29.01.2016: Mako Qocgiri ist Mitarbeiter des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad. Im September 2014 führte kommunisten.de mit ihm ein erstes Gespräch. Nun, 18 Monate später, habe ich wieder mit ihm über die aktuellen Entwicklungen in Rojava gesprochen. Dies ist der zweite Teil des Interviews. Darin geht es um die miteinander verbundenen Entwicklungen in Nordkurdistan/Türkei und Rojava, die Zusammenarbeit der deutschen Bundesregierung mit der AKP-Regierung und die Bedeutung der Revolution in Rojava für die weltweite Linke. Der erste Teil des Interviews wurde bereits am 18.01.16 veröffentlicht. Darin ging es um Russlands Beteiligung am Syrien-Krieg, die „Demokratischen Kräfte Syriens“ (QSD) und die Lage in Westkurdistan/Rojava.
Die Entwicklung Rojavas ist eng an die Situation in der Türkei, also Nordkurdistan gekoppelt. Dort eskaliert die Situation aber gerade, es gibt einen regelrechten Staatsterror gegen die kurdische Zivilbevölkerung, aber auch gegen die Freiheitsbewegung und die türkische Linke. Ist das eine Reaktion des türkischen Staates auf den zunehmenden Erfolg in Rojava? Wie erklärst du dir das?
Zwischen den Errungenschaften in Rojava und dem aktuell in Nordkurdistan geführten Krieg des türkischen Staates besteht ohne Zweifel ein Zusammenhang. Denn die türkische Regierung hat in den vergangenen zwei Jahren wirklich alles daran gesetzt, die Selbstverwaltung in Rojava zu zerstören. Sie hat erst die dschihadistische Al-Nusra-Gruppierung, dann den IS unterstützt. Sie hat die Grenzübergänge, die für den IS nie verschlossen waren, dann dicht gemacht, als die Grenzorte von den kurdischen Einheiten befreit wurden. Sie lässt auch weiterhin kaum humanitäre Hilfe durch. Zerstörte Städte wie Kobanê können nicht aufgebaut werden, weil kein Zement über die türkische Grenze in den Ort gelangt. Und die Türkei hat vielfach direkt Stellungen der YPG von der Türkei aus beschossen, in der Hoffnung, dass diese das Feuer erwidern, um so dem türkischen Militär einen Anlass zum Einmarsch zu geben.
Doch all diese Angriffe, Blockaden und Provokationen haben zu keinem Erfolg geführt. Im Gegenteil, die Syrienpolitik der Türkei ist am Boden, während die Kurdinnen und Kurden zu einem der wichtigsten Akteure der Region herangewachsen sind. Die Türkei hat große Angst vor einer internationalen Anerkennung der Selbstverwaltung von Rojava und wird auch in Zukunft nichts unversucht lassen, um dies zu verhindern.
Die türkische Regierung ist ohne Zweifel wütend aufgrund dieser Errungenschaften der Kurden. Und die Bevölkerung Nordkurdistans hat einen großen Anteil an diesen Errungenschaften. In der Hochphase der Angriffe des IS auf Kobanê haben sie die Grenzen zwischen der Türkei und Rojava eingerissen und haben zu Hunderten die Grenzen überwunden, die durch ihre Heimat gezogen wurden, um bei der Verteidigung der Stadt mitzuhelfen. In Nordkurdistan herrschte von 6. zum 8. Oktober 2014 ein regelrechter Volksaufstand, der sich direkt gegen die türkische Unterstützung für den IS richtete und bei dem etwa 30 Menschen ums Leben kamen. Und auch heute kämpfen an allen Fronten in Rojava unzählige junge Menschen aus Nordkurdistan gegen den IS.
Wenn wir uns vor Augen halten, dass die Bestrebungen einer Präsidialdiktatur Erdogans vorerst in erster Linie durch die HDP und die kurdische Opposition innerhalb der türkischen Staatsgrenzen gestoppt werden konnte, so müssen wir auch festhalten, dass die Bestrebungen der Türkei eine Regionalmacht im Mittleren Osten zu werden in erster Linie durch den Widerstand in Rojava begraben worden sind. Was wir derzeit in Nordkurdistan erleben ist die Antwort einer getroffenen AKP-Regierung hierauf, die nach Rache dürstet.
Aus der EU und auch von Merkel ist kein Ton gegen das staatliche Morden in der Türkei zu hören. Ihnen ist vor allem wichtig, dass Erdogan die vor Krieg und Verfolgung fliehenden Menschen in der Türkei abfängt. Dabei ist die Türkei und ihre Politik einer der größten "Flüchtlingsproduzenten" des Nahen Ostens. Wie schätzt ihr als kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit die Haltung der Bundesregierung zum diktatorischen AKP-Regime in der Türkei ein?
