27.11.2015: Das nachfolgende Interview kann unsere Kenntnis über einige Aspekte der derzeitigen Auseinandersetzungen in Syrien erweitern – ohne sich mit allen darin geäußerten Standpunkten voll zu identifizieren. Es wurde mit einem der Vorsitzenden der kurdischen „Partei der Demokratischen Union“ (PYD), Salih Muslim Mohamed, anlässlich dessen Aufenthalts in Paris geführt und am 19. November von der französischen kommunistischen Tageszeitung „Humanité“ veröffentlicht.
Die 2003 gegründete Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitiya Demokrat – PYD) ist die Hauptkraft des politischen und militärischen Widerstands in den selbstverwalteten kurdischen Gebieten im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei in der Provinz Rojava und rund um die Stadt Kobané. Sie wird im Westen als der PKK nahestehend oder gar auf Initiative der PKK gegründet bezeichnet. Die PYD ist Mitglied der „innersyrischen demokratischen Opposition“ gegen Präsident Assad, die sich im „Nationalen Koordinierungskomitee für Demokratischen Wandel“ zusammengeschlossen hat. Sie organisierte nach dem Abzug der syrischen Armee aus den Kurdengebieten im Sommer 2012 in den von ihr beherrschten Gebieten lokale Räte und Selbstverteidigungseinheiten, die heute einen intensiven Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) führt, die in Teilen Syriens und des Irak ein beträchtliches Territorium mit reichhaltigen Ölquellen unter ihre Kontrolle gebracht hat.
Frage: Hat das Eingreifen Frankreichs und dann Russlands die Gegebenheiten auf militärischem Gebiet verändert?
Salih Muslim Mohamed: Vor allem anderen will ich im Namen der kurdischen Partei der Demokratischen Union meine Solidarität mit dem Volk Frankreichs und seiner Regierung ausdrücken. Und wenn ich „Frankreich“ sage, denke ich an die Wiege der Menschenrechte. Das Volk Frankreichs hat immer gekämpft, um seine grundlegenden Rechte zu verteidigen, und ich will den Franzosen sagen, das die Kurden von Rojava (Syrisch-Kurdistan), dass wir im gleichen Schützengraben, an der gleichen Front wie ihr stehen, und dass unser Kampf im Namen der gleichen humanistischen Werte geführt wird. Ich weiß auch, dass die Terroristen sich schwer täuschen, denn Frankreich ist ein großes Land, eine Großmacht, die auf ihre Herausforderung zu antworten wissen wird. Und die demokratischen Kräfte der ganzen Welt haben reagiert.
Dieses Jahr hat Paris zwei schreckliche Anschläge gegen Zivilpersonen erlebt. Am 7. Januar gegen Charlie Hebdo und die Attentate vom vergangenen Freitag. Zwischen diesen beiden Daten hat es bei uns, in Kobané, nachdem wir die Stadt im Januar befreit hatten, ein unter ähnlichen Umständen verübtes Massaker gegeben mit 252 kurdischen Zivilisten, die ihr Leben verloren haben. Alle diese Massaker sind von Daesh (arab. Abkürzung für „IS“) verübt worden, von Barbaren, die die Schönheit des Lebens mit Füßen treten.
Aber ich bin nicht nach Paris gekommen, um nur meine Trauer auszudrücken. Ich bin auch hierhergekommen, um euch zu sagen: Wir werden die Opfer der in der letzten Woche in Paris begangenen Attentate rächen.
Denn vor Ort rücken unsere militärischen Kräfte der YPG/YPJ (Einheiten zum Schutz des Volkes/Einheiten zum Schutz der Frauen) weiter vor. Im Irak ist Sindschar befreit worden. In Syrien ist Hassaka befreit worden. Kobané ist befreit worden. Rakka, wo sich das Nervenzentrum von Dash befindet, wird befreit werden – und wir sind entschlossen, diesen Kampf fortzusetzen, bis der letzte von diesen Barbaren von der Erdoberfläche verschwunden ist.
