Ein Kommentar von Leo Mayer
08.03.2016: Von "Durchbruch" und einem "qualitativem Fortschritt" reden diejenigen, die verantwortlich sind für den Tod von Tausenden im Mittelmeer, für die Schließung der Grenzen und das Elend in den Flüchtlingslagern. Ihre "europäische Lösung" lautet, möglichst viele Menschen in die Hände einer Regierung zu übergeben, die die Menschenrechte mehr denn je mit Füßen tritt und täglich neue Fluchtursachen schafft. Mit dem EU-Türkei-Gipfel vom 7. März ist ein bisheriger Tiefpunkt europäischer Politik erreicht. Diese "europäische Lösung" ist die Bestätigung nationalistischer Alleingänge und der Sieg der Schreibtischtäter.
Die geplante Abriegelung der türkisch-europäischen Grenze und die Rückschiebung von Flüchtenden in die Türkei ist eine asylpolitische Bankrotterklärung und schlichtweg rechtswidrig: Solange die Türkei nicht zum sicheren Drittland erklärt wird, verstößt die pauschale Abschiebung von Schutzsuchenden gegen geltendes Asylrecht. Und ein sicheres Drittland ist die Türkei mit Sicherheit nicht. Zeitgleich mit den Verhandlungen in Brüssel ist die Polizei in Istanbul und Ankara mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Frauen vorgegangen, die anlässlich des Internationalen Frauentages auf die Straße gegangen sind, Zeitungen werden geschlossen, Dutzende Journalisten sind inhaftiert, in den kurdischen Gebieten führt das Militär einen brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Einem Regime, das islamistische Terrormilizen in Syrien unterstützt, werden Milliarden angeboten, wenn es die Flüchtenden von Europa abhält.
Diese "europäische Lösung" ist das Aus für das individuelle Asylrecht und zielt auf die Abriegelung vor der "globalen Normalität von Not und Elend, Vertreibung und Flucht, Krieg und Konflikt" (Stephan Lessenich) – verursacht durch Krieg und die strukturelle Gewalt des globalen Kapitalismus. Da stört es dann auch nicht, dass die Mithilfe beim Zurückschleppen von Booten in die Türkei eine eklatante Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist. Menschenrechte, Asylrecht – das hat in der EU der Zukunft keinen Platz. Mit jedem neuen Zaun, jeder neuen Maßnahme zur Flüchtlingsabwehr konstituieren sich die Umrisse eines zukünftigen Europas. In dieser EU findet dann auch das türkische Regime seinen angemessenen Platz.
Und während dem türkischen Regime Milliarden angeboten werden, wird der Druck auf Griechenland erhöht. Ganze 27 Millionen Euro hat das Land für die Versorgung der Flüchtenden erhalten, vier Millionen vom UNHCR. 160.000 Flüchtende werden umgesiedelt – das hatte die EU-Kommission im Oktober beschlossen. Bis dato sind 82 Personen aus Griechenland und 190 aus Italien umgesiedelt worden, denn, wie bekannt, weigern sich die meisten EU-Staaten, Flüchtende aufzunehmen. Nach dem EU-Türkei-Gipfel wird sich daran auch nichts ändern.
Tatenlos schaut die EU zu, wie die Situation in Griechenland immer weiter eskaliert. Denn wieder einmal sind "die Griechen schuld", sie können die "EU-Außengrenzen nicht sichern", sie weigern sich, die Flüchtenden ins Meer zurückzuwerfen. Für den österreichischen Kanzler Werner Faymann verhält sich Griechenland wie ein "Reisebüro“. Aber jetzt sind die Grenzen dicht. "Die Tage irregulärer Einwanderung sind vorüber", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk nach dem EU-Türkei-Gipfel. Oder wie es im Abschlussdokument heißt: "Bei den irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkanroute ist nun das Ende erreicht." Sie enden in der Kälte, im Schlamm, im Regen - in Idomeni.
Griechenland wird zum Flüchtlingslager Europas. In diesem Land in Not werden bereits jetzt täglich zehntausende Flüchtende versorgt; wenn die Grenzen dicht bleiben, wird die Zahl bald auf Hunderttausend steigen. Ohne die außerordentliche solidarische Unterstützung der Bevölkerung und der Kommunen wäre die menschenwürdige Aufnahme der Geflüchteten nicht möglich.
Griechenlands Solidaritätsministerin Theano Fotiou hat die Beteiligung der Bevölkerung mit dem Widerstand gegen die Nazis verglichen: „Europa scheint das erste Mal nach dem Krieg seine Werte zu vergessen, Griechenland aber ist verpflichtet, eine doppelte soziale Krise zu bewältigen, ohne die Betroffenen gegeneinander auszuspielen“. Und Giorgos Chondros von SYRIZA ergänzt: "In erster Linie müssen Menschen aus dem Meer gerettet werden. Punkt. Heute noch, jeden Tag und jede Nacht, bei jedem Wetter. Die Inselbewohner und die Behörden haben über 104.000 in akute Lebensgefahr Geratene aus dem Meer gerettet – allein im Jahr 2015. NGOs und internationale Helfer spielten dabei auch eine wichtige Rolle. Aber ohne die wirklich großartige solidarische Hilfe der griechischen Bevölkerung hätte diese Herausforderung nicht gemeistert werden können. Und diese gilt bis heute in ganz Griechenland."
Dieser Gipfel war möglicherweise die letzte Möglichkeit, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern und die Option für ein besseres Europa aufrecht zu erhalten.
Aber auch wenn die Regierenden vor der humanitären Herausforderung versagen, setzen sich Hunderttausende für Geflüchtete ein, helfen spontan, organisieren sich in Initiativen, bieten Unterkunft, Sprachkurse und vieles mehr, tragen Spenden zusammen und gehen für die Rechte von Geflüchteten und für das Asylrecht auf die Straße. Und das im Zeitalter des "Jeder ist sich selbst der Nächste“.
Mit diesen Menschen entsteht die Kraft für eine "europäische Lösung": Von einer gemeinsamen Seenotrettung über die Schaffung sicherer Fluchtrouten bis hin zu einem solidarischen Verteilungsmechanismus und der Verteidigung des individuellen Asylrechts.
In die Mauer der Schande und der Intoleranz schlagen sie eine Bresche der Humanität und der Solidarität!