Interview mit Pierre Laurent, Nationalsekretär der Französischen Kommunistischen Partei
15.12.2016: Das nachstehende Interview mit Pierre Laurent, Nationalsekretär der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), bietet einen Überblick über den aktuellen Stand zum Jahresende 2016/17 bei der Vorbereitung der beiden wichtigen Wahlkämpfe, die im Frühjahr 2017 in Frankreich anstehen: die Präsidentenwahl am 23. April, Stichwahl am 7. Mai, und die Parlamentswahl mit der Neuwahl der 577 Abgeordneten der Nationalversammlung am 11. Juni, 2. Wahlgang am 18. Juni.
Pierre Laurent ruft darin entsprechend dem Ergebnis der Mitgliederabstimmung der PCF vom 24.-26.11. dazu auf, alle Kräfte zu mobilisieren, um den höchstmöglichen Stimmenanteil für den Linkskandidaten Jean-Luc Mèlenchon bei der Präsidentenwahl und die besten Ergebnisse für die Kandidaten der PCF und anderer Linksformationen bei der Parlamentswahl zu erreichen. Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit, auf allen Ebenen die Bemühungen um den möglichst breiten Zusammenschluss aller alternativen Linkskräfte fortzusetzen. Denn nur dadurch könnte sich eine Chance ergeben, dem Angriff der Rechtsextremisten des „Front National“ unter ihrer Spitzenkandidatin Marine Le Pen und der reaktionären konservativen Rechten unter ihrem per „Vorwahl“ neu gekürten Anführer François Fillon wirkungsvoll zu begegnen. Dabei sind nach Ansicht Laurents die Präsidenten- und die Parlamentswahl von gleich großer Bedeutung. Nur beim Zustandekommen des breitesten Bündnisses aller alternativen Linkskräfte, wie es gegenwärtig noch nicht erreicht wurde, könnte sich für diese Kräfte die Möglichkeit ergeben, bei der Präsidentenwahl in den 2. Wahlgang zu kommen. Doch unabhängig vom Ausgang der Präsidentenwahl wird es auch von großem Gewicht sein, wie stark die Positionen sein werden, über die die alternative Linke im künftigen Parlament verfügen kann, um der Rechtsentwicklung Widerstand zu leisten und den Kampf für einen politischen Kurswechsel zu einer echten Linkspolitik weiterzuführen.
Das Interview wurde am 9. Dezember in der „Humanité“ veröffentlicht.
Frage: Manuel Valls (bisher „sozialistischer“ Regierungschef, der am 6. Dezember zurückgetreten ist und seine Kandidatur für das Präsidentenamt angekündigt hat, nachdem der derzeitige Staatspräsident Francois Hollande am 1.12. bekanntgegeben hatte, dass er mangels Zustimmung in der Bevölkerung nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren wird, Anm.), nunmehr Kandidat bei der Vorwahl der PS, meint, dass die Linke, nachdem er sie gespalten hat, jetzt vereinigt werden müsse. Kann der Kampf gegen die Rechte und die Rechtsextremisten eine solche Vereinigung rechtfertigen?
Pierre Laurent: Manuell Valls hält die Franzosen für blöd. Seine Rede als Kandidat in Evry (wo er erstmals seine Kandidatur öffentlich bekanntgab, Anm.) ist Punkt für Punkt das Gegenteil der Politik, die er als Premierminister betrieben hat. In Wahrheit hat er sich nicht geändert. Er versucht nur, wie Macron, nach dem Verzicht von François Hollande den Stab zu übernehmen. (Macron = Ex-Rothschild-Banker und Ex-Wirtschaftsminister unter Hollande, der gleichfalls als Präsidentschaftskandidat antritt, aber mit einer eigenen Bewegung außerhalb des Spektrums der „“Parti Socialiste“ [PS], Anm.)
Aber wer kann vergessen, dass es die Politik war, die sie (Valls und Macron) betrieben haben, die ihn (Hollande) gehindert hat, erneut zu kandidieren? Diese verheerende Zurückweisung (in weiten Teilen der Bevölkerung) stürzte die Sozialisten in eine maximale Spaltung. Valls und Macron waren die zwei Inspiratoren der fünfjährigen Amtsperiode, in der sie mit dem Artikel 49,3 (Ausnahmebestimmung der franz. Verfassung, mit der Gesetze ohne Abstimmung im Parlament für gültig erklärt werden können, Anm.) der eine das Loi Macron (Gesetz über Steuererleichterungen für Unternehmer in Höhe von 30-40 Mrd. €) und der andere das Loi El Khomri („Arbeitsgesetz“ zur „Liberalisierung“ des Arbeitsrechts mit Aushebelung von Tarifverträgen) durchgesetzt haben. Ihre Kandidatur ist eine Sackgasse.