Die deutsch-türkischen Beziehungen haben ja eine lange Tradition. Als unter Kaiser Wilhelm II. zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert das deutsche Kaiserreich seinen „Platz an der Sonne“ zu suchen pflegte, streckte es zunächst seine Fühler zum „kranken Mann am Bosporus“ aus. Das Osmanische Reich hatte seinen Zenith schon längst überschritten und war ebenfalls auf der Suche nach mächtigen Bündnispartnern in Europa. So nahm die lange Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen, die uns bis in die Gegenwart begleitet, ihren Anfang. Im 1. Weltkrieg waren das Osmanische Reich und Deutschland Waffenbrüder. Und auch im 2. Weltkrieg weigerte sich die noch junge türkische Republik lange Zeit Nazi-Deutschland den Krieg zu erklären und pflegte bis zu dessen Niedergang in Stalingrad gar recht gute Beziehungen nach Berlin. So war der letzte Reichskanzler vor Hitlers Machtergreifung und der spätere Vizekanzler Hitlers Franz von Papen bis 1944 Botschafter in Ankara. Die formale Kriegserklärung der Türkei gegen das Nazi-Regime erfolgte erst, nachdem der Sieg über Deutschland schon vorhersehbar war. Die engen Beziehungen zwischen beiden Staaten, die nach dem 2. Weltkrieg von der Bundesrepublik wieder aufgenommen wurden, richteten sich immer auch zu Lasten der kurdischen Bevölkerung.
Im Schmutzigen Krieg der 90er Jahre wurde die kurdische Zivilbevölkerung nachweislich auch mit deutschen Waffen bekämpft. Gleichzeitig wurde mit dem PKK-Verbot im Jahr 1993 die Repressionswelle gegen kurdische Aktivisten in Deutschland zum Rollen gebracht. Aus kurdischer Sicht wurde dieses Verbot stets als eine politische Entscheidung verstanden, das als Geschenk an die Türkei gewertet wurde.
Gegenüber der Regierung Erdogans schien sich bis zum Ausbruch der sog. Flüchtlingskrise allerdings innerhalb der Bundesregierung und der deutschen Öffentlichkeit ein gewisses Unbehagen breitzumachen. Die Kritik am autoritären Kurs der AKP-Regierung wurde immer lauter geäußert. Doch mit den ankommenden Flüchtlingen hat sich dies schlagartig verändert. Für die Bundesregierung und die EU ist klar, dass die Flüchtlingsströme aus Syrien, Irak und Afghanistan sich in erster Linie mithilfe der Türkei stoppen lassen, die ja das erste Glied auf der Flüchtlingsroute in Richtung Europa darstellt. Manche Beobachter sprechen in diesem Zusammenhang gar von einem klugen Schachzug der AKP-Regierung, die in einer konzentrierten Aktion tausende Flüchtlinge aus den staatlichen Camps an der europäischen Grenze ausgesetzt hat. Daraufhin erklangen überall aus Europa Aufrufe an die türkische Regierung, ihre Grenzen besser zu kontrollieren. Als Gegenleistung dafür verstummte nicht nur die Kritik an der AKP-Regierung, zusätzlich wurden 3 Milliarden Euro an Hilfen in Aussicht gestellt und die EU-Beitrittsverhandlungen wieder aufgenommen. Dass die syrischen, irakischen und afghanischen Flüchtlinge in der Türkei über keinen offiziellen Flüchtlingsstatus verfügen, unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und syrische Flüchtlinge sogar von türkischen Behörden in ihre Heimat abgeschoben werden, scheint in Europa niemanden großartig zu interessieren.
Mit der neuen Abhängigkeit von der Türkei verstummte auf bundespolitischer Ebene in Deutschland auch die Kritik am Kriegskurs der AKP in Kurdistan. Bundeskanzlerin Merkel stattete vor der Wiederholung der Parlamentswahlen am 1. November demonstrativ einen Besuch bei Erdogan ab, woraufhin sie von verschiedensten Kreisen der Wahlkampfbeihilfe für die AKP beschuldigt wurde. Und es scheint, dass dieser Kurs nun konsequent weiterverfolgt wird. Wie du schon erwähnt hast, wird dabei außer Acht gelassen, dass gerade die Türkei maßgeblich Fluchtursachen in der Region miterzeugt. Die verfehlte Syrienpolitik der Türkei, die dortige Unterstützung für dschihadistische Gruppen wie den IS, Al-Nusra und ähnlicher Organisationen hat abertausenden Menschen ihre Heimat gekostet. Und nun sorgt die Türkei mit ihrem Staatsterror in Nordkurdistan dafür, dass wieder bis zu 200.000 Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Es wirkt schon absurd, dass man gerade mit diesem Staat für die Bekämpfung der Fluchtursachen den Schulterschluss sucht.
