Analysen

Griechenland Syntagma 20.2.2013 frostis02.10.2013. Die Athener Zeitung 'Kyriakatiki Elevtherotypia' hat am 8. September ein langes Interview mit dem Vorsitzenden der griechischen Linkspartei Syriza, Alexis Tsipras, veröffentlicht. ... Niels Kadritzke hat für 'nachdenkseiten.de' das Interview übersetzt und folgende Anmerkungen zur derzeitigen politischen Situation in Griechenland vorweggestellt, die verständlich machen sollen, woraus sich die erstaunliche Siegesgewissheit nährt, die Tsipras in seinen Antworten im oben benannten Interview erkennen lässt:

Demoskopische Zahlen

Die neuesten Umfragen zeigen vor allem, dass die Enttäuschung über die Politik der Regierung Samaras/Venizelos (einer Allianz der verbrauchten Parteien ND und PASOK) nicht nur anhält, sondern über die letzten Monate noch stärker geworden ist. Nach der September-Umfrage des Instituts 'Public Issue' glauben in der Tat drei Viertel der Bevölkerung, dass die Entwicklung ihres Landes in die falsche Richtung geht. Ablehnend zur Sparpolitik der Regierung (im Tsipras-Interview als "Memorandum-Politik" bezeichnet) äußern sich 76 Prozent der Befragten (8 Prozent mehr als noch vor einem Jahr); und genau so wichtig: 72 Prozent beschreiben ihre persönliche Lage als zumindest "schwierig" (3 Prozent mehr als noch im Juli).

Ein weiterer Indikator für die Stimmung ist, dass 81 Prozent der Befragten im Herbst mit anhaltenden Streiks und Demonstrationen rechnen (die auch die Syriza ankündigt und in den meisten Fällen mittragen will). Dieser Prozentsatz ist besonders bemerkenswert, weil er seit dem Juli um 25 Punkte gestiegen ist.

Die zunehmend regierungskritische Stimmung schlägt sich auch in der 'Sonntagsfrage' nieder. Nach der (gewichteten) Hochrechnung der Demoskopen würde die Syriza bei Wahlen auf 30,5 Prozent der Stimmen kommen und damit um einen Prozentpunkt vor der ND liegen. Die Wahlprognose für die anderen Parteien lautet: 15 Prozent für die Neonazi-Partei Chrysi Avgi, 8 Prozent für die PASOK, 7,5 Prozent für die KKE (orthodoxe Kommunisten), 7 Prozent für die rechtspopulistische ANEL und nur 3,5 Prozent für die links-sozialdemokratische Dimar, die durch ihr Ausscheiden aus der Regierung im Gefolge des ERT-Skandals viele Anhänger verloren hat.

Damit sind die Syriza und die Neonazis die einzigen Parteien, die im Vergleich mit den Juli-Umfragen zulegen konnten, während beide Regierungsparteien leicht verloren haben. Insbesondere die sozialdemokratische PASOK geht schweren Zeiten entgegen, was sich darin ausdrückt, dass 80 Prozent der Griechen eine explizit negative Meinung über sie haben (noch negativer werden nur die Neonazis gesehen).

Bemerkenswert ist allerdings, dass im Falle vorzeitiger Neuwahlen immer noch mehr Befragte die konservativen ND als stärkste Partei erwarten (46 Prozent), während 40 Prozent die Syriza vorn sehen. Aber: Nach wie vor ist aber eine klare Mehrheit von 60 Prozent gegen vorgezogene Wahlen, die von der Syriza angestrebt werden. In einer ähnlicher Größenordnung liegt die negative Meinung über alle politischen Führungsfiguren, die für Samaras wie für Tsipras bei 61 Prozent liegt; alle übrigen Politiker sind jedoch noch weit unbeliebter; so wird etwa der PASOK-Vorsitzende und Vizeministerpräsident Venizelos von 76 Prozent negativ gesehen. Das Misstrauen gegen "die Politiker" schlechthin zeigt sich auch in der wichtigen Frage, welche Regierung die Wähler bevorzugen: 28 Prozent votieren für die aktuelle Regierung Samaras, 23 Prozent für eine Syriza-Regierung unter Tsipras. Aber 45 Prozent geben die Antwort: keine von beiden!

Diese Umfrageresultate spiegeln zwar die tiefgehende Vertrauenskrise zwischen Regierung und Wählervolk, sind aber auch für die Syriza höchst ambivalent. Es ist deshalb interessant, wie Tsipras in dem [eingangs erwähnten] Interview auf diese demoskopischen Befunde reagiert.