Die einzige Art, den Rechten und Rechtsextremisten entgegenzutreten, ist die Sammlung der Franzosen für ein neues Projekt der Linken, des sozialen Fortschritts, der nationalen Wiederaufrichtung und der Umgestaltung Europas. Dieses Projekt wollen wir in die Präsidentenwahl einbringen.
Frage: Die PCF hat beschlossen, für Jean-Luc Mélenchon zu stimmen, doch einen autonomen Wahlkampf zu führen. Worin wird er bestehen?
Pierre Laurent: Autonom, das heißt offensiv und frei. Die PCF wird ihr Bestes in den Dienst dieses Wahlkampfs einbringen: ihre Ideen und ihr Projekt, ihre nachbarschaftliche Nähe mit den Bürgern in sehr vielen Gebieten und die Erfahrung ihrer Abgeordneten, ihre Fähigkeit, die breitesten sozialen und politischen Kräfte der Linken zusammenzuführen. Unser Leitfaden ist, den Franzosen zu zeigen, dass entgegen dem, was ihnen alle Tage erzählt wird, eine Politik des sozialen Fortschritts nicht nur möglich ist, sondern dass sie auch der einzige Weg ist, um das Land wieder hochzubringen.
Zur Debatte von Projekten rufen wir auf. Nehmen wir als Beispiel die Gebrüder Bocquet, wie sie genannt werden. Diese beiden kommunistischen Parlamentarier reisen mit ihrem Buch „Sans domicile fisc“ („Steuerbehörde ohne Wohnsitz“) durch Frankreich, um zu zeigen, dass 80 Milliarden Euro eingeholt werden können, die jedes Jahr infolge Steuerbetrugs den Steuereinnahmen entgehen. Das ist genau so viel wie das jährliche Haushaltsdefizit Frankreichs, oder was man braucht, um den SMIC (gesetzlichen Mindestlohn) auf 1700 Euro zu erhöhen und damit die Gesamtheit der Tariflohnskalen anzuheben. Dieses Geld ist da, aber es wird von den Multis konfisziert. Für solche Lösungsvorschläge werden wir uns zusammentun, um den höchstmöglichen Stimmenanteil für Jean-Luc Mélenchon und für unsere Kandidaten bei der Parlamentswahl zu erreichen.
Frage: Haben Sie Jean-Luc Mélenchon getroffen? Kann es ein gemeinsames Arbeiten geben?
Pierre Laurent: Die gemeinsame Arbeit mit allen verfügbaren Kräften wird im Zentrum unseres Wahlkampfs stehen, weil wir die stärkstmögliche Vereinigung aufbauen wollen. Ich habe mit Jean-Luc Mélenchon am Dienstag gesprochen und wir haben ein Treffen in den nächsten Tagen vereinbart. Er hat sein Programm „Die Zukunft gemeinsam“ veröffentlicht, und wir haben unsere Vorschläge in „Frankreich gemeinsam“ veröffentlicht. Diese Vorstelllungen müssen zusammengeführt werden, um eine große Debatte in der Bevölkerung über geeignete Lösungen auszulösen, um das Land aus der Krise herauszubringen.
Frage: Welche Botschaft wollen sie gegenüber François Fillon und Marine Le Pen aussenden?
Pierre Laurent: Jeder konnte gerade zur Kenntnis nehmen, dass das Programm von François Fillon ein wahres soziales Massaker wäre und wahrscheinlich mit der beabsichtigten Verallgemeinerung der unsozialen privaten Versicherungen das Ende der Sozialversicherung bedeuten würde. François Fillon will auf autoritärste Weise, d. h. durch Regieren per Verordnungen, eine sehr brutale Gesellschaft durchsetzen. Aber er ist nicht die einzige Gefahr. Marine Le Pen will sich als Kandidatin präsentieren, die die Franzosen vor dem Ultraliberalismus von François Fillon beschützen will. Das ist Betrug, wenn man weiß, dass sie den Multimilliardär Donald Trump über den grünen Klee lobt. In Wirklichkeit ist ihr Programm vom gleichen Schlag. Hinter dem Anti-System-Gerede findet man immer die Anprangerung der Armen, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger, der Immigranten, aber nie der wirklich Verantwortlichen für die Krise, der Macht des Finanzkapitals. Allein unser Programm greift die wahren Profiteure des kapitalistischen Systems an.
