17.02.2016: "In dieser durch die ökonomische, soziale und politische Krise zugespitzten Lage brauchen die verschiedenen Akteurinnen und Akteure der radikalen Linken, sozialen Bewegungen, kämpferische Gewerkschaften, akademische Linke und politische Parteien, eine breite, kritische und ohne Tabus geführte Debatte", heißt es in einer Erklärung von transform! europe. Wir dokumentieren:
Eine ohne Tabus geführte Debatte unter Genossinnen und Genossen ist notwendig! – Deklaration, unterzeichnet von Vertreterinnen und Vertretern des Netzwerks transform! europe
I.
Den Hintergrund der vielfältigen Krise der Europäischen Union bildet die im Gleichklang von Regierungen und europäischen Institutionen durchgesetzte Austeritätspolitik, die die Gesellschaften im europäischen Süden ausgeblutet, im Osten die Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen und sozialen Aufholprozess zerstört und selbst die Gesellschaften West- und Nordeuropas destabilisiert hat. Das mit dem Vertrag von Maastricht und der Europäischen Währungsunion errichtete neoliberale Modell ist gescheitert. In dem Maße, in dem dieses Scheitern nicht einbekannt wird, und die herrschende Politik mit autoritären Mitteln durchgesetzt wird, droht es die europäische Integration abzuwürgen.
II.
Der Wahlsieg von Syriza im Januar 2015 wurde weit über die radikale Linke hinaus mit überschießenden Hoffnungen begrüßt. Der Versuch der von ihr geführten Regierung, in monatelangen Verhandlungen eine für Griechenland erträgliche Lösung zu finden und damit ein europäisches Beispiel für einen alternativen Weg zu geben, endete in der Aufoktroyierung eines Dritten Memorandums für Griechenland. Dafür verantwortlich sind das in den Staaten und in den europäischen Institutionen bestehende Kräfteverhältnis, die Schwäche der Linken in Europa (die griechische Regierung stand dabei den Regierungen aller anderen EU-Länder, den europäischen Institutionen und dem IWF alleine gegenüber) und auch die durch die europäischen Verträge – Maastricht, Lissabonner-Vertrag, Fiskalpakt usw. – geschaffene Architektur der EU.
Über die Lektionen, die aus dieser Niederlage zu lernen sind, wird ausführlich nicht nur in Griechenland, sondern auch in Europa und auf der ganzen Welt diskutiert. Wir sind bereit, uns aktiv in diese Diskussion einzubringen, weigern uns aber, uns an dem mancherorts betriebenen Syriza-„Bashing“ zu beteiligen, das angesichts des Versagens sowohl der europäischen Bewegungen als auch der linken Parteien, ausreichend Druck auf die eigenen Regierungen auszuüben, um deren negative Haltung zu Griechenland zu beeinflussen, höchst unangemessen ist. In diesem Zusammenhang ist es doch offensichtlich, dass das, was dringend gebraucht wird, in einer Veränderung des Kräfteverhältnisses in so vielen europäischen Ländern wie nur möglich besteht, ebenso wie in der Entwicklung einer breiten europäischen Bewegung gegen Austerität und für echte Demokratie.
III.
Dies gilt insbesondere für die europäische Auseinandersetzung in der Flüchtlingspolitik, in deren Zentrum erneut Griechenland steht. Die Ankunft von hunderttausenden Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten und aus Gebieten der ökologischen Verwüstung hat der Krise der EU einen weiteren Aspekt hinzugefügt und sie zugespitzt. Dadurch läuft die EU Gefahr, an der gegebenen humanitären Herausforderung zu scheitern. Bei alledem geht es nicht um die logistischen und finanziellen Aufgaben, die von den Mitgliedsstaaten solidarisch und gemeinsam gelöst werden könnten. Es geht um das Selbstverständnis der EU, die sich mittels Handelsverträgen und auch militärisch unter Führung der NATO an der kolonialen Aufteilung der Welt beteiligt, und sich gleichzeitig blind und taub gegenüber den Nöten der dadurch entwurzelten und vertriebenen Menschen stellt, die an den Grenzen eintreffen; um einen eurozentristischen Egoismus nach außen, der seine Entsprechung im Anwachsen des nationalen Egoismus innerhalb der EU findet. Um die Schließung der EU-Außengrenzen zu erzwingen, gehen die Innenminister_innen nun sogar so weit, die Reisefreiheit im Inneren einzuschränken. Im Endeffekt kann dies aber nur zu einer weiteren Zerstörung der Glaubwürdigkeit Europas führen.
