17.04.2017: Hauchdünner Sieg des 'Ja-Lagers' von Präsident Erdogan * nicht nur kurdische Städte, sondern auch Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya stimmen für 'Nein' * Wahlbetrug in großem Umfang * ein Sieg, der die Autorität Erdogans nicht festigt, sondern zeigt, dass die Hälfte der TürkInnen gegen ihn steht * Opposition erkennt Ergebnis nicht an * DIE LINKE fordert grundlegende Änderung der Türkeipolitik
Das war nicht die Art von Sieg, die sich Erdogan erhofft hatte. Nach Angaben der Obersten Wahlbehörde hat Erdogans 'Ja-Lager' das Referendum nur mit einem denkbar kleinen Vorsprung - JA: 51,4% NEIN: 48,6% - für sich entschieden. Gemeldet wird, dass 25.157.025 WählerInnen mit 'Ja' votierten, 23.777.091 das Präsidialsystem ablehnen. Ein kümmerlicher Sieg. Erreicht mit Repression, Manipulation und Betrug. Ein Sieg, der die Autorität Erdogans nicht festigt, sondern zeigt, dass die Hälfte der TürkInnen gegen ihn steht. Dabei hatte sich Erdogan eine öffentliche Bestätigung seiner Führungsrolle und massive Zustimmung zur Errichtung seines autoritären Regimes und der Re-Islamisierung der Türkei erwartet. 60% und mehr war das Ziel.
(Details zum Ergebnis einschließlich Ausland: http://www.kurdistan24.net/tr/turkey_referendum2017)
Ein Referendum unter Bedingungen des Ausnahmezustands
Einen fairen Wahlkampf hat es nicht gegeben. Um eine Mehrheit für das 'Ja' zu bekommen führten Erdogan und seine AKP eine der schmutzigsten Kampagnen in der Geschichte der türkischen Republik. Während dem Ja-Lager' alle staatlichen Mittel und Nachrichtenkanäle offenstanden, wurde das 'Nein-Lager' von den Medien ausgeschlossen, als Terroristen und Verräter gebrandmarkt und von Polizei und Militär behindert und verfolgt. Das Referendum fand unter den Bedingungen des Ausnahezustandes statt: Ungefähr 100.000 Menschen - JournalistInnen, LehrerInnen, RichterInnen, Intellektuelle, Militärs – wurden von der Regierung aus ihren Arbeitsplätzen entlassen, mehr als 40.000 befinden sich im Gefängnis. Fast die gesamte Führung der prokurdischen Partei HDP wurde verhaftet, 6.000 ParteiaktivistInnen sind ebenfalls im Gefängnis, über 14.000 Parteimitglieder wurden in den letzten sechs Monaten vorübergehend verhaftet. Oppositionelle Medien sind geschlossen. Der Krieg gegen die kurdische Bewegung hat eine halbe Million Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Ganze Städte wurden vom Militär im kurdischen Teil der Türkei ausradiert.
Einschüchterung und Betrug am Wahltag - 1,5 Millionen illegale Stimmzettel
Dazu kamen Einschüchterung und Betrug am Wahltag selbst - vor allem in den ländlichen Gebieten und in den kurdischen Dörfern. In den kurdischen Gebieten wurde die Abstimmung lediglich durch zwei Beobachter des Europarats und nicht einmal eine Handvoll OSZE-Beobachter verfolgt. Das Auswärtige Amt in Berlin riet Bundestagsabgeordneten ab, im kurdischen Diyarbakir die Wahl zu beobachten. Dementsprechend wurde dort versucht die Abstimmung zu manipulieren:
- Dutzende Wahlbeobachter der pro-kurdischen Partei HDP und der republikanischen CHP wurden in Wahllokalen festgenommen.
- Internationale BeobachterInnen wurden in den Provinzen Batman und Diyarbakir von der Polizei am Betreten von Wahllokalen gehindert.
- In dem Dorf Yabanardi (Amed – Çermik) wurden in einem Wahllokal zwei Personen - Avdo Yildiz und sein Sohn Seyhmus - erschossen, als sie dagegen protestierten, dass 'Ja-Wähler' im Namen von nicht anwesenden Personen weitere Stimmen abgeben wollten.
- Der oppositionelle CHP-Abgeordnete Ali Haydar Hakverdi erfuhr beim Abstimmen, dass seine Stimme von einer unbekannten Person schon abgegeben worden war.
