27.03.2014: Setzt man sich an seinen Laptop, um einen Artikel zu den am kommenden Sonntag in der Türkei stattfinden Kommunalwahlen zu schreiben, hat man es schwer. Wie ist die Situation in einem Land zu beschreiben, in dem sich seit Monaten die Ereignisse überschlagen und jeder Morgen mit einem neuen Skandal beginnt. Einem Land in dem der 15-jährige Berkin Elvan nach 286 Tagen im Koma seinen von Polizisten bei den Gezi-Protesten verursachten Verletzungen erliegt, in dem Ministerpräsident Erdogan fast wöchentlich durch veröffentlichte Telefonmitschnitte der Korruption überführt wird und der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der nationalistisch-sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei) im Wahlkampf auch schon mal den faschistischen Gruß der Grauen Wölfe zeigt, um Wählerstimmen zu gewinnen.
Erdogan und AKP in der Krise
Erdogan und seine AKP kämpfen um ihre Existenz. Nach dem offenen Bruch Ende letzten Jahres mit Fethullah Gülen, Führer der islamischen Gülen-Sekte mit Sitz in den USA, ist der AKP ein wichtiger Teil ihrer Basis abhanden gekommen. Die US-Soziologin Helen Rose Ebaugh schätzt, dass der Einfluss der Sekte ungefähr ein Drittel der bisherigen Stimmen der AKP ausgemacht hat. Und spätestens mit der Veröffentlichung von Telefongesprächen des Ministerpräsidenten, die Korruption sehr nahe legen, ist auch die weiße Weste der Regierung bei denjenigen Teilen des Volkes, die sich bisher nicht zur Opposition gerechnet hatten, nicht mehr ganz so rein.
Auch wenn es bei den Wahlen am Sonntag noch in einigen Städten im Westen der Türkei zu knappen Mehrheiten reichen dürfte, ist die Hegemonie der AKP gebrochen. Das Verbot und Abschalten von Twitter am vergangenen Donnerstag Abend ist dabei ein weiteres Zeichen der Hilflosigkeit einer Regierung, deren Zusammenbruch oder komplette Umstrukturierung immer näher rückt. Nun müssen drastische Mittel des Zwangs zur Aufrechterhaltung der Herrschaft angewendet werden, die früher noch durch einen breiten Konsens getragen wurde. Der Gezi-Aufstand war dabei der Beginn des Bruchs der Hegemonie der AKP-Regierung.
Allein bei der Beerdigung von Berkin Elvan am 12. März diesen Jahres waren 2 Millionen Menschen auf der Strasse um gegen die Regierung zu protestieren. Das dabei einige Kapitalfraktionen der USA (und auch der EU) mit Hilfe der Gülen-Sekte (1) nun auf den etwas moderater auftretenden bisherigen Staatspräsidenten Abdullah Gül setzen, dürfte den Niedergang Erdogans noch beschleunigen, für die Bevölkerung aber verändert dies nichts. Klar ist: Die AKP wird nur als Regierungspartei existieren, kommt sie in die Opposition, wird sie zerfallen.
Sozialdemokratische CHP setzt auf Nationalismus
Doch die größte Oppositionspartei CHP bietet ebenfalls keine wählbare Alternative an. Anstatt eine Öffnung für verloren gegangene sozialdemokratische Wähler zu betreiben und in großen Städten wie Istanbul ein gleichberechtigtes Bündnis mit der HDP (Demokratische Partei der Völker, siehe unten) einzugehen, setzt sie auf die der AKP verloren gegangenen, Gülen-Gefolgsleute und plumpen Nationalismus. In Istanbul nominierte die angeblich für Säkularität eintretende Partei mit Mustafa Sarigül einen durch und durch korrupten und egomanischen Politiker mit engsten Verbindungen ausgerechnet zur Gülen-Sekte. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP, verstieg sich gar zu der Behauptung, dass CHP-Wählen "halal" sei, also im Einklang mit den islamischen Glaubensregeln. Eine andere Partei, insbesondere die AKP, zu wählen sei aufgrund der Korruptionsfälle "haram", also Sünde. Insgesamt dient der auf Anti-Korrpution ausgerichtete Wahlkampf der CHP dazu, die Aufmerksamkeit von weitergehenden emanzipatorischen Forderungen abzulenken.