IV.
Gleichzeitig ist eine Gegenbewegung zugunsten einer alternativen Politik zu konstatieren, was daran ersichtlich ist, dass in Griechenland Syriza noch immer in der Regierung und darum bemüht ist, die Auswirkungen des neuen Memorandums abzufedern; dass in Spanien das Zweiparteiensystem beendet werden konnte; dass im portugiesischen Parlament nun eine linke Mehrheit sitzt; dass in Irland ein Sieg von Sinn Féin in den Bereich des Möglichen gerückt ist; dass die britische Labour Party eine neue Führung hat …
Doch noch ist das nicht die die Dynamik bestimmende Tendenz in einer Situation, in der das politische Zentrum, und insbesondere die Sozialdemokratie, erodiert. Bei den im Jahr 2015 in neun Ländern abgehaltenen Wahlen (inklusive Regionalwahlen) entfielen doppelt so viele Stimmen auf die Parteien der radikalen Rechten wie auf die der radikalen Linken. Die Stimmengewinne der radikalen Rechten sind Ausdruck einer – im gesamten europäischen Maßstab in allen Bevölkerungsschichten, und insbesondere in den unteren Mittelschichten, aufgrund von Massenarbeitslosigkeit, Prekarität und Zerstörung des Sozialstaats anwachsenden – Frustration und Verunsicherung. Doch geht es auch um eine politische Frustration. Die in den meisten Staaten und in der EU regierenden Großen Koalitionen erweisen sich als immer weniger in der Lage, auf die Frustration und Verunsicherung zu reagieren, die besonders bei jenen anzutreffen ist, die unter der Krise am meisten zu leiden hatten, während die radikale Linke in vielen Ländern nicht imstande ist, in dieser zugespitzten Lage eine glaubwürdige Alternative darzustellen.
V.
In dieser durch die ökonomische, soziale und politische Krise zugespitzten Lage brauchen die verschiedenen Akteurinnen und Akteure der radikalen Linken, sozialen Bewegungen, kämpferische Gewerkschaften, akademische Linke und politische Parteien, eine breite, kritische und ohne Tabus geführte Debatte.
In dieser Debatte ist auch der Austritt eines Landes aus der Euro-Zone oder der EU kein Tabu. Es gibt Genossinnen und Genossen in Europa, die die Ansicht vertreten, dass in einzelnen Fällen und unter bestimmten Bedingungen ein solcher Austritt den politischen Spielraum tatsächlich vergrößern könnte. Allerdings könnte dies, als Programm der gesamten Europäischen Linken genommen, nur dann hilfreich für die Bewegung sein, wenn die wichtigsten Probleme, mit denen die Gesellschaften heute konfrontiert sind, ohne institutionalisierte und internationale Zusammenarbeit gelöst werden könnten. Aber das ist irrational und war niemals ein linker Zugang.
Das offensichtliche Scheitern der Integration unter neoliberalem Vorzeichen darf uns nicht zu einer ambivalenten Haltung im Hinblick auf die europäische Einigung verleiten. Welche Beziehungen zwischen den europäischen Staaten betrachten wir zur Lösung der großen Probleme – Wirtschaftskrise, Solidarität mit den Flüchtlingen, Klimawandel, der Frage der Sicherheit usw. – als die angemessensten? Ein Europa mit 28, 35 oder 50 Nationalwährungen, ein Europa der Nationalstaaten und Grenzregimes, in dem die mächtigsten Länder mit allen Mitteln um ihre Vorherrschaft kämpfen? Ist das die Art, wie wir uns in den einzelnen Ländern die internationale Umgebung vorstellen, die sozialer Fortschritt und Veränderung brauchen?