In Hosap, einer Kleinstadt im Landkreis Gürpinar in der Provinz Van, haben Soldaten die Wahlurnen beschlagnahmt. In der Güzelsu Grundschule in Hosap wurden HDP Wahlbeobachter durch Soldaten daran gehindert, ihren Tätigkeiten an den Wahlurnen nachzugehen. (Foto links: Soldaten kontrollieren in einem Wahllokal in Van den Stimmzettel)
Der AKP-Bürgermeister Kavcan von Hasköy/Mus drohte den WählerInnen in der Düzkisla Grundschule mit den Worten: "Jeder, der geheim wählt, ist ein FETÖ Anhänger. Sie werden in Schwierigkeiten kommen. Sie werden verhaftet und werden ihre Arbeit verlieren." Nach den Informationen der Nachrichtenagentur ABC kam es durch die Drohungen zum öffentlichen Zeigen der Stimmzettel.
- In der Kreisstadt Karaköprü (Provinz Urfa) zwang der AKP-Wahllokalvorsteher gemeinsam mit dem Dorfvorsteher in der Serif Özden-Oberschule WählerInnen, ihre Stimmen offen abzugeben.
- In dem Dorf Toprakkale der Kreisstadt Eleskirt in der Provinz Agri wurden die WählerInnen an der Wahlurne 1083 dazu gezwungen, ihre Stimmen offen abzugeben.
- Wahlbehörde erklärt 'illegale' Stimmzettel für gültig
Am Nachmittag entschied die Oberste Wahlbehörde, auch Wahlzettel ohne offiziellen Stempel als gültig zu akzeptieren. Eigentlich muss jedes Wahllokal exakt über die Anzahl offiziell abgestempelter Wahlscheine und Umschläge entsprechend der registrierten Wahlberechtigten verfügen. Und nur diese abgestempelten Wahlscheine sind gültig. Der Präsident der Obersten Wahlbehörde, Sadi Guven, verteidigte die Entscheidung damit, dass Tausende ungestempelter Wahlscheine eingegangen seien und dies nicht der Fehler der WählerInnen sei. "Es war erforderlich", diese 'illegalen' Stimmzettel anzuerkennen, sagte er gegenüber JournalistInnen von Fox TV. Laut der oppositionellen republikanischen CHP sind 1,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel mitgezählt worden. Insgesamt sieht die CHP bei 2,5 Millionen Stimmen Unregelmäßigkeiten. Die HDP sagt, sie wolle gegen Fälschungen an zwei von jeweils drei Wahlurnen protestieren. - Die offizielle Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, dass in der kurdischen Region Diyarbakir die Boxen mit den Stimmzetteln von Militärhubschraubern abgeholt wurden – aus Sicherheitsgründen.
Video: Rojava News: Manipulated elections in Turkey
https://youtu.be/7xYAmyJVE6A
Unter Berücksichtigung dieser Bedingungen ist das Ergebnis des 'Nein-Lagers' eine enorme Leistung.
Opposition ficht Ergebnis an - "Manipulation in Höhe von drei bis vier Prozentpunkten"
Die türkische Opposition prangert den massiven Wahlbetrug vor allem im ländlichen Anatolien und den kurdischen Dörfern an. Die kemalistische CHP kündigte an, bis zu 60 Prozent der Stimmen anzufechten. Ihr Vizevorsitzender Bülent Tezcan warf der Wahlkommission vor, gegen die Regeln verstoßen zu haben, als sie nicht offiziell zugelassene Stimmzettel als gültig akzeptierte. CHP-Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu sagte: "Dieses Referendum hat eine Wahrheit ans Licht gebracht: Mindestens 50 Prozent des Volkes haben 'Nein' gesagt."
Osman Baydemir erklärte für die HDP, dass es Hinweise auf eine "Manipulation der Abstimmung in Höhe von drei bis vier Prozentpunkten" gebe. Die Istanbuler HDP-Abgeordnete Filiz Kerestecioglu sagte: "Schon der Wahlkampf war nicht fair und hat unter ungeheurem Druck stattgefunden. Die Entscheidung über ein Präsidialsystem in der Türkei wurde dem Volk aufgedrängt. Das 'Ja' wird keine Legitimität haben. Es ist deutlich geworden, dass das Volk in der Türkei es ablehnt, die Verfassung auf diese Weise zu ändern."
Das Wall Street Journal schreibt: "Es ist die erste Wahl, bei der die Bevölkerung ernsthafte Zweifel an der Legitimität des Wahlprozesses hat. Das bedeutet, dass nichts gelöst ist, und ein tief polarisiertes und gespaltenes Land übrigbleibt. Dies ist eine sehr gefährliche Situation."
Sie wissen, dass sie eigentlich verloren haben
Auch wenn die Anhänger Erdogans das Ergebnis wie einen großen Sieg feiern, wissen sie, dass sie eigentlich verloren haben. Selbst nach den Angaben der Obersten Wahlbehörde hat Erdogans 'Ja-Lager' nur mit 51,4% gewonnen. Dabei haben die beiden Parteien des 'Ja-Lagers', Erdogans AKP und die faschistische MHP, bei der Parlamentswahl im November 2015 noch mehr als 61% der Stimmen erhalten – deutlich mehr als für das 'Ja' am Sonntag votierten. Ein furchtbares Ergebnis für Erdogan, sagen denn auch politische AnalystInnen. Denn dies bedeutet, dass ein beachtlicher Teil der nationalistischen und AKP-WählerInnen Erdogan nicht die diktatorische Macht übertragen wollen.