In Ankara stellt die CHP Mansur Yavas als Bürgermeisterkandidaten auf, der zwischen 1999 und 2013 Mitglied der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung, rechtsradikale Partei) und für diese Partei Bürgermeister des Stadtteils Beypazari in der Hauptstadt war. Höhepunkt dieser weiteren Öffnung nach rechts, war das Zeigen des Faschistengrusses von Kilicdaroglu bei einer Wahlkampfstadtroundfahrt in Ankara (2).
Auch wenn sich der Nationalismus der CHP von dem der MHP oftmals nur in Nuancen unterscheidet, ist es perfide, dass ausgerechnet der Parteivorsitzende diesen Gruß zeigt. Kilicdaroglu ist alewitischer Kurde. Diese wurden in den 70er und 80er Jahren von den 'Graue Wölfe' genannten türkischen Faschisten zu Hunderten umgebracht.
Die MHP mobilisiert ihre Anhänger und Wähler mit einem völkischen Nationalismus und einem Wahlkampf der gegen den türkisch-kurdischen Friedensprozess gerichtet ist. Damit scheint sie erfolgreich zu sein, denn viele Wahlprognosen sehen sie gestärkt bei knapp unter 20% der Stimmen. Dass natürlich auch die AKP im Wahlkampf auf Nationalismus setzt, in dem der Einzelne nichts, die Volksgemeinschaft alles ist, zeigt ein Wahlvideo, das mittlerweile von der Wahlbehörde verboten wurde (3).
Kurdische Linke im Aufwind
Währenddessen steht die linke kurdische Partei BDP (Partei für Frieden und Demokratie) im kurdischen Teil der Türkei vor haushohen Gewinnen. Die Hegemonie, die die AKP gerade am verlieren ist, hat die BDP in den kurdischen Teilen der Türkei schon lange inne. In sämtlichen großen kurdischen Städten sehen die Vorhersagen entweder einen Gewinn von teilweise weit über 50% der Stimmen oder zumindest einen beträchtlichen Zuwachs voraus. In Urfa, traditionell eine sehr religiöse Gegend nahe der syrischen Grenze, dürfte die BDP mit ihrem Spitzenkandidaten Osman Baydemir, bisheriger Bürgermeister von Diyabakir, zum ersten Mal die Mehrheit der Stimmen gewinnen. In Diyarbakir selbst kandidiert mit Gülten Kisanak die bisherige Parlamentarierin und BDP-Co-Vorsitzende zum höchsten Amt der Stadt. Ein Stimmenanteil zwischen 60-70% dürfte ihr sicher sein.
Als Provokation wertet der türkische Staat die Ankündigung der BDP, dass alle gewonnen Bürgermeisterwahlen mit einer Doppelspitze aus jeweils einem Mann und einer Frau besetzt werden sollen, ein Vorgang der im türkischen Wahlsystem gar nicht vorhergesehen ist. Insgesamt ist der Frauenanteil auf den Wahllisten der BDP mit 48% so hoch wie bei keiner anderen Partei, deren Anteile jeweils bei weit unter 10% liegen.
Auch die Ankündigung der BDP und der kurdischen Bewegung, insgesamt ein parallel zum Staat existierendes Rätesystem der "Demokratischen Autonomie" aufzubauen, dürfte die zentralistisch ausgerichteten Machthaber in Ankara beunruhigen. In den vergangenen Jahren wurden deswegen mehr als 10.000 Menschen unter dem Vorwurf festgenommen, im Auftrag der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans, in vielen Medien fälschlicherweise als PKK bezeichnet) Strukturen eines Rätesystems, außerhalb staatlicher Einrichtungen aufzubauen.
Das Ziel der kurdischen Bewegung ist es, durch kommunale Rätestrukturen der Bevölkerung maximale Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe zu ermöglichen. Es geht, kurz gesagt, um die Entstehung einer neuen Gesellschaft innerhalb der Alten. Der Kandidat für den Bürgermeisterposten in Diyarbakir Firat Anli (der als Mann zusammen mit Gülten Kisanak für die Bürgermeisterwahlen kandidiert) beschreibt am Beispiel für seine Stadt dieses System so:
"Es [gibt] beispielsweise im Stadtzentrum von Amed (4) 54, in der ganzen Provinz sogar 950 Stadtviertel. Wir wollen also in 950 Stadtvierteln Räte aufbauen. Und die Delegierten aus diesen 950 Räten kommen im Stadtrat zusammen. Außerdem auch die VertreterInnen der Frauenräte, der Jugendräte, der Kinderräte, der Behindertenräte und weiterer Räte, die je nach Bedürfnis und Interesse gegründet werden können. Im Stadtrat treffen also alle sich in Form von Räten organisierten Strukturen zusammen."