Kann irgendjemand ernsthaft glauben, dass wir in der Frage des Nationalismus gegen die Rechte und extreme Rechte bestehen könnten? Jenseits von Einwänden, die auf unseren Grundsätzen beruhen, zeigen sowohl historische als auch zeitgenössische Beispiele, wie hoffnungslos ein solcher Versuch wäre.
VI.
Allerdings ist es ein Faktum, dass jetzt die Existenz der EU in Frage gestellt ist. Wenn die Vorstellung einer friedlichen Integration Europas vor dem anwachsenden Nationalismus geschützt werden soll, muss deren Bedeutung neu definiert werden.
Entweder wird die europäische Union eine demokratische, soziale und friedliche, d.h., eine radikal andere, oder sie wird untergehen.
Die radikale Linke muss die falsche Dichotomie zwischen europäischer Integration hier, nationaler Selbstbestimmung dort zurückweisen. In der Tat ist es so, dass unter Bedingungen des globalisierten Kapitalismus nationale Selbstbestimmung nur ausgeübt werden kann, wo durch demokratisch institutionalisierte, transnationale Zusammenarbeit Platz dafür geschaffen wird. Gleichermaßen wahr ist aber auch, dass die einzige Form von Europa, die als demokratisch zu bezeichnen wäre, jenes Europa ist, das supranationale Demokratie mit der Achtung vor nationaler Selbstbestimmung verbindet. Es macht nur Sinn, nationale und transnationale Demokratie als einen sich gegenseitig bedingenden Prozess zu denken.
Angesichts der Erfahrung zweier Weltkriege und, mehr noch, der heute vor uns stehenden Probleme kann die radikale Linke nichts weniger als eine Befürworterin und Akteurin für europäische Integration sein. Allerdings liegt zwischen der Integration der heutigen EU und einer europäischen Integration, die auf demokratischen und sozialen Grundlagen beruht, eine politische und institutionelle Kluft. Wenn die Forderung nach einer Neugründung Europas eine Bedeutung hat, dann liegt diese Bedeutung in der Diskontinuität der bestehenden EU.
VII.
Wir in transform! wollen zu der gegenwärtig entstehenden Diskussion über einen „Alternativen Plan für Europa“ beitragen. Unser Netzwerk benutzt nicht die Bezeichnung „Plan B“, wie sie von manchen Teilen der Bewegung angewandt wird, da wir meinen, dass keine Verwechslung mit dem „Plan B“ eines Teils der herrschenden Eliten in Deutschland, Frankreich, dem Vereinten Königreich und anderen EU-Ländern entstehen darf, der in der Tat darin besteht, Europa in einen nationalistischen Egoismus regredieren zu lassen. Dieser reaktionäre „Plan B“ wird zu nationalistischem Wettbewerb zwischen Ländern führen, in dem alle Mittel zum Einsatz gelangen. Es ist kein Zufall, dass im populistischen Diskurs der extremen Rechten Nationalismus, Rassismus und Anti-Europäismus sich zu Amalgam verbinden.
Aber Slogans und Worte sind nicht unser Anliegen. Wir beteiligen uns an allen Debatten, die von Initiativen organisiert werden, in denen die Teilnehmenden auf solidarische Art ihre Ansichten die Erarbeitung einer realistischen und unabhängigen linken Position in Europa betreffend miteinander austauschen. Wir wollen solche Initiativen darin unterstützen, einander nicht in einem Wettbewerb zu bekämpfen, sondern Formen der Kommunikation zu finden, die getragen sind vom Geist der guten alten Tage der Anti-Globalisierungsbewegung und das Gemeinsame in ihrer Theorie und Praxis zu entwickeln, insbesondere, was die Entfaltung eines gesamteuropäischen Kampfes gegen das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) betrifft.
Februar 2016
Unterzeichnet von: Walter Baier (Wien), Maxime Benatouil (Paris), Marga Ferré (Madrid), Angelina Giannopoulou (Athen), Haris Golemis (Athen), Cornelia Hildebrandt (Berlin), Ji?í Málek (Prag), Hugo Monteiro (Lissabon), Roberto Morea (Rom), Barbara Steiner (Wien)