Aber ich denke, dass es sich für Deutschland auch immer schwieriger gestalten wird, diese engen Beziehungen zur Türkei so weiter aufrecht zu erhalten. Die Türkei legt sich in ihrer Mittelostpolitik immer deutlicher auf die sunnitische Achse fest. Die Beziehungen zu Saudi-Arabien und Katar sind so eng wie schon lange nicht mehr. Hinzu kommt die enge Zusammenarbeit mit der KDP in Südkurdistan/Nordirak. Gleichzeitig steigen dadurch die Spannungen zum Nachbarland Iran, aber auch zur Zentralregierung im Irak. Zu Russland sind die Beziehungen ohnehin am Nullpunkt angekommen und sollte es in Syrien auch nur vorübergehend mit Assad weitergehen, sieht es da auch nicht sonderlich blumig aus. Ich glaube, die Bundesregierung wird es konsequent vermeiden, sich in diese Konfliktlinien durch ihre Bündnispartner hineinziehen zu lassen. Sicherlich besteht auch aus Sicht der deutschen Außenpolitik eher eine Nähe zu den Arabischen Königshäusern im Gegensatz zum Iran. Und auch die Beziehungen zu Russland sind nicht die Besten. Dennoch wird Deutschland weiterhin großen Wert darauf legen, auch die Kanäle zu Russland und Iran offen zu halten und sich diese Möglichkeiten nicht durch die außenpolitischen Fehlschläge eines türkischen Bündnispartners zu verwirken.
Zweitens wird die deutsche Außenpolitik sich zwangsläufig der Herausforderung einer eigenen außenpolitischen Positionierung hinsichtlich der kurdischen Akteure im Mittleren Osten stellen müssen. Bislang wurde die „kurdische Politik“ Deutschlands in erster Linie durch die Haltung der Türkei bestimmt. Davon wird sich Deutschland lösen müssen. Allein die deutsche Beteiligung in Syrien und der Anschlag des IS auf deutsche Touristen in Istanbul erzwingen das. Beim internationalen Kampf gegen den IS kommt man an den kurdischen Akteuren in Rojava und Syrien nicht mehr vorbei. Das gilt auch für die deutsche Außenpolitik. Und selbstverständlich muss eine veränderte außenpolitische Haltung gegenüber den Kurden auch mit einer Veränderung der Politik gegenüber den Kurden in Deutschland einhergehen. Und hier wird auch über die Aufhebung des PKK-Verbots zu sprechen sein.
Cetin Oraner, Stadtrat der offenen Liste der Linken in München und türkisch-kurdischer Künstler, vergleicht in Auftritten die Rolle und Bedeutung der Revolution in Rojava mit der Oktoberrevolution in Russland vor nun fast 100 Jahren. Wie siehst du die Bedeutung der dortigen gesellschaftlichen Veränderungen? Inwiefern können sie auch in Europa Hoffnung auf Veränderung und eine solidarischere Welt machen?
Ich denke, hierüber wurde und wird weiterhin innerhalb der deutschen und internationalen Linken viel diskutiert. Die Rojava Revolution ist keine rein kurdische Revolution. Sie ist auch keine Revolution, deren Auswirkungen man allein auf den Mittleren Osten beschränkt sehen sollte. Denn ich glaube, jede fortschrittliche Revolution auf einem x-beliebigen Punkt der Welt stärkt unter den Revolutionärinnen und Revolutionären überall auf der Welt die Hoffnung auf Veränderung und eine solidarischere Welt. Aus diesem Grund müssen wir diese Revolution als unsere gemeinsame Revolution begreifen, die wir alle gemeinsam verteidigen und weiter vorantragen müssen.
Zugleich hat die Revolution in Rojava aber nicht den Anspruch, Revolutionären überall auf der Welt nun aufzudiktieren, wie Revolution richtig gemacht wird. Die Rojava-Revolution ist unter den spezifischen Bedingungen des Mittleren Ostens ins Rollen gekommen und kann deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einfach auf einen anderen Punkt der Welt rüberkopiert werden. Insgesamt sollte man sich meiner Meinung nach von dem Gedanken einer „Revolutions-Schablone“, die überall auf der Welt funktionieren kann, verabschieden.
Das bedeutet allerdings auch nicht, dass ein europäischer, lateinamerikanischer oder afrikanischer Linker oder Revolutionär nichts aus der Rojava Revolution lernen und für den eigenen Kampf Lehren ziehen kann. Was aber letztlich beispielsweise Revolutionäre aus Deutschland aus der Rojava-Revolution lernen können, das kann ihnen niemand aus der Kurdischen Freiheitsbewegung erklären. Das müssen sie nämlich selbst diskutieren und für sich entscheiden. Was die Kurdische Freiheitsbewegung machen kann, und das tut sie auch, ist es, diesen Menschen die Möglichkeiten zu eröffnen, in Kurdistan zu erlernen, wie der revolutionäre Kampf vor Ort gestrickt ist und wie die Revolution in Rojava konkret aussieht.
Die Fragen stellte Kerem Schamberger, der unter www.kerem-schamberger.de auch zur Türkei/Nordkurdistan-Thematik bloggt.
foto: der 11jährige Salih Edim, ermordet vonm türkischen Militär
siehe auch