02.07.2015: In seiner Ansprache, die Griechenlands Premierminister Alexis Tsipras am Mittwochnachmittag (1. Juli 2015) an das griechische Volk richtete, sprach er sich klar und kategorisch für das NEIN bei der Volksabstimmung am 5.Juli aus. Er sprach von einer „Pflicht gegenüber der Geschichte“ und sagte, das NEIN werde Griechenlands Position bei der Verhandlung aufwerten. Für Alexis Tsipras ist „das NEIN nicht einfach eine Parole, sondern eine Waffe für ein besseres Ergebnis“. Alexis Tsipras wiederholte, dass die griechische Regierung eine wirtschaftlich tragfähige Lösung verlange und das die griechische Seite umgehend reagieren werde, wenn es einen annehmbaren Vorschlag gibt.
Griechinnen und Griechen,
wir befinden uns an einem kritischen Wendepunkt, der die Zukunft unseres Landes betrifft. Der Volksentscheid am Sonntag berührt die Frage unseres Verbleibes oder Nicht-Verbleibes in der Eurozone nicht. Das ist festgelegt und kann durch niemand angezweifelt werden.
Am Sonntag stimmen wir darüber ab, ob wir diese konkrete Vereinbarung annehmen, oder ob wir direkt und aufgrund des Urteils des Volkes den Anspruch auf eine nachhaltige Lösung geltend machen.
In jedem Fall möchte ich dem griechischen Volk versichern, dass es die feste Absicht der Regierung ist, eine Vereinbarung mit den Partnern zu erreichen, die den Bedingungen der Nachhaltigkeit und der Zukunftsperspektive entspricht.
Bereits nach unserem Entschluss zum Volksentscheid kamen bessere Vorschläge zu den Schulden und zu ihrer notwendigen Umstrukturierung auf den Tisch als jene, die wir bis Freitag hatten.
Wir ließen sie nicht unter den Tisch fallen. Sofort legten wir unsere Gegenvorschläge vor, in denen wir um eine nachhaltige Lösung baten und aus diesem Grund kam die Eurogroup gestern zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, sie wird heute Nachmittag erneut zu Gesprächen zusammentreten.
Wenn es einen positiven Ausgang gibt, werden wir unmittelbar darüber berichten. In jedem Fall wird die griechische Regierung am Verhandlungstisch bleiben, und zwar bis zum Ende. Sie wird auch am Montag dort sein, unmittelbar nach dem Volksentscheid und dann unter besseren Bedingungen für die griechische Seite.
Immer schon war das Urteil des Volkes viel stärker als der Willen einer Regierung. Und ich möchte wiederholen, dass die demokratische Wahl im Kern der europäischen Traditionen enthalten ist. In sehr bedeutsamen Augenblicken der europäischen Geschichte haben die Völker mit Volksentscheiden Entscheidungen gefällt.
Das war in Frankreich und in vielen anderen Ländern beim Volksentscheid über die europäische Verfassung der Fall. Das ereignete sich in Irland, wo der Volksentscheid vorzeitig den Vertrag von Lissabon aufhob und zu einer Neuverhandlung führte, in der Irland bessere Bedingungen erzielte. Leider hatten wir in Griechenland andere Maßnahmen und Lasten.
Ich persönlich hätte von einem demokratischen Europa nie erwartet, dass die dringende Notwendigkeit nicht wahrgenommen wird, einem Land den Raum und die Zeit zu gewähren, um über seine Zukunft souverän abzustimmen. Die Dominanz extrem konservativer Kreise hatte die Entscheidung zur Folge, den Banken des Landes die Luft abzuschnüren. Mit dem offenkundigen Ziel, die Erpressung von der Regierung auf die Schultern jedes einzelnen Bürgers abzuwälzen.
Es ist in einem Europa der Solidarität und der gegenseitigen Achtung wirklich nicht hinnehmbar, dass wir solche schändlichen Bilder haben. Die Banken zu schließen, genau weil die Regierung beschlossen hat, dem Volk das Wort zu geben. Und Tausende von alten Menschen sich abquälen zu lassen, für deren Renten die Regierung trotz des finanziellen Würgegriffs Sorge getragen und deren ordnungsgemäße Überweisung auf ihre Konten sie sichergestellt hat.
Diesen Menschen gegenüber sind wir eine Erklärung schuldig.
Um unsere Renten zu schützen, kämpfen wir diese ganzen Monate.
Um euer Recht auf eine würdevolle Rente zu schützen und nicht auf ein einfaches Trinkgeld.
Die Vorschläge, zu deren Unterzeichnung wir gepresst werden sollten, verlangten die drastische Herabsenkung der Renten.
Und deshalb haben wir abgelehnt.
Und deshalb rächen sie sich heute an uns.
Der griechischen Regierung wurde ein Ultimatum zur Umsetzung des genau gleichen Rezepts und aller noch ausstehenden, bisher nicht umgesetzten Teile des Memorandum, gestellt. Und das ohne irgendeine Voraussage zu den Schulden oder zur Finanzierung.
Das Ultimatum wurde nicht akzeptiert.
Der auf der Hand liegende Ausweg war es, uns an das Volk zu wenden, weil es in der Demokratie keine Ausweglosigkeit gibt. Und das setzen wir in die Tat um.
Ich weiß sehr gut, dass in diesen Stunden die Sirenen der Katastrophe aufheulen. Sie erpressen euch und fordern euch auf mit JA allen Maßnahmen zuzustimmen, die von den Gläubigern verlangt werden und zwar ohne jedes Gegenangebot für einen Ausweg aus der Krise.
Damit auch ihr, so wie in jenen schlechten Tagen des Parlaments, die wir hinter uns gelassen haben, JA zu allem sagt.
Dass auch ihr eins werdet mit ihnen.
Mittäter in der Verewigung der Memoranden.
Und andererseits stellt das Nein nicht nur einfach eine Parole dar.
Das Nein ist ein entschlossener Schritt hin zu einer besseren Vereinbarung, deren Unterzeichnung wir unmittelbar nach dem Ergebnis am Sonntag beabsichtigen. Es stellt ein lupenreines Votum des Volkes darüber dar, wie es am folgenden Tag leben wird.
Nein heißt nicht Abbruch der Verhandlungen, aber Rückkehr zu einem Europa der Werte.
Nein heißt starker Druck für eine ökonomisch nachhaltige Vereinbarung, die eine Lösung für die Schulden vorsieht, sie nicht ausspart, die unseren Versuch nicht auf ewig untergräbt, die griechische Wirtschaft und Gesellschaft aufzurichten.
Nein heißt starker Druck für eine sozial gerechte Vereinbarung, die die Lasten auf „die Habenden“ umverteilt und nicht auf die Lohnempfänger und Rentner.
Eine Vereinbarung, die damit kurzfristig das Land wieder an die internationalen Finanzmärkte zurückführt, so dass die Aufsicht und die Vormundschaft beendet werden. Eine Vereinbarung, die jene Reformen beinhaltet, welche ein für alle Male die Ernährer des Filzes zur Rechenschaft zieht, die all diese Jahre das politische System gemästet haben. Und die gleichzeitig der humanitären Krise die Stirn bietet, also ein umfassendes Sicherheitsnetz für all diejenigen schafft, die sich heute am Rand befinden, und das genau wegen der über jahrelang in unserer Heimat umgesetzten Politik.
Griechinnen, Griechen
Ich bin mir der Schwierigkeiten voll bewusst. Ich verbürge mich persönlich, dass ich alles tun werde, was in meiner Hand liegt, damit diese Schwierigkeiten vorläufig sind.
Gewisse Kreise beharren darauf, das Ergebnis der Volksabstimmung mit dem Verbleib des Landes im Euro zu verknüpfen. Sie sagen sogar, ich habe einen geheimen Plan, das Land aus der EU hinauszubringen, wenn für das NEIN gestimmt werden wird. Sie sagen wissentlich die Unwahrheit.
All jene, die dies sagen, sind die selben, die es auch in der Vergangenheit sagten.
Alle, die dies sagen, erbringen sowohl dem Volk als auch Europa einen sehr schlechten Dienst.
Außerdem ist Ihnen bekannt, dass ich vor einem Jahr bei den Europa-Wahlen für den Vorsitz der Kommission kandidierte. Auch damals brachte ich vor den Europäern die Position zum Ausdruck, dass die Austeritäts-Politiken aufhören müssen, dass die Memoranden nicht der Weg zum Ausgang aus der Krise sind. Dass das in Griechenland umgesetzte Programm gescheitert war. Dass Europa aufhören muss, sich antidemokratisch zu verhalten.
Wenige Monate später besiegelte im Januar 2015 unser Volk diese Einschätzung.
Leider beharren gewisse Europäer darauf, sich zu weigern es, zu verstehen, sich zu weigern, es einzugestehen.
Alle, die ein Europa wollen, das an Denkweisen des Autoritarismus klebt, an Denkweisen der Verweigerung des Respekts an die Demokratie, alle, die Europa als eine oberflächliche Vereinigung mit dem IWF als Klebstoff wollen, sind keine Visionäre für Europa. Sie sind zaghafte Politiker, die nicht als Europäer zu denken vermögen. Bei ihnen, neben ihnen, plant das inländische politische Establishment – nachdem es das Land in den Bankrott führte – nun, uns die Lasten aufzubürden, uns, die sich bemühen, den Kurs des Landes in die Katastrophe zu stoppen. Und sie träumen sogar auch von ihrer völligen Rehabilitierung.
Sie planten sie und sie planen sie, gleich ob wir das Ultimatum akzeptiert hätten – da sie öffentlich einen ergebenen Premierminister verlangten um es umzusetzen – oder jetzt, wo wir dem Volk das Wort geben.
Sie reden von einem Putsch. Die Demokratie ist jedoch kein Putsch, die ergebenen Regierungen sind ein Putsch.
Griechinnen, Griechen
Ich möchte Ihnen aus ganzem Herzen für die Nüchternheit und die Gelassenheit danken, die Ihr zu jeder Stunde dieser schwierigen Woche zeigt. Ich möchte Ihnen Versichern, dass diese Situation nicht lange andauern wird. Sie wird vorläufig sein.
Die Löhne und die Renten werden nicht verloren gehen.
Die Bankguthaben der Bürger, die sich entschieden, ihr Geld nicht im Ausland in Sicherheit zu bringen, werden nicht auf dem Altar der Opportunitäten und Erpressungen verloren gehen.
Ich übernehme persönlich die Verantwortung für die umgehende Lösung sofort nach dem demokratischen Verfahren.
Gleichzeitig rufe ich Sie jedoch auf, diesen Verhandlungsversuch zu unterstützen, ich rufe Sie auf, uns zu den Rezepten der Memoranden, die Europa zerstören, „NEIN“ sagen zu lassen.
Ich rufe Sie auf, uns bejahend auf die Aussicht auf eine tragfähige Lösung antworten zu lassen. Ein leuchtendes Kapitel der Demokratie zu öffnen. Und eine sichere Hoffnung auf eine bessere Vereinbarung. Es ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Eltern, gegenüber unseren Kindern, gegenüber uns selbst.
Es ist unsere Pflicht gegenüber der Geschichte.
Ich danke Ihnen
Quelle: Griechenlandsolidarität