Mit den voraussichtlich hohen Stimmzuwächsen beweist die linke kurdische Bewegung, dass sie auch in Waffenstillstandszeiten ihren Einfluss erhöhen kann und der Krieg kein Selbstzweck ist. So war auch die Erklärung Abdullah Öcalans zu werten, die auf dem Newroz-Fest am vergangenen Freitag vor mehr als 2 Millionen Menschen in Diyarbakir verlesen wurde: Darin schreibt er: "Wir haben furchtlos Widerstand geleistet, wir werden auch den Frieden nicht fürchten. ... Entweder wird sich ein Regime der Putsche und Verschwörungen, gestützt auf die kapitalistische Moderne der letzten 200 Jahre, restaurieren und fortsetzen, oder die türkisch-kurdischen Beziehungen werden auf neuen Kurs gebracht und ein demokratisches Verfassungsregime wird durch umfassende demokratische Reformen die verschwörerischen und putschistischen Mechanismen zerschlagen. ... Der Frieden ist schwieriger als der Krieg, aber jeder Krieg hat seinen Frieden."(5)
Insgesamt ist der Friedensprozess in eine heikle Phase getreten, nachdem der türkische Staat keinen einzigen Schritt auf die kurdische Bewegung zugemacht hat und die KCK erklärt hat, dass die AKP-Regierung für sie kein legitimer Verhandlungspartner mehr seien.
Linkes Wahlbündnis im Westen der Türkei
Als einzige wählbare Alternative im Westen der Türkei tritt die Demokratische Partei der Völker, HDP an (6). Unter diesem Namen haben sich linke, sozialistische und kommunistische Kräfte zusammen mit der BDP dazu entschlossen unter dem zentralen Solgan "Die Stadt gehört uns" zu kandidieren. Dabei zieht das Bündnis aus türkischer Linken und kurdischer Bewegung den Hass vieler türkischen Nationalisten auf sich. In zahlreichen Städten wurden die Parteibüros der HDP in pogromartigen Überfällen zerstört und Aktivisten teils lebensgefährlich verletzt (7).
Ziel der HDP ist es, alle vom System ausgeschlossenen und marginalisierten Menschen zu vereinen. In ihrem Wahlprogramm schreibt sie: "Die gesamte Menschheitsgeschichte ist zugleich auch die Geschichte des Kampfes um Gleichberechtigung, Freiheit und Gerechtigkeit. ... Auch heute werden diese Kämpfe geführt. In der heutigen Welt ist die Bedeutung eines gesellschaftlich breit geführten Kampfes gegen die rassistischen, nationalistischen, militaristischen, sexistischen, reaktionären und neoliberalen Kräfte von großer Bedeutung. Der Wunsch nach einer freien, gleichberechtigten, menschlichen und gerechten Welt, in der keine Unterschiede zwischen Sprache, Religion, Farbe, Nationalität und Geschlecht gemacht werden, in der kein Mensch der Untertan eines anderen Menschen ist, in der es keine Unterdrückung und Ausbeutung gibt, in der es keine Kriege und Unterdrücker-Unterdrückten Verhältnisse gibt, ist in unserer Gegenwart überall präsent."
