28.09.2019: Obwohl die Mehrheit der israelischen Wähler am 17. September dem bisherigen Regierungschef Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextrem-zionistischen Regierungskoalition eine Absage erteilt haben und er jetzt im israelischen Parlament, der Knesset, keine Mehrheit mehr hat, hat Israels Staatspräsident Reuven Rivlin ihm am 25. September den Auftrag erteilt, erneut die Bildung einer Regierungskoalition zu versuchen. Der hat dafür nun 28 Tage Zeit. Viele sind allerdings der Meinung, dass ihm dies nicht gelingen werde.
Wahl ohne klares Ergebnis
Rivlin hatte angesichts der schwierigen Wahlergebnisse zuerst einen anderen Weg favorisiert. Denn die beiden Hauptkonkurrenten, der Block unter Führung von Netanjahus Partei Likud und das Wahlbündnis Kachol Lavan (Blau-Weiß) unter Führung von Benjamin Gantz, dem früheren Generalstabschef der israelischen Armee, sind nach der Wahl in der Knesset nun fast gleich stark. Keiner der Beiden verfügt, auch mit den ihm zuzurechnenden eventuellen Bündnispartnern, über eine sichere Parlamentsmehrheit.
Staatspräsident Rivlins Idee für "stabile Regierung“ mit Netanjahu und Ganz vorerst gescheitert
Deshalb wollte Rivlin zunächst eine "Regierung der nationalen Einheit", also eine Art Große Koalition zwischen den beiden Hauptrivalen zustande bringen. Um eine entsprechende Einigung zu erleichtern, wurde die Idee einer "geteilten Regierungszeit" in die Debatte gebracht. Die beiden Parteichefs sollten das Amt des Ministerpräsidenten teilen und zuerst der eine, dann der andere jeweils eine Halbzeit als Regierungschef amtieren. Eine Variante dazu hieß, dass beide auch gemeinsam als "Doppelspitze" agieren könnten.
Diese Idee scheiterte allerdings zunächst daran, dass Gantz vorher im Wahlkampf immer wieder nachdrücklich verkündet hatte, er werde nicht mit Netanjahu in einer Regierung sitzen. Diese Erklärung hat ihm bei der Wahl zu vielen Stimmen verholfen und wesentlich zu seinem Wahlerfolg beigetragen. Offenbar erschien es ihm deshalb nicht möglich, einen Bruch dieses Wahlversprechens bereits an den Anfang einer neuen Legislaturperiode zu stellen. Allerdings kann dies auch nur ein vorläufiges Scheitern sein und die Idee einer solchen "Einheitsregierung" später wieder aufgegriffen werden.
Als Argument nutzte Gantz vor allem die Tatsache, dass Netanjahu vielleicht schon bald eine Anklage wegen Bestechlichkeit, Vorteilsannahme, Betrug und Untreue zu erwarten hat. Israels Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit hat in der nächsten Woche eine Anhörung Netanjahus angesetzt, in deren Ergebnis er entscheiden will, ob er tatsächlich Anklage erheben und ein Gerichtsverfahren einleiten wird.
Gantz setzt auf Scheitern von Netanyahu
Daraufhin hat Israels Staatspräsident Reuven Rivlin an Benjamin Netanyahu den Auftrag zur Regierungsbildung vergeben.
Die israelische Zeitung Haaretz schreibt dazu: "Weniger als eine Woche nach seinem beeindruckenden Wahlerfolg gab der Chef der größten Knessetfraktion, Kahol Lavan-Chef Benny Gantz, sein Recht ab, der Erste zu sein, der versucht, eine Koalitionsregierung zu bilden. Die Erklärung der »Partei-Quellen« für dieses Zugeständnis lautet, dass Gantz es vorzieht, darauf zu warten, dass Netanyahu es zuerst versucht und scheitert."
Netanjahu sucht nach Ausweg
Für Netanjahu ergeben sich nun zwei Möglichkeiten. Entweder es gelingt ihm, seinen ebenfalls extrem rechtslastigen früheren Außen- und Verteidigungsminister Avigdor Lieberman von der Partei Jisrael Beitenu (Unser Heim Israel) zur Unterstützung zu gewinnen, obwohl dieser im November 2018 zurückgetreten war, weil ihm der Kurs der Netanjahu-Regierung gegen die palästinensischen Araber in Israel nicht scharf genug war. Allerdings äußerte Lieberman später auch Vorbehalte gegen den Einfluss der ultraorthodoxen Parteien in der Regierung. Im Wahlkampf 2019 hatte er erklärt, dass er nur eine "weltliche Regierungskoalition" ohne die orthodox-religiösen Parteien unterstützen werde.
Die andere Möglichkeit für Netanjahu ist es, für seine Koalition "Überläufer" aus den anderen im Parlament vertretenen Parteien abzuwerben, auch aus dem Lager der "Blau-Weißen". Die bisherige Netanjahu-Koalition von Likud, Schas, Thora-Judentum und Rechtsunion kommt in der neuen Knesset zusammen auf 55 Mandate (Likud 32, Schas 9, Thora-Judentum 7, Rechtsbündnis Jamina 7). Also müsste er mindestens 6 solcher "Überläufer" gewinnen, um die Mindestzahl von 61 Parlamentsmandaten zu erreichten, die für eine Mehrheit in der 120-köpfigen Knesset erforderlich sind.
Falls ihm keine von beiden Möglichkeiten innerhalb des nächsten Monats gelingt, müsste er den Auftrag zur Regierungsbildung an den Staatspräsidenten zurückgeben. Der könnte dann Netanjahus Gegenspieler Gantz mit einem weiteren Versuch zur Regierungsbildung beauftragen. Aber erneut auch die Idee einer "Einheitsregierung" mit geteilter Amtszeit auf die Tagesordnung bringen.
Aber auch keine Mehrheit für Blau-Weiß, ..
Gantz’ Aussichten, eine Regierungskoalition ohne Netanjahus Likud zustande zu bringen, sind allerdings nicht besser als die seines Rivalen. Grantz’ Kachol Lavan selbst kommt auf 35 Mandate. Mögliche Koalitionspartner könnten die sozialdemokratisch-zionistische Awoda-Partei (6 Mandate) und die Demokratische Union, bestehend aus der linkssozialistischen Meretz und den Grünen (5 Mandate) sein.
.. trotz Unterstützung durch Vereinte Liste
Außerdem hat die "Vereinte Liste" der drei arabischen Parteien Balad, Raam und Taal sowie die von Arabern und Israelis gemeinsam gebildeten Hadasch (Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung), in der die Kommunistische Partei Israels eine maßgebliche Rolle spielt, erklärt, dass sie die Nominierung von Gantz zum Regierungschef unterstütze.
Die "Vereinte Liste" ist mit 13 Mandaten die drittstärkste Fraktion der Knesset. Ihre Unterstützung von Gantz ist in der israelischen Öffentlichkeit stark beachtet worden, da die arabischen Parteien in Israel in der Regel (mit einer Ausnahme) bisher nie einen Vorschlag für einen israelischen Regierungschef gemacht haben. Die Empfehlung für Gantz wurde damit begründet, dass dies der einzige Weg sei, um die rechtsextremistische Koalition unter Netanjahu von der Macht zu entfernen. Das sei vorrangig, auch wenn man an Gantz‘ Politik viel Kritik habe und deshalb nicht in eine Koalition mit Gantz eintreten werde.
Wir beenden die politische Karriere NetanyahusDie arabisch-palästinensischen Bürger*innen Israels haben sich entschieden, Premierminister Benjamin Netanyahu, seine Politik der Angst und des Hasses sowie die Ungleichheit und Spaltung, die er in den letzten zehn Jahren vorangetrieben hat, zurückzuweisen. (…) Die israelische Regierung hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um diejenigen von uns, die arabisch-palästinensische Bürger*innen sind, zu diskriminieren, aber unser Einfluss ist nur gewachsen. Wir werden der Eckpfeiler der Demokratie sein. Arabisch-palästinensische Bürger*innen können den Kurs Israels nicht allein ändern, aber ohne uns ist ein Wandel unmöglich. Auszüge aus einer Erklärung von Ayman Odeh (Hadash),Vorsitzender der Gemeinsamen Liste |
Kurz darauf wurde allerdings auch mitgeteilt, dass eine der drei arabischen Parteien, nämlich Balad, die Empfehlung für Gantz nicht mittrage. Sie werde den Ex-General nicht unterstützen wegen seiner "zionistischen Ideologie", seiner rechten Positionierung, die sich von der von Likud nicht so sehr unterscheide, und wegen seiner "blutigen und aggressiven militärischen Vorgeschichte". Damit war die Empfehlung der Vereinten Liste für Gantz auf 10 Mandate zusammengeschmolzen. Insgesamt käme Gantz also in der Knesset auf 54 Stimmen, mindestens 7 müssten für eine Mehrheit noch dazugewonnen werden.
"Das Hauptziel war es, den Wunsch der Menschen, die für uns gestimmt haben, zum Ausdruck zu bringen, Netanyahu und die extreme Rechte zu verdrängen, obwohl es keine Garantie dafür gibt, dass eine echte Veränderung in der israelischen Politik stattfinden würde, