04.06.2015: Die Präsidentin des griechischen Parlaments, Zoe Konstantopoulou, nahm an dem am 30./31. Mai in Paris veranstalteten „Europäischen Forum der Alternativen“ teil, das von der „Europäischen Linkspartei“ (ELP) im Zusammenwirken mit den französischen Linkskräften anlässlich des 10. Jahrestages des Sieges der „Nein“ in Frankreich bei der Volksabstimmung über den beabsichtigten EU-„Verfassungsvertrag“ veranstaltet worden war. Die kommunistische „Humanité“ hatte die Anwesenheit von Zoe Konstantopoulou in Paris genutzt, um ein ausführliches Gespräch mit ihr aufzuzeichnen.
Insgesamt haben an den verschiedenen Diskussionsveranstaltungen dieses Forums rund 5000 Personen teilgenommen, darunter die Vertreter von 18 Gewerkschaften, unter anderem der stellvertretende Generalsekretär des belgischen Allgemeinen Gewerkschaftsbundes FGTB, sowie von 80 Vereinigungen der Zivilgesellschaft aus nahezu allen EU-Staaten. Aus Frankreich waren neben Spitzen der Kommunistischen Partei (PCF-Nationalsekretär Pierre Laurent PCF) der französischen Linkspartei (Jean-Luc Melenchon) und über des Spektrum der bisherigen „Linksfront“ hinaus auch führende Vertreter der Grünen (EELV-Nationalsekretärin Emmanuelle Cosse) sowie des linken Flügels der regierenden „Sozialistischen Partei“ (PS-Senatorin Marie-Noelle Lienemann u.a.) an den Diskussionen beteiligt.
Frage: Was ist der Sinn der vom griechischen Parlament unlängst ergriffenen Initiative zur Bildung einer Kommission für den Schulden-Audit (Schulden-Überprüfung)?
Zoe Konstantopoulou: Das griechische Volk und alle Völker Europas haben das Recht zu wissen, woraus diese öffentliche Verschuldung besteht, die gegen sie wie ein Mittel der Erpressung und Unterwerfung benutzt wird.
Seit mehreren Jahrzehnten beruhte die Wirtschaftspolitik in Griechenland auf Anleihen, die häufig die Netze der Korruption genährt haben. Während der letzten fünf Jahre hat das Memorandum ein ganzes Arsenal von antidemokratischen Techniken durchgesetzt, die die Verfassung verletzten, um diese Verschuldung auf die Schultern des griechischen Volkes abzuwälzen. Diese politischen Maßnahmen wurden durchgesetzt durch Regierungsdekrete, durch Gesetze von dreihundert, vierhundert oder achthundert Seiten, aus einem, zwei oder höchstens drei Artikeln bestehend, im Eilverfahren diskutiert und abgestimmt aufgrund von Dringlichkeitsprozeduren, die den Abgeordneten nicht die Möglichkeit und das Recht gaben, diese Texte zu lesen, um sich mit Sachkenntnis und gewissenhaft dazu zu äußern.
Manche dieser Gesetze hatten eine haushaltspolitische Auswirkung, andere nicht. Aber alle hatten einen dramatischen sozialen und humanen Effekt. Wir haben in Griechenland eine schwere humanitäre Krise erlebt, die die Bevölkerung in eine Situation bisher nicht dagewesener und für ein europäisches Land undenkbarer sozialer Not gestürzt hat. Das Lebensniveau ist buchstäblich zusammengebrochen, die Demokratie wurde vergewaltigt. Für einen großen Teil hat sich die den Griechen von der Europäischen Kommission, dem IWF und der Europäischen Zentralbank unter dem Vorwand der Förderung „struktureller Reformen“ aufgezwungene Gesetzgebung umgesetzt in die Zerstörung von öffentlichen Einrichtungen, tarifvertraglichen Garantien und sozialen Rechten. Diese Politik hat das soziale Netz zerrissen. All dies malt ein sehr schwarzes Bild in Verbindung mit der sogenannten öffentlichen Verschuldung, einer Verschuldung, die sich in ihrem größten Teil als illegitim, illegal, niederträchtig und unhaltbar erweist.
Frage: Sie wollten dieser Audit-Kommission eine Dimension von Bürgerbeteiligung geben. Welche Form hat diese Beteiligung der Bevölkerung?
Zoe Konstantopoulou: Es muss gesagt werden, dass der Schulden-Audit eine europäische Pflicht ist. Eine Regelung von 2013 zwingt alle unter ein sogenanntes Beistandsprogramm gestellte Staaten zu einem Audit ihrer Verschuldung. Doch all jene, die den ganzen Tag lang von den internationalen Verpflichtungen der griechischen Regierung reden, ignorieren absichtlich diese Verpflichtung.