In Istanbul werden für die beiden HDP-BürgermeisterkandidatInnen Sirri Süreyya Önder und Pinar Aydinlar mehr als zehn Prozent der Stimmen vorhergesagt, eine kleine Sensation in der 16-Millionen Metropole. Dabei ist wichtig zu sehen, dass jede Stimme für die HDP keine verlorene Stimme ist, sondern Ausdruck gegen das derzeitige neoliberal-kapitalistische System an sich. Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad schreibt dazu in einer Analyse: "Primäres Ziel der HDP ist es nich,t möglichst viele Bürgermeisterposten zu ergattern oder bei den nächsten Parlamentswahlen zahlreiche Abgeordnete in das türkische Parlament zu entsenden. Erfolge jener Sorte wären lediglich taktischer Natur, um das eigentliche Ziel effektiver zu verfolgen. Und dieses Ziel lautet eine breite kommunale und demokratische Selbstverwaltung der Bevölkerung zu organisieren. Der Grundsatz lautet, dass der Erfolg der Demokratie aus der kommunalen Ebene heraus erreicht werden kann. Mit der Selbstorganisierung der Bevölkerung bis in die Stadtviertel hinein ohne Unterschiede zwischen den sozialen Identitäten der Menschen zu machen, sondern die Vielfalt als Reichtum betrachtend, sollen die Menschen auf direktdemokratischem Wege selbst über sich entscheiden können."(8)
Die Türkische Kommunistische Partei (TKP) hält sich, wie auch in den Jahren davor, aus diesen Bündnisaktivitäten heraus und setzt auf eine 'Linksfront', die aber in der Öffentlichkeit und im Wahlkampf so gut wie keine Rolle spielt. Die 'Linksfront' besteht zu großen Teilen aus der TKP und einigen linken Persönlichkeiten. In Ankara gibt es einen gemeinsamen Oberbürgermeisterkandidaten von TKP, ÖDP und Halk Evleri, einer eher linkssozialdemokratischen Organisation. Der TKP-Spitzenkandidat für Istanbul, Aydemir Güler, behauptete in einer Fernsehsendung am 13. März sogar, dass HDP und BDP kein linkes Projekt, sondern Ausdruck eines "kurdischen Nationalismus" seien; eine Bezeichnung, derer sich oft der türkische Nationalismus bedient, um die kurdische Freiheitsbewegung und die sie unterstützende türkische Linke zu diskreditieren (9).
Auch wenn die AKP am kommenden Sonntag mit knapp über 40% die Kommunalwahlen gewinnen könnte, so ist ihr Stern am Sinken. Bereits jetzt greift sie zu immer offensichtlicheren Methoden der Zensur, wie das jüngste Blocken von Internetdiensten einmal mehr illustriert; und auch in diesem Wahlkampf haben die Angriffe auf Büros der HDP eine Atmosphäre der bewussten Einschüchterung geschaffen. Ebenso ist die Praxis der zentralistischen Regierung, Stadtverwaltungen nicht-AKP-regierter Städte finanziell schlechter zu stellen, als ein Faktor zu benennen, der das Wahlverhalten schon im Vorfeld beeinflussen soll. Insbesondere gegen kurdische (BDP-regierte) Städte, aber auch gegen das CHP-regierte westtürkische Izmir, wurde diese Praxis in der Vergangenheit regelmäßig angewendet. In der Türkei gibt es zahlreiche Praktiken der Manipulation von Wahlen, selbst wenn das Fälschen von Stimmen an sich keine, oder nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Dennoch oder auch deswegen: Die Hegemonie hat die AKP schon seit den Gezi-Protesten bei weiten Teilen der Bevölkerung verloren. Doch auch die CHP und die MHP bieten in ihrer korrupten, opportunistischen und ultranationalistischen Verfassung keinen Ausweg an.
Für die fortschrittlichen Kräfte der Türkei und Kurdistans kommt es jetzt darauf an, möglichst viele Menschen zu vereinigen und gemeinsam das von der HDP/BDP vorgeschlagene Rätesystem weiterzuentwickeln. Ein gutes Stimmergebnis in allen Teilen der Türkei und Kurdistans, wäre dafür ein hoffnungsmachender Faktor.
Text: Kerem Schamberger Fotos: News Tableaus / HDP
- Fethullah Gülen stand in den 70er Jahren auf der Gehaltsliste der CIA, als es noch um den Kampf gegen den Kommunismus ging
- Hier ein Video des Vorfalls
- Hier das mittlerweile verbotene Wahlkampfvideo
- Amed = kurdische Bezeichnung für Diyarbakir
- Vollständige Newroz-Erklärung Öcalans auf Deutsch hier
- Wahlkampfmusik der HDP „Die Stadt gehört uns – Wir werden sie uns zurück holen“
Wahlprogramm der HDP auf türkisch - Hier ein Video der Zerstörung des Parteibüros in dem auch bei Deutschen beliebten Urlaubsort Fethiye
- Einen ausführlichen Artikel zur HDP und ihren (Wahl-)Positionen findet sich hier
In diesem Rahmen ein herzliches Dankeschön an das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad (www.civaka-azad.org), dass ausführliche Informationen auf Deutsch zur Entwicklung in der Türkei und Kurdistan anbietet. - Link des öffentlichen Auftritts von Aydemir Güler mit besagten Äußerungen