Frage: Welche konkreten Vorschläge will die PCF in den Wahlkampf einbringen?
Pierre Laurent: Vorschläge, bei denen wir jedes Mal zeigen, dass sie realisierbar sind.
Schaffung von einer Million Arbeitsplätzen in den industriellen und ökologischen Zukunftsbranchen, das ist möglich, wenn die Profite der CAC 40 (franz. börsennotierte Konzerne ähnlich dem DAX) und das CICE (unter Hollande eingeführte Steuerermäßigung für Unternehmer) umgeleitet werden. Allein das CICE entspricht jedes Jahr der Finanzierung von 400 000 – 500 000 Arbeitsplätzen. Die Banken, die weiterhin die Finanzmärkte, das System der Steuerparadiese, die Strategien der multinationalen Konzerne unterstützen, entwenden ebenfalls beträchtliche Summen der Finanzierung von Arbeitsplätzen.
Wir schlagen auch vor, die Arbeitszeit zu verkürzen, indem auf positive Weise die Möglichkeiten genutzt werden, die durch die digitale Revolution eröffnet werden. Um gegen die Ungleichheit, die große Armut und Ausgrenzung zu kämpfen, schlagen wir vor, die Mehrwertsteuer für Produkte des lebensnotwendigen Bedarfs zu senken, indem die Einnahmen des ISF (Vermögenssteuer) verdoppelt werden. Wir schlagen vor, aus der Lohn-Gleichstellung von Frauen und Männern ein großes nationales Anliegen zu machen. Wir wollen eine neue Absicherung von Beschäftigung und Fortbildung, die die Prekarität (Arbeit im Niedriglohnbereich) und die Arbeitslosigkeit für die meisten Menschen abschaffen würde. Indem wir eine Debatte der Bevölkerung über diese Vorschläge entwickeln, werden wir in der Lage sein, neue Hoffnung entstehen zu lassen, die die Amtszeit von François Hollande für Millionen Franzosen auf null reduziert hat.
Frage: Wie wollen Sie ihr Bemühen um die Sammlung der Kräfte fortsetzen?
Pierre Laurent: Es ist die Zukunft Frankreichs, um die es geht, also fixieren wir uns keinerlei Grenzen. Gegenüber der Macht des 1 Prozent stehen die 99 Prozent der übrigen Gesellschaft. Diese Sammlung ist Sache all derer, die auf der Linken oder bei den Grünen im Lauf der Amtszeit begriffen haben, in welche Sackgasse uns das Trio Hollande-Valls-Macron geführt hat.
Alle Gewerkschafter und Aktivisten der Bewegung „Nuit debout“, die gegen das „Arbeitsgesetz“ aktiv waren, alle Nutzer und alle Beschäftigten der öffentlichen Dienste, die ihre Arbeitsplätze und ihre Tätigkeiten bedroht sehen, alle Arbeiter, die begreifen, wie sehr die Opferung ihrer beruflichen Fähigkeiten und Kenntnisse Frankreich schwächt, sind betroffen. Wir führen den gleichen Wahlkampf, so nah wie möglich vor Ort, zur Präsidenten- und zur Parlamentswahl. Deshalb rufen wir dazu auf, in jedem Wahlkreis öffentliche Debatten abzuhalten und sie mit „Bürgerwerkstätten“ oder „Parlamentsworkshops“ weiterzuführen. Ich versammle am Samstag (10.12.) ein weiteres Mal im Bellevilloise (traditioneller Veranstaltungsort der Arbeiterbewegung in Paris) Persönlichkeiten, die in sehr verschiedenen Sektoren der Gesellschaft engagiert sind, und wir zählen darauf, mit ihnen eine ständige Arbeitsebene einrichten zu können, um in gewisser Weise eine Fabrik von Ideen und Projekten aufzubauen.
Frage: Sie haben mehrmals die Zersplitterung der Kandidaturen auf der Linken kritisiert. Ist das immer noch aktuell?