Sicherlich, das russische und französische Eingreifen hat Folgen gehabt. Das Eintreten Russlands in das Spiel hat seine Wirkungen gehabt, selbst wenn seine Schläge nicht in Regionen erfolgt sind, die uns betreffen. Das hat den Druck gelockert und die Verteilung der Kräfte des „Islamischen Staates“ in Syrien desorganisiert und die Verbindungen zwischen seinen Streitkräften durchgeschnitten. Auf dem eigentlichen Schlachtfeld hat sich dies seit einer Woche mit spektakulären Siegen ausgezahlt. Unser Töchter und Jungen haben mit dem Tod von ungefähr 500 Dschihadisten und der Befreiung von hunderten Dörfern im Süden und Südosten der Provinz Hassaka bemerkenswerte Ergebnisse erreicht. Zur Stunde sind wir im Kampf, und unsere Kämpfer greifen die Stadt Molebié im Süden von Hassaka an.
Frage: Ist die Anwendung von Gewalt heute die richtige Lösung, um gegen den IS zu kämpfen?
Salih Muslim Mohamed: Die Wahrheit ist einfach. Wenn Sie jede Versorgungsbrücke mit Daesh abschneiden, ist der Krieg in einer Woche beendet. Wenn ich von Versorgung spreche, meine ich das Öl, aber auch die Waffen und das andere Material. Leider spielen manche Mächte in der Region ein doppeltes Spiel. Leute mit der rückständigsten Mentalität der Welt haben ultramoderne Waffen und Technologien in ihren Händen. Einige dieser Mächte liefern Waffen an diese Barbaren. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass ein Mitglied der saudischen Königsfamilie kürzlich 40 000 nagelneue Toyotas an die Kämpfer der Daesh liefern ließ, aber auch zu ihren Verbündeten von der Al-Nusra-Front oder Ahrar-al-Scham nahe Idlib und Aleppo. Wir, die Kurden, verfügen vielleicht nicht über so viele Mittel, aber wir respektieren unsere Verpflichtungen. Wir müssen diese obskuren Kräfte entlarven, und man muss sie eines Tages vor ein internationales Tribunal stellen.
Frage: Können die Kräfte von YPG/YPJ und heute die Gesamtheit der Demokratischen Kräfte Syriens (FDS), in denen Kurden und Araber vereint sind, eine Rolle der Aufklärung für Frankreich und die Alliierten spielen?
Salih Muslim Mohamed: Daesh ist eine sehr organisierte Struktur. Die Befehle kommen mit Sicherheit aus Syrien. Ihre Kommandozentralen müssen also zerstört werden. Ich schließe mich da der Analyse des französischen Präsidenten an. François Hollande hat auch hinzugefügt, dass sein Land im Kriegszustand sei. Ich sage es dem Präsidenten ganz einfach: da wir selbst im Krieg sind, und zwar seit langem, gegen diesen gemeinsamen Feind, sind wir mehr denn je Verbündete, und, wie wir es schon mit der Schlacht um Kobané bewiesen haben, wirkungsvolle Verbündete.
Wenn Paris das will, können wir unsere Informationsnetze zur Verfügung stellen. Wir machen Gefangene, die sich in Zeugen und sehr wertvolle Informationsquellen für die Alliierten in ihrem Kampf gegen den Terrorismus verwandeln können. Aber dafür müssten die Beziehungen zwischen den alliierten Streitkräften und den Kämpfern vor Ort stärker werden. Es ist mehr Koordinierung und Hilfe nötig. Denn wir zahlen einen hohen Preis. Seit zwei Jahren haben wir tausende Frauen und Männer verloren, wir opfern unsere Jugend.
Frage: Welche Art von Hilfe erbitten Sie?
Salih Muslim Mohamed: Waffen, dafür ist immer Bedarf. Leute nicht. Wir haben genügend Kämpferinnen und Kämpfer vor Ort. Seit unserer Allianz mit den weltlichen arabischen Kräften und den aus den turkmenischen und assyrisch-aramäischen Minderheiten der Region hervorgegangenen Bataillonen sind wir noch stärker geworden und vereint. Was uns hingegen mangelt, sind Medikamente und medizinische Versorgung.
In Paris sind viele junge Menschen bei diesem Attentat verletzt worden. Sie wurden von einem öffentlichen Gesundheitssystem von hoher Qualität in Behandlung genommen. In Rojava werden tausende junger Kämpfer verwundet. Leider kann sich heute keine Macht rühmen, auch nur einen einzigen unserer Kämpfer und Kämpferinnen aufgenommen zu haben, um sie zu pflegen. Verdienen es unsere Verwundeten nicht, behandelt zu werden?
Die Türkei zwingt uns ein Embargo auf, das sich auch auf die Grenze auswirkt, die uns vom irakischen Kurdistan trennt. Das ist die Realität heute. Es gibt privilegierte wirtschaftliche Beziehungen zwischen der Türkei und Süd-Kurdistan (im Irak, Anm.), und noch genauer, mit der Region, die von der Demokratischen Partei Kurdistans von Massud Barzani beherrscht wird. Das hat zur Folge, dass Ankara uns gegenüber ein Embargo verhängt hat, das auch Rückwirkungen auf unsere Grenze mit dem Irak hat, wo nur eine kleine Brücke etwas Transit ermöglicht. Dieser Tage konnten Sie mit Medikamenten gefüllte Lkws sehen, die auf der anderen Seite der Grenze blockiert waren.
Ich frage Sie: wie kann ein Land und eine Region im Krieg gegen den Terrorismus, die wegen eines von einer benachbarten Großmacht, einem Mitglied der G 20, verhängten Embargos ihre Verwundeten nicht wegbringen noch Medikamente heranbringen kann – wie kann dieses Land hoffen, seinen Kampf gegen die Dschihadisten fortsetzen zu können? Wir haben Kämpfer, die manchmal bis zu sechsmal verwundet worden sind. Jedes Mal haben sie die Waffen gegen die Terroristen wieder aufgenommen. Aber Mut allein reicht nicht immer aus.
Auch verlange ich von Frankreich und von jedem, der es hören will, feierlich: die Staaten, die den IS wirklich bekämpfen wollen und den Kampf mit uns führen wollen, müssen Druck ausüben, um dieses Embargo platzen zu lassen, das alle Bereiche betrifft: Notfallversorgung, Medikamente, aber auch Nahrung.
In Frankreich, in Europa wird viel vom Flüchtlingsproblem gesprochen. Die Kurden, die Bewohner Syriens, wir wollen unser Land nicht verlassen. Aber aufgrund des Embargos gibt es ein echtes Hunger-Risiko. Wir wollen auch nicht, dass unser Volk eine solche Situation erleiden muss. Ich sage und wiederhole es: das Doppelspiel einiger Mächte muss aufhören – wie es übrigens Wladimir Putin bei den G 20 gesagt hat.
Frage: Werden beim Prozess von Wien für einen demokratischen Übergang in Syrien Rojava und seine in der Region einzigartigen politischen Besonderheiten in Betracht gezogen werden?
Salih Muslim Mohamed: Wir kämpfen für eine radikal demokratische Gesellschaft. Das heißt, wo die Gleichheit Realität wird. Gleichheit bedeutet die Berücksichtigung der Minderheiten, aber auch Gleichheit zwischen Männern und Frauen. Dafür war der Kampf von Kobané ein Symbol.
Sie wollen ein Kalifat – sie, das heißt Daesh und die Gesamtheit ihrer islamistischen Verbündeten. Wir wollen ein weltliches Regime durchsetzen. Deshalb wollen wir die Terroristen besiegen, denn sie haben weder eine Zukunft noch ein echtes Projekt. Deshalb beobachten wir jenen „Fahrplan“ (von Wien, Anm.) mit Reserve, besonders den Artikel 1, der es unterlässt, die Schaffung eines föderalen demokratischen Systems auf dem gesamten Territorium festzuschreiben. Ich erinnere daran, dass Sergej Lawrow, der russische Außenminister, vor einigen Monaten die Hypothese einer Autonomie unserer Region im Rahmen eines notwendigen politischen Übergangs vorgebracht hat, der sich mit oder ohne Bachar Al Assad vollziehen wird. Für uns jedenfalls darf die Zukunft Syriens nicht mit der Zukunft eines einzigen Mannes verknüpft werden.
Übersetzung: Georg Polikeit Foto: wikipedia