Ökonomische Daten

Dass die Regierung Samaras/Venizelos weiter an Zustimmung einbüßt, liegt vor allem an den anhaltend negativen Wirtschaftsdaten. Ganz offensichtlich hat die "Optimismus"-Kampagne, die insbesondere Samaras selbst in den letzten Monaten fast bis zur Farce forciert hat (siehe dazu meine Berichte auf den Nachdenkseiten vom 11. Juli und vom 25. Juli), keinerlei Wirkung erzielt. Im Gegenteil: Nach der Verkündung des nunmehr seit einem Jahr beschworenen "Wirtschaftsaufschwungs" wird die ökonomische und soziale Misere, die fast jeder Einzelne am eigenen Leibe spürt, als noch schmerzhafter empfunden.

Und auch der prognostizierte Überschuss im 'Primärhaushalt' (also ohne die Zinsbelastung), den Finanzminister Stournaras für das Haushaltsjahr 2013 ankündigt, musste nicht nur heruntergerechnet werden (von 2,6 Milliarden auf neuerdings 1,1 Milliarden Euro). Der 'Primärhaushalt' erweist sich auch zunehmend als eine Größe, die fast nichts über die ökonomische Perspektive des Landes aussagt. In einem Gutachten des griechischen Unternehmerverbandes wurde mit Recht festgestellt, der 'Primärüberschuss' sei im Grunde nur eine "symbolische Ziffer": Sie könne als solche keine ausländische Investitionen anziehen und sei für die einheimischen Investoren irrelevant; ebensowenig werde sie den Konsum ankurbeln oder Arbeitsplätze schaffen. Kurzum: Ein 'Primärüberschuss' bringt noch kein Wirtschaftswachstum.

Daraus folgt eine scharfe Kritik an der Regierung: "Indem man einen Krieg der Zahlen in Sachen Staatsdefizit geführt hat, ist das Wachstumsziel auf der Strecke geblieben." Und dann stellt der Unternehmerverband die entscheidende Frage, auf die Samaras und Stournaras die Antwort schuldig bleiben: "Welche Position soll Griechenland innerhalb der internationalen Arbeitsteilung haben?" (Zitate nach Kathimerini vom 9. September).

Mit Hinweis auf den "drohenden" Primärüberschuss verleugnet die Regierung auch eine Entwicklung, die außer ihr inzwischen fast die gesamte Wirtschaftswelt als unvermeidlich ansieht: einen neuen Schuldenschnitt im kommenden Jahr, und zwar bei den 'offiziellen' Gläubigern (wie der EZB und nationalen Zentralbanken der Euroländer, inklusive der deutschen Bundesbank). Unklar ist derzeit nur noch, wie viele Schulden dem Land durch diesen zweiten 'haircut' erlassen werden sollen/müssen. Diese Unklarheit wird erst dann beseitigt sein, wenn die Griechen Ende des Jahres Kassensturz machen. Die inländischen Experten gehen schon heute von einer erneuten 'Deckungslücke' in Höhe von mindestens 10 Milliarden Euro aus.

Bei diesen Prognosen ist allerdings noch völlig offen, wie viel Geld aus dem Staatshaushalt in die Rentenkassen nachgeschossen werden muss, die wieder einmal riesige Defizite akkumuliert haben. Das liegt vor allem an der Tatsache, dass die Unternehmen ihre Pflichtbeiträge in das Rentensystem nicht mehr abführen (können), und dass auch viele Freiberufler nichts mehr in ihre eigenen Kassen einzahlen.

Das Problem ist höchst akut. Die größte Sozial- und Krankenkasse IKA musste bereits einen fünf Tage laufenden Notkredit von 150 Millionen Euro bei der Staatskasse aufnehmen, damit sie die Renten im Oktober auszahlen kann. Im Grunde ist die IKA illiquide, und kein Mensch weiß, wie man die Löcher im Lauf dieses Jahres noch stopfen soll. Jedenfalls hat die Kampagne, mit der bei mehreren zehntausend Firmen die rückständigen IKA-Beiträge eingetrieben werden sollten, bei weitem nicht die erwarteten Resultate erbracht. (Bericht in der Kathimerini vom 13. September)

Angesichts der Löcher in den Sozialkassen klingt die Zusicherung der Regierung Samaras ausgesprochen hohl, man werde selbst für den Fall, dass ein neues "Memorandum" nötig werden sollte, auf keinen Fall neue Sparprogramme akzeptieren, die weitere soziale Belastungen oder Einschnitte bringen würden. Denn viele Beobachter rechnen – jenseits formeller Sparbeschlüsse – inzwischen fest damit, dass die Rentenkassen schlicht gezwungen sein werden, die Rentenbezüge noch weiter zu kürzen. Ob sich das dann einem neuen "Memorandum" zurechnen lässt oder nicht, wird den griechischen Rentnern ziemlich egal sein.

Politische Kalküle

Angesichts der ökonomischen Lage und der pessimistischen bis verbitterten Volksstimmung machen sich auch in der zwangsoptimischen Koalition inzwischen ernste Sorgen um das eigene Überleben breit. Offiziell wird das niemand zugeben, aber es mehren sich die Anzeichen, dass Samaras und seine PASOK-Partner immer nervöser werden. Zumal sich im Herbst zeigen wird, dass der sommerliche Tourismus-Boom keinen nachhaltigen Aufschwung und vor allem keine langfristige Beschäftigung gebacht hat. Im übigen bleibt dieser viel gefeierte Boom auf das Wachstum der Einnahmen von ausländischen Besuchern beschränkt, während der Binnentourismus völlig eingebrochen ist, weil sich sieben von zehn griechischen Familien keine Ferien mehr leisten können. Entsprechend hat die Beschäftigtenzahl im Sommer nur sehr bescheiden zugenommen; mit der Folge, dass die Arbeitslosenrate auch Ende dieses Jahres noch bei 27 Pozent liegen wird.

Ernstzunehmende Anzeichen für die politischen Befürchtungen, die sich im Regierungslager breit machen und die sich mit dem zu erwartenden 'heißen Herbst' noch verstärken dürften, werden in der griechischen Presse aufmerksam registriert. Allerdings werden sie auch – je nach Orientierung der betreffenden Medien – entweder heruntergespielt oder zu einer akuten Regierungskrise aufgeblasen. In den letzten drei Jahren sind schon zu viele dieser Gerüchteblasen geplatzt, als dass man jede ernst nehmen könnte.

Ich möchte mich deshalb auf ein Anzeichen beschränken, das allerdings von erheblicher Aussagekraft ist. In der Tageszeitung Kathimerini hat der gut vernetzte – und eher regierungsfreundlich kommentierende – Chefredakteur Alexis Papachelas am 9. September glaubhaft beschrieben, wie stark in den letzten Wochen die Angst vor einem Regierungswechsel im Lager der ND und der PASOK angewachsen ist. Es gebe ernsthafte Diskussionen über die Frage, wie man eine Syriza-Regierung verhindern könne.

Für die ND stelle sich dabei vor allem die Frage, wie man die Regierung erhalten kann, wenn nach den nächsten Wahlen kein Koalitionspartner mehr zur Verfügung stehe (etwa weil die PASOK weiter zerfällt oder an der 3-Prozent-Hürde scheitert). Eine Koalition mit den Neonazis (die manche Linke in Griechenland fast herbeischreiben wollen) sei im Hinblick auf "Europa" völlig ausgeschlossen. Wenn die ND aber Stimmen an die Chrysi Avgi verlieren sollte, könnte die Stunde der Syriza so oder so gekommen sein. Als Gegenstrategie, berichtet Papachelas, denke man in der Umgebung Samaras ernsthaft über die Gründung einer echten "Partei der Mitte" nach, die als Koalitionspartner für die Rechtspartei ND dienen könnte.

Das klingt alles sehr spekulativ, und Papachelas weiß auch keine Antwort auf die Frage, wer eine solche Partei mit welchem Programm gründen sollte. Er vermutet im Gegenteil, dass auf der politischen Bühne Griechenland so viele Egozentriker und Primadonnen posieren, dass man sich "eine gemäßigte, rationale Partei ohne überzogene Ambitionen" nur schwer vorstellen könne. Aber allein der Traum von einer solchen neuen "Partei der Mitte" zeigt an, welch schwere Zeiten der heutigen Athener Regierung bevorstehen. Vor allem angesichts des politischen Potenzials, das die Syriza entfalten könnte, wenn sie eine kluge Strategie entwickelt.

Die Frage, ob die linke Opposition dazu in der Lage ist, kann und sollte sich jeder Leser bei der Lektüre des ... Interviews mit dem Vorsitzenden Alexis Tsipras selbst stellen.

CR und Quelle (mit Dank): nachdenkseiten.de

Foto: frostis

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Gazakrieg Grafik Totoe 2024 04 07

mit Rihm Miriam Hamdan von "Palästina spricht"

Wir unterhalten uns über den israelischen Vernichtungskrieg, die Rolle Deutschlands (am 8. und 9. April findet beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag die Anhörung über die Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord statt), die Situation in Gaza und dem Westjordanland und den "Tag danach".

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Das UNRWA fordert den sofortigen Zugang zu humanitärer Hilfe und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern für bedürftige Palästina-Flüchtlinge.
Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

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