Pierre Laurent: Das ist mehr denn je aktuell. Wir rufen dazu auf, für Jean-Luc Mélenchon zu stimmen, wobei wir uns bewusst sind, dass die Gefahr bestehen bleibt, dass die Rechte und die Rechtsextremisten allein im zweiten Wahlgang stehen. Wir wollen deshalb die bereits erreichte Sammlung beträchtlich ausweiten. Die Grünen, deren Kandidatur wenig Chancen hat, stark ins Gewicht zu fallen, sollten über diese Situation nachdenken. Unser Appell richtet sich natürlich auch an die Aktiven und Millionen Wähler der Sozialisten, die konsterniert das vor den Vorwahlen ihrer Partei gebotene Spektakel beobachten.
Frage: Bedeutet das, dass Ihre Partei je nach Entwicklung der politischen Landschaft auch eine andere Kandidatur unterstützen könnte?
Pierre Laurent: Die Frage ist nicht, den Kandidaten zu wechseln, sondern dass die Projekte und die Kräfte, die zusammengehen können, dies möglichst schnell tun. Die Landschaft ist nicht festgefahren. Wir werden nicht gleichgültig sein gegenüber den Entwicklungen bei der Vorwahl der Sozialisten, von der heute niemand sagen kann, wie sie ausgehen wird.
Frage: Drohen Kandidaten der PCF und des „aufmüpfigen Frankreich“ (Bewegung von Jean-Luc Mélenchon) bei der Parlamentswahl in Konfrontation zu einander zu geraten?
Pierre Laurent: Ich wünsche es nicht. Der Parlamentswahlkampf ist von zentraler Bedeutung. Die Kommunistische Partei wird darin ihre volle Verantwortung wahrnehmen, denn die Gefahren für die Vertretung von Millionen Linkswählern sind groß. Hören wir auf mit der Prahlerei! 577 Kandidaturen, die in der Lage sind, zu sammeln - das kann nicht aus Paris dekretiert werden. Das ist eine schwierige Schlacht. Deshalb muss die Kommunistische Partei, die die Kraft, die Erfahrung und die territoriale Präsenz hat, um es zu tun, möglichst schnell aktiv werden im Geist der Sammlung und der Öffnung in jedem einzelnen Wahlkreis, um ab Anfang des Jahres eine Kandidatur zu präsentieren oder zu unterstützen. In den Wahlkreisen, in denen die Bewegung des „aufmüpfigen Frankreich“ Kandidaten präsentieren möchte - und seien wir ernsthaft, das wird nicht in 577 sein - müssen wir diskutieren, um eine Zersplitterung zu vermeiden. Umso mehr, als in vielen Wahlkreisen die Rechten und der Front National drohen, eine Übernahme des Wahlkreises zu erreichen. Die Regel ist jetzt klar. Nach der Mitgliederabstimmung der Kommunisten und den Entscheidungen anderer aus der Linksfront hervorgegangener Kräfte wie „Ensemble“ werden diese Kandidaturen, wenn es gemeinsame sind, nicht nur im Rahmen des „aufmüpfigen Frankreich“ auftreten. Verlieren wir also keine Zeit mit falschen Debatten.
Frage: Obwohl die Scheinwerfer auf die Präsidentenwahl gerichtet sind, wollen Sie die Parlamentswahl im gleichen Maß behandeln. Ist das nicht verlorene Mühe?
Pierre Laurent: Das ist im Gegenteil ganz wesentlich. Da steht das Regime unserer Demokratie auf dem Spiel. Die Präsidentialisierung hat zum Ziel, die Demokratie ihrer Substanz zu entleeren. Es gibt eine große Gefahr. Betrachten Sie, wie Fillon per Verordnungen regieren will. Das Parlament ist ein wesentlicher Ort der demokratischen Volkssouveränität. Wir können nicht darauf hoffen, das Projekt der Kräfte des Kapitals einzig und allein durch die Präsidentenwahl zu vereiteln. Zusammen mit den sozialen Kämpfen bilden die beiden Wahltermine für uns ein Ganzes, um die Kräfteverhältnisse zu verändern. Es ist notwendig, dazu in kohärenter Weise die gleichen Reihen von Vorschlägen vorzubringen. Deshalb rufe ich unsere Kandidaten zu den Parlamentswahlen dazu auf, ab dem Monat Januar in den Wahlkampf einzutreten, um aus der unerlässlichen demokratischen Umwälzung (im Orig. révolution) eine zentrale Frage zu machen.“
Übersetzung: Georg Polikeit