Schlimm für Erdogan ist, dass er erstmals die Mehrheit in Istanbul, wo er seine politische Karriere als populärer Bürgermeister begonnen hat, und in Ankara verloren hat. Aber auch andere Großstädte wie Izmir, Adana, Antalya stimmten mehrheitlich mit 'Nein'. Damit hat Erdogans AKP die Mehrheit in den dynamischen Wirtschaftszentren verloren. Anstelle der Festigung von Erdogans Autorität hat der hauchdünne Sieg – noch dazu mit Einschüchterung, Repression und Betrug – dazu geführt, dass Erdogans Regierungsfähigkeit herausgefordert wird. "Erdogan wird feststellen, dass dies ein Pyrrhussieg ist", sagt Henri Barkes, Direktor des Middle East Programms des Woodrow Wilson Center in Washington. "Er mag jetzt gewonnen haben, aber er wird herausfinden, dass auf mittlere Frist die Opposition gegen ihn härter wird – zuhause und auswärts."
"Bereitet Euch für den Krieg vor"
Befürchtet wird, dass Erdogan deshalb umso aggressiver reagieren wird. Noch dazu, wo sein politischer Spielraum durch die Koalition mit der faschistischen MHP sehr eng geworden ist. Die Ankündigung, jetzt rasch mit einem nächsten Referendum die Todesstrafe wieder einzuführen, deutet in diese Richtung. Der regierungsnahe Journalist Cem Kucuk twitterte an seine 189.000 Follower am Sonntagabend: "Ja hat gewonnen, aber bereitet Euch für den Krieg vor"
Deutsche und europäische Türkeipolitik grundlegend ändern
Wenn in dieser Situation der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) sagt, es gelte jetzt "kühlen Kopf bewahren und besonnen vorgehen", dann zeigt dies, dass sich Erdogan trotz allem öffentlichen Theaterdonner auch weiterhin auf die deutsche Regierung verlassen kann. (siehe auch: Erdogans Handlanger in Berlin) Die Bundesregierung verschleiert die Zustände in der Türkei, wenn sich Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel in einer gemeinsamen Erklärung wünschen, dass die türkische Regierung "einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht". Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) verstieg sich in der ARD gar zu der Aussage: Die Bundesregierung werde das "in einer freien und demokratischen Wahl" zustande gekommene Ergebnis akzeptieren. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bekräftigte ebenfalls, dass Berlin an der Seite von Erdogan bleibt und die Türkei nicht aus der NATO drängen will. Die Türkei werde aufgrund ihrer geografischen Lage immer Europas Nachbar bleiben. "In der Nato können wir mit der Türkei über unsere Vorstellungen einer demokratischen und offenen Gesellschaft intensiver diskutieren", sagte von der Leyen. Die Bundesregierung ist auch gegen den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit denen die Zahlung von EU-Fördermitteln in Milliardenhöhe verbunden ist, die zum großen Teil aus der deutschen Staatskasse kommen.
Demgegenüber meint der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin, dass der Sieg des 'Ja' das "vorläufige Ende von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei" bedeutet. Die Beziehungen mit Ankara müssten komplett neuvermessen werden und die Bundesregierung müsse alle Rüstungsexporte in die Türkei stoppen, so Trittin.
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (DIE LINKE) sagte: "Von einer defacto-Diktatur kann man nun nicht mehr sprechen, sondern es ist jetzt eine dejure-Diktatur. Der Ausnahmezustand wird jetzt zu einem Normalzustand.“ Die Bundesregierung müsse "ihre Türkeipolitik grundlegend zu ändern", fordert DIE LINKE. "Mit einer Diktatur darf die EU keine Beitrittsverhandlungen mehr führen, Vorbeitrittshilfen von 630 Millionen Euro jährlich sind ebenso wie eine Erweiterung der Zollunion zur Unterstützung Erdogans sofort zu stoppen. Die Bundesregierung ist gefordert klar zu machen, auf wessen Seite sie steht: Auf der Seite der Demokratie oder auf der Seite der Diktatur Erdogans".
Sevim Dagdelen warnt davor, dass sich die Krise in der Türkei weiter zuspitzen werde. "Statt den Merkel-Erdogan-Pakt brauchen wir einen Pakt mit den Demokraten in der Türkei. Keine Waffen, kein Geld und keine Soldaten für Erdogans Diktatur", fordert Dagdelen.
Foto rechts: "Keine Panzer für Erdogan - Kampagne von Campact"