02.03.2012: Stavros Panagiotidis, Forscher am Nicos Poulantzas Institut in Athen, schreibt in einer neuen Studie, dass sich zwei Dinge in Griechenland verändert hätten: Da sei die offene Entschlossenheit der Regierung, die Proteste zu ersticken, aber auch die wachsende Radikalisierung der Bevölkerung und der Aufbau von selbstorganisierten Strukturen. Auch Alexis Tsipras, Sprecher der parlamentarischen Gruppe von SYRIZA, meint, dass sich mit den Protesten gegen die Beschlussfassung über das 'Memorandum II' die Dinge verändert hätten.
Zum Einen gebe es jetzt eine Welle der Solidarität im übrigen Europa. Tsipras: "Die Mobilisierungen beweisen, dass die Völker Europas so solidarisch mit der Bevölkerung Griechenlands verbunden sind, wie seit dem Ende der Militärdiktatur nicht mehr. Die Losung 'Wir sind alle Griechen' zeigt die Solidarität und die Einsicht, dass das neoliberale Schockprogramm nicht nur die Arbeiter und Bürger Griechenlands betrifft." Zum Anderen hätten die Demonstrationen gezeigt, dass die Menschen in Griechenland aus dem Schockzustand erwachen, die Angst überwinden und den Kampf gegen das Sparprogramm der Troika aufnehmen.
"Es ist nicht wahr, dass fremde Kräfte unser Land erobern", erklärte Tsipras: "Die Wahrheit ist, dass die Eigentümer des großen Kapitals in Europa in voller Kooperation mit den herrschenden politischen Kreisen und den Besitzern des griechischen Kapitals der Bevölkerung Griechenlands diese Opfer aufzwingen wollen. Die Gegner der Bevölkerung Griechenlands sind nicht die anderen Volker Europas, sondern die griechische Regierung, die in Kooperation mit Herrn Schäuble und der Eurogruppe Griechenland als Versuchskaninchen nimmt, um dann die Sozialverträge in ganz Europa zu zerstören."
"Die Krise und die Menschen in Griechenland"
In einer Analyse von Stavros Panagiotidis, Forscher am Nicos Poulantzas Institut in Athen, mit dem Titel "Die Krise und die Menschen in Griechenland" (s. Anlage) heißt es, dass das provozierende Verhalten der Polizeikräfte ein Beweis für die Furcht der Regierung vor der Reaktion der Menschen ist und der Entschlossenheit der Regierung, die Proteste zu ersticken und die Menschen zu terrorisieren. Aber eine der Parolen der Demonstrationen bringt die veränderte Situation zum Ausdruck: "Sie jagen uns keine Angst ein, sie machen uns einfach nur wütend!"
Inzwischen entstehen im ganzen Land solidarische soziale Netzwerke, die mit dem Motto "Niemand wird in der Krise allein gelassen" aktiv sind. Diese Initiativen werden von Bürgerinnen und Bürgern organisiert, manchmal sind sogar Organisationen oder Institutionen mit dabei - wie zum Beispiel Gemeindeverwaltungen - , und man findet sie sowohl im mehrheitlich linken als auch im nicht-linken Spektrum. Die Menschen bieten ihre Mitarbeit in diesen Strukturen an, nicht nur als Form von wohltätigem Handeln, sondern auch um sich in gewisser Weise selbst zu helfen angesichts der Folgen, die die Krise für sie hat.
Das Sammeln von Lebensmitteln für arme Familien, Obdachlose und sogar streikende Arbeiter, die Schaffung von Zeitbanken, wo Menschen ihre Dienste austauschen (zum Beispiel kann ein Arzt zweimal in der Woche seine Dienste anbieten und im Gegenzug gibt ein Mathematiklehrer dafür seinen Kindern Nachhilfeunterricht etc.), Aktionen um zu verhindern, dass die Energieversorger den Menschen den Strom abschalten, die eine neue hohe Steuer auf Eigentum zahlen müssen, die an die Stromrechnung gekoppelt ist, um die Menschen zu erpressen - das alles sind nur einige Beispiele für die Aktivitäten solcher Initiativen. Diese Vorgänge schaffen in Griechenland eine völlig neue Situation, in der die Menschen lernen, dass die Organisation von sozialen Strukturen und Funktionen, was ja die eigentliche Bedeutung von Politik ist, nicht nur als Aufgabe für und von Experten zu betrachten, sondern eine alltägliche Aufgabe für alle ist.
Panagiotidis verweist aber auch auf die komplizierte politische Situation: Alle Umfragen zeigen, dass sowohl die sozialdemokratische PASOK wie die konservative Partei Neue Demokratie bei Wahlen heftig abgestraft und keine Regierungsmehrheit mehr zustande bringen werden.
Demgegenüber kämen die Parteien links der PASOK je nach Umfrage zusammen auf 40 bis 45 Prozent der Stimmen: "SYRIZA verdoppelt anscheinend seine Umfragewerte von 5% auf 13%. Auch die kommunistische Partei wird stärker und erreicht dieselben Umfragewerte wie SYRIZA. Beide gewinnen Stimmen von der PASOK und in kleinerem Umfang von der Neue Demokratie. Der neue interessante Faktor ist das Auftauchen der Partei Demokratische Linke, die von ehemaligen Mitgliedern der Synaspismos und verschiedenen Mitgliedern der PASOK gegründet wurde und in den Umfragen auf dieselben und manchmal sogar höhere Werte kam als die übrige Linke."
Trotzdem habe der Vorschlag von SYRIZA für die Bildung einer Linksregierung mit einem Minimalprogramm wenig Chancen auf Realisierung. Sowohl die Kommunistische Partei als auch die Demokratische Linke lehnen diesen Vorschlag ab. Die Kommunistische Partei vertritt den Standpunkt, dass die Bildung einer Linksregierung der Bourgeoisie lediglich Zeit verschaffe, ihre politischen Kräfte neu zu formieren und es außerdem keine Basis für eine derartige Kooperation gebe, weil SYRIZA den Austritt des Landes aus der EU nicht unterstützt. Gleichzeitig lehnt auch die Demokratische Linke diesen Vorschlag mit der - entgegengesetzten - Begründung ab, dass SYRIZA die Mitgliedschaft Griechenlands in der EU nicht voll unterstützt.
Ausschlaggebend sei jetzt die Mobilisierung aller Arten von Bewegungen und Initiativen, damit neue Möglichkeiten für radikale politische Ideen entstehen.
siehe auch
Die Horror-Liste für die Griechen - Das Modell von morgen für ganz Europa?
Athen und Griechenland 'brennen' !
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