. Für die gesamte Weltwirtschaft dagegen rechnet der IWF mit dem größten Einbruch seit der Weltwirtschaftskrise nach 1929.

Bislang hat der Wirtschaftskrieg, den die USA gegen China angezettelt haben, die chinesische Volkswirtschaft nicht empfindlich getroffen. Im Gegenteil: Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krise hat Chinas Position weiter gestärkt. Das bedeutet aber auch, dass die Spannungen zwischen der bisherigen Vormacht USA und der wirtschaftlichen Supermacht China sich weiter verschärfen werden. Daran wird auch die Wahl Joe Bidens zum neuen US-Präsidenten nichts ändern. Denn US-Demokraten und US-Gewerkschaften haben sich noch schärfer gegen China positioniert als die bisherige Administration.

Nicht alle Eliten teilen die US-amerikanische Positionierung. Ray Dalio, Gründer des US-Hedgefonds Bridgewater Associates, hat in einem Kommentar in der Financial Times (23.10.2020) vor der Blindheit im Westen gegenüber Chinas Aufstieg gewarnt, die von einem hartnäckigen Anti-China-Bias geprägt sei. Bei aller Kritik an der chinesischen Kapitalismus-Variante könne man nicht sagen, es habe nicht funktioniert. Er selbst investiere deshalb nicht nur in den USA, sondern gerade auch in China. »Imperien steigen auf, wenn sie produktiv und finanziell solide sind, wenn sie mehr einnehmen als ausgeben, wenn ihre Vermögenswerte schneller wachsen als ihre Verbindlichkeiten. Das passiert, wenn die Bevölkerung gut ausgebildet ist, hart arbeitet und sich zivilisiert benimmt. Wenn man China und die USA nach diesen Maßstäben miteinander vergleicht, ... sprechen die Fundamentaldaten eindeutig für China.« Amen! So das Credo eines Vertreters des globalen Finanzkapitals.

Die Klima-Ziele

Ende September 2020 verkündete Xi Jinping, China wolle schon vor 2060 CO2-neutral sein. International überraschte diese Ankündigung. Wenige außerhalb des Landes hatten so frühzeitig diese ambitionierte und für die Erreichung der weltweiten Klimaziele äußerst wichtige Selbstverpflichtung erwartet. Allein dass China dieses Ziel formuliert hat, ist für sich genommen schon ein gigantischer Schritt gegen den Klimawandel. Denn die meisten der globalen CO2-Emmissionen aus fossilen Brennstoffen kommen heute aus China (siehe hierzu Abb. 17 auf der folgenden Seite). Zwar sind die Emissionen pro Kopf der chinesischen Bevölkerung immer noch wesentlich niedriger als in den reichen Ländern des Westens, aber im Prozess der nachholenden Entwicklung und Industrialisierung sind Chinas Emissionen viel stärker gestiegen als im Rest der Welt. Importierte und im Land geförderte Steinkohle deckt immer noch mehr als die Hälfte des Energiebedarfs. Bis vor wenigen Jahren lagen Metropolen wie Peking regelmäßig unter einer giftigen Smogdecke aus Kohlendioxyd und Stickoxyden. Das hat sich zwar deutlich geändert. Aber die Dekrete der Zentralregierung und auch der Provinzen, besonders »dreckige« Kohlekraft- und Stahlwerke zu schließen, wurden immer wieder von Lokalregierungen konterkariert, denen die Förderung der lokalen Wirtschaft wichtiger war als der Umweltschutz. Inzwischen werden Staatsbeamte und Parteikader aber auch danach beurteilt, befördert oder abgesetzt, ob sie den Umweltschutz in ihrem Zuständigkeitsbereich verbessert haben oder nicht.

Dass China sich schon jetzt verpflichtet hat, vor 2060 CO2-neutral zu sein, hat mindestens drei Motive:
das Bewusstsein der chinesischen Regierung und der KP, dass der Klimawandel immensen Schaden für das Land bringt;
das politische Interesse, sich international als verantwortungsvoller Akteur zu präsentieren und entsprechend zu handeln;
schließlich die zunehmende Gewissheit der chinesischen Regierung, dass China durch technischen Fortschritt Emissionsfreiheit erreichen könne, ohne die erklärten Wachstumsziele aufzugeben.

Die nötige Abkehr von fossilen Brennstoffen zur Erreichung der Klimaziele ist allerdings eine riesige Herausforderung. Bislang ist nicht klar, wie die Regierung diese ambitionierten Ziele erreichen kann. Details wird wahrscheinlich der demnächst finalisierte Plan für die Jahre 2021 bis 2025 enthalten. Derzeit entfallen auf China weitaus die meisten Kohlekraftwerke, die weltweit im Betrieb oder im Bau sind. Allein die Provinzbehörden der Inneren Mongolei, einer rohstoffreichen, dünn besiedelten Region in Nordchina, haben in den letzten Jahren 17 neue Kohlekraftwerk-Projekte genehmigt (Financial Times, 4.11.2020).