Aber dieser Audit ist nicht nur eine Verpflichtung für den Staat. Er ist ein elementares, grundlegendes Recht des griechischen Volkes, das wissen muss, woraus diese Verschuldung besteht. Wer ist sie vertraglich eingegangen? Durch welche Abkommen? Nach welcher Methode, mit welchen Mechanismen? Woraus ergeben sich die verschiedenen Zinsraten? Warum waren die Zinsraten für Griechenland höher als für andere Staaten Europas? Warum sind so viele Anleihen vereinbart worden? Zu welchen Korruptionsvereinbarungen haben diese Anleihen Anlass gegeben? Welcher Prozentsatz dieser Verschuldung ist wirklich in für das griechische Volk nützliche öffentliche Ausgaben geflossen?
Der Audit der griechischen Verschuldung ist - man muss daran erinnern - keine Idee aus der Welt der Politik oder der Präsidentin des griechischen Parlaments. Er kommt aus der Zivilgesellschaft. Es gab 2011 eine sehr wichtige Initiative mit der Bildung eines Komitees für einen Bürger-Audit der griechischen Verschuldung. Deshalb habe ich bei der Bildung dieser parlamentarischen Kommission die Mitglieder dieser Initiative eingeladen daran teilzunehmen, Die meisten Sitzungen sind offen und öffentlich, übertragen vom Parlamentsfernsehen.
Frage: Muss diese Verschuldung zurückgezahlt werden, wenn sie, wie Sie eben sagten, zu großen Teilen illegitim, illegal und schändlich ist?
Zoe Konstantopoulou: Wir haben jetzt Indizien und sehr deutliche Elemente, die es uns ermöglichen zu bestätigen, dass ein großer Teil dieser Verschuldung nicht legitim ist. Aber wir müssen die Arbeit an diesem Audit erst zu Ende führen, um exakt den schändlichen, illegitimen, illegalen und unhaltbaren Anteil bestimmen zu können. Die Konsequenz ist, dass jede der in den Prozess des Abschlusses dieser Anleiheabkommen einbezogenen Seiten ihre Verantwortung wird übernehmen müssen. Wir werden klar sagen müssen, was wir zu dieser Verschuldung vorschlagen, die keine vom griechischen Volk eingegangene Verschuldung ist. Jedes Kind, das heute in Griechenland zur Welt kommt, ist schon in Höhe von 32 500 Euro verschuldet. Es kommt nicht in Frage, vor dieser Wahrheit die Augen zu verschließen. Wenn wir die endgültigen Ergebnisse dieses Audits haben, wird sich selbstverständlich die Frage stellen, die Annullierung, die Streichung dieser nicht aufrecht zu haltenden Verschuldung zu fordern.
Frage: Als Sie an die Spitze der Voila, des griechischen Parlaments, kamen, haben Sie sich an ihre Vorgänger mit dieser Warnung gewandt: „Diese Kammer wird nicht mehr die Waschmaschine Ihrer Korruption sein“. Wie führen Sie diesen Kampf gegen die Korruption und für Transparenz?
Zoe Konstantopoulou: Das ist eine Schlacht. In ihr stehen das griechische Volk, seine Hoffnungen, sein Wille zu Transparenz, Integrität und Wahrheit den Kräften der Korruption gegenüber, die über furchtbare Waffen verfügen. Zum Beispiel die großen Medien, die das Memorandum-Regime unterstützt haben, die prosperierten, als das Volk litt, und die noch immer sehr enge Beziehungen mit den zwei Parteien der ehemaligen griechischen Koalitionsregierung unterhalten, der Neu Demokratie und der Pasko.
Frage: Inwiefern sind die von der Regierung Alexis Spiras im Parlament vorgelegten Gesetze, wie Sie es genannt haben, Gesetze der „sozialen und demokratischen Absicherung“?
Zoe Konstantopoulou: Das allererste von der parlamentarischen Mehrheit verabschiedete Gesetz enthält zwei Säulen. Die eine besteht in Dringlichkeitsmaßnahmen, um den verletzlichsten, am meisten von der Krise getroffenen sozialen Schichten zu helfen, sich gegen das humanitäre Desaster zu verteidigen. Der andere Teil dieses Gesetzes sieht eine Staatsreform mit einem umfassenden Plan des Kampfes gegen die Korruption vor. Das zweite verabschiedete Gesetz gestattet es den gegenüber dem Staat verschuldeten Bürgern und Unternehmen, ihre Steuerrückstände schrittweise zu begleichen, ohne die wirtschaftliche Aktivität negativ zu belasten. Sodann haben wir das Gesetz zur Wiedereröffnung der ERT angenommen, des griechischen öffentlichen Rundfunks und Fernsehens, die 2013 von der Regierung Samaras außerhalb jeder demokratischen Prozedur brutal geschlossen worden waren. Wir haben auch ein Reformgesetz des Bildungssystems und ein Gesetz zur Demokratisierung des öffentlichen Sektors beschlossen, das es zahlreichen auf Befehl der Troika entlassenden Staatsbediensteten ermöglicht, ihre Stellen wieder einzunehmen und die Arbeit wieder aufzunehmen.
Frage: Diese ersten Entscheidungen, die dem Programm von Strazza entsprechen, stehen im Zentrum der Kritik der europäischen Institutionen und der Staats- und Regierungschefs der EU. Stößt sich die konkrete Umsetzung dieser Gesetze heute am Fehlen eines Abkommens zwischen Athen und seinen Gläubigern?
Zoe Konstantopoulou: Die griechische Regierung ist entschlossen, solche Maßnahmen nicht nur beschließen zu lassen, sondern sie auch zur Anwendung zu bringen. Niemand hat das Recht, dieser Gesetzgebung einer minimalen sozialen Absicherung Hindernisse entgegenzustellen. Wir sind noch nicht dabei, unser Programm zu verwirklichen, aber diese soziale Grundabsicherung für das griechische Volk wiederherzustellen. Das sind die ersten Schritte, und ich versichere Ihnen, dass wir vorankommen werden. Wir sind entschlossen, die gesamte Wegstrecke zu bewältigen, um das Mandat zu erfüllen, das uns das griechische Volk anvertraut hat.
Frage: Sie haben vor den Wahlen ein Schwarzbuch veröffentlicht, das den Taiped, die mit der Liquidierung der Aktien des griechischen Staates beauftragte Institution (Anm.: Taiped = „Anlageentwicklungsfond der Griechischen Republik“, der Rolle der „Treuhand“ bei der Liquidierung der DDR vergleichbar) scharf kritisierte, die alles zum Verkauf gestellt hat, selbst die Strände verramschend. Was wird aus diesem Rundum-Privatisierungsbüro?
Zoe Konstantopoulou: Dieses Schwarzbuch, das in der Tat auch ein Kapitel über den Taiped enthält, war der Korruption in Griechenland gewidmet. Ich analysiere darin alle heimlich in Nachtsitzungen von einem leeren Parlament in das Gesetz eingefügte Vorschriften, um die Straflosigkeit und Amnestierung der Akteure der Korruption großen Ausmaßes und der Banditen großen Stils zu sichern, die die Urheber von Wirtschaftsverbrechen sind.
Der Plan der Regierung sieht die Übernahme der Taiped durch eine „Kasse des öffentlichen Erbes“ vor, deren Auftrag nicht auf mehr Privatisierungen, sondern auf eine soziale Verwendung des öffentlichen Eigentums orientiert sein wird. Soweit sind wir noch nicht. Wir warten im Augenblick auf den Entwurf des Finanzministeriums. Wir warten sehr ungeduldig darauf. Bei der Ernennung der Taiped-Direktion haben die Abgeordneten wie die Vertreter der Regierung sehr klar bekräftigt, dass diese Struktur nicht weiter nach den Kriterien vorgehen kann, die bisher vorherrschten.
Frage: Sie erwähnten eine Absicht, Griechenland unter einer „kolonialen Vorherrschaft“ zu halten. Was verstehen Sie darunter?
Zoe Konstantopoulou: Das Regime der Troika wies eine ganze Reihe von kolonialen, antidemokratischen Charakteristika auf, entgegen den internationalen Normen in Sachen Schutz der Menschenrechte, die nationale und Volkssouveränität missachtend.
Frage: Eine Strategie der Erstickung hat sich seit dem Machtantritt von Syriza mit dem finanziellen Staatsstreich der Europäischen Zentralbank entwickelt, die eine Refinanzierungsquelle der griechischen Banken verschloss. Ein unglaublicher Druck wird auf die Regierung Tsipras ausgeübt, um Syriza zu zwingen, ihren Wahlverpflichtungen den Rücken zu kehren. Zielt diese Strategie Ihrer Meinung nach darauf ab, die Ausweitung der Bewegung gegen die Sparzwangpolitik in Europa einzudämmen?
Zoe Konstantopoulou: Das ist eine Strategie des ökonomischen Totalitarismus und zugleich eine Offensive gegen die demokratischen Gefühle in Europa. Diese Strategie wird scheitern, denn sie stößt auf die Entschlossenheit der Regierung und des Parlaments, aber vor allem auf die Entschlossenheit des griechischen Volkes und der Völker Europas.
Humanité, 3.6.2015
Übersetzung: Georg Polikeit
Foto: wikimedia
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