Chinas Stahl- und Zementindustrie, beide Branchen stehen mit an der Spitze beim CO2-Ausstoß, verzeichnen seit dem Corona-Lockdown zweistellige Wachstumsraten. Nach Szenarien eines Instituts für Klimaforschung der Pekinger Tsinghua-Universität wird Chinas CO2-Ausstoß in den nächsten Jahren noch weiter steigen und frühestens ab 2030 sinken. Um binnen 30 Jahren den Anteil nicht-fossiler Energieträger (inkl. Kernenergie) von 41% im Jahr 2019 auf 90% zu steigern, müsste allein China das Dreifache (Windenergie) bzw. Vierfache (Solar) der jetzt global installierten Kapazitäten aufbauen. Zudem muss China dringend seine Schwerpunkte bei internationalen Kraftwerksprojekten ändern: Von 2000 bis 2019 entfiel 40% der chinesischen Finanzierung auf Kohlekraftwerke im Ausland und nur 11% auf erneuerbare Energien.

Dabei hat das Land in den vergangenen Jahrzehnten mit seiner industriellen Macht und seiner cleveren Subventionspolitik wesentlich dazu beigetragen, dass erneuerbare Energien längst konkurrenzfähig sind, während die ebenfalls subventionierte deutsche Solarbranche verschwunden ist. Vor allem dank China sind binnen zehn Jahren die Kosten für Solarstrom um 90%, für Windenergie um 60% und für Lithium-Ionen-Batterien um 87% gefallen. Die Volksrepublik ist längst Weltmarktführer für Elektromobilität und hat durch seine Marktmacht die deutsche Verbrenner-Lobby zum Umdenken gezwungen. Sie führt international auch bei den Investitionen für die Energieerzeugung aus Wasserstoff.

Besseres Leben für alle oder noch mehr Ungleichheit?

»Die Partei schlägt zurück!« So titelten die Wirtschaftsmedien im Westen über die kurzfristige Absage des für Herbst 2020 angekündigten Börsengangs der Ant Group, des Finanzarms der Alibaba-Gruppe an den Börsen von Hongkong und Shanghai. Dieser war als größter Börsengang aller Zeiten angekündigt und hätte den Reichtum und die Macht von Jack Ma, früher Englischlehrer, dann Gründer und Hauptaktionär von Alibaba, weiter vermehrt. Chinas Zentralbank und die Finanzaufsicht sagten den Börsengang in letzter Minute offiziell aus regulatorischen Gründen ab. Dahinter steht die Befürchtung, dass die zeitweilig mit über 300 Billionen US-$ (mehr als der Marktwert der größten Banken der USA und Chinas) bewertete Ant Group für die chinesische Regierung und die KP zu mächtig und unkontrollierbar werden könnte. Jack Ma, selbst KP-Mitglied, hatte am 24. Oktober auf einem Forum in Peking die Partei öffentlich herausgefordert mit der provokativen Ansage, Chinas Regulierungsbehörden und Staatsbanken hätten eine »Pfandhaus-Mentalität«, weil alle Kredite mit Sicherheiten hinterlegt werden müssten (Financial Times, 6.11.2020).

Der geplatzte Börsengang der Ant Group bedeutet nicht nur, dass trotz vieler Schritte der Liberalisierung in den vergangenen Jahren die chinesische Regierung die Kontrolle über die Finanzmärkte und den Kapitalverkehr nicht vollständig aus der Hand geben will. Es ist auch ein weiteres Signal, dass die KP-Führung bereit ist, sich mit den Superreichen und mit ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht und ihrem Einfluss anzulegen. China hat heute mehr Milliardäre als die USA. Der Trend zur Anhäufung immer neuer Vermögen ist bislang ungebrochen: Allein in 2020 sollen bis zum Herbst 275 neue Milliardäre dazugekommen sein. Eine beunruhigende Entwicklung, weil im gleichen Zeitraum viele Millionen Chinesen durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie ärmer geworden sind.

Es kann als sicher gelten, dass die Interessen von Chinas Superreichen nicht nur auf lokaler und regionaler Ebene, sondern auch in der Partei eine wesentliche Rolle spielen. Wird China ebenso eine Plutokratie wie die USA mit der Folge einer tief gespaltenen Gesellschaft und einer Wirtschaft, die ihre Potenziale nicht weiter entfalten kann, weil ein großer Teil der Bevölkerung wirtschaftlich, sozial und kulturell abgehängt ist? Oder wird die KP die Macht der etablierten mächtigen Interessengruppen und Kapitale einschränken?

Geht China die Lösung der drängendsten sozialen Probleme an? Das wurde in der Vergangenheit auf Parteitagen und in der Staatsplanung immer wieder proklamiert, bislang jedoch nicht wirklich umgesetzt. China ist immer noch eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit. Die politischen Antworten auf die sozialen Widersprüche entscheiden darüber, ob es dem Land gelingt, in den nächsten Jahrzehnten eine ausgeglichenere Wirtschaft aufzubauen, weiter erfolgreich aufzusteigen und das offiziell erklärte Ziel einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand für alle zu erreichen.

Ganz oben auf der Agenda steht die Aufhebung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von fast 300 Millionen Chinesen, der Arbeitsmigranten, von denen die meisten in schlechter bezahlten und ungesicherten Jobs arbeiten. Zwei Drittel von ihnen hatten keinerlei – auch keine kurzzeitige – berufliche Ausbildung, als sie auf den Arbeitsmarkt kamen (Financial Times, 16.9.2020). Nun, in der Pandemie, sind viele Millionen arbeitslos geworden, während chinesische Unternehmen gleichzeitig Fachkräftemangel beklagen. Die Regierung will mit viel Geld 15 Millionen Arbeitssuchende kurzfristig umschulen. Aber theoretische 14-Tage-Kurse mit Zertifikat sind Placebos, wenn eine berufspraktische Ausbildung und Erfahrungen fehlen.

Die Pandemie hat auch offenbart, dass Chinas System der Sozialversicherungen trotz vieler Anstrengungen immer noch eine Großbaustelle ist. Die Sozialleistungen erreichen gerade die am allerwenigsten, die in der Krise besonders darauf angewiesen sind. Viele Arbeitgeber zahlen nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Beiträge zur Sozialversicherung. Kein Wunder, dass die Chinesen im internationalen Vergleich Sparweltmeister sind, dass das Land eine strukturelle volkswirtschaftliche Schieflage von Unterkonsumption und Überinvestitionen vor allem in Zement hat. In den Konsum der privaten Haushalte fließen nur 40% der Wirtschaftsleistung, während in den westlichen Industrienationen der Anteil bei 65% und mehr liegt.

Zur Korrektur dieser Schieflage gehören auch Reformen des Steuersystems, das bislang hohe Einkommen und große Vermögen kaum besteuert. Diese Reformen, mehrfach angekündigt, aber wohl aufgrund mächtiger Interessen z.B. der Immobilienkonzerne nicht angegangen, könnten dazu beitragen, dass der Ausbau der Sozialleistungen und die fällige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums finanziert werden kann.

Im Frühjahr 2021 wird die KP den neuen und damit 14. Fünf-Jahres-Plan für den Zeitraum bis 2025 verabschieden. Details werden in den kommenden Monaten noch diskutiert. Aber nach dem Ende Oktober 2020 veröffentlichten Kommunique der Plenartagung der Parteiführung ist die Richtung bereits klar (Financial Times, 31.10.2020): Ausgangspunkt der Planungen ist die Einschätzung, dass die USA die wirtschaftliche und technologische Abkopplung und Isolierung Chinas fortsetzen werden und dass China im Bereich der Schlüsseltechnologien noch deutlich zurückliegt. Deshalb steht im Zentrum die Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Eigenständigkeit, etwa bei Halbleitern, und der Aufbau eines starken inneren Marktes und eigener Innovationen. China soll wirtschaftlich und technologisch autarker werden gegenüber der bisherigen Abhängigkeit von anderen Ländern und speziell den USA. Dazu sollen Chinas Ausgaben für Forschung und Entwicklung besonders steigen. Nicht erwähnt wird etwa der weitere Ausbau der Sozialsysteme als wesentlicher Faktor für Chinas Binnenmarkt. Es bleibt abzuwarten, ob der im nächsten Frühjahr verabschiedete Plan bei den sozialen Themen konkreter wird.

 

Wolfgang Müller hat die letzten 15 Jahre in der IG Metall Bayern gearbeitet und war für die IG-Metaller*innen beim Siemens-Konzern und dann in der Auto- und Zuliefererindustrie zuständig. Zuvor war er Software-Entwickler bei US-Computerkonzernen. Er hat mehrere Jahre in Peking gelebt.
Auf komunisten.de schrieb er:

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Dieser Beitrag ist das Schlusskapitel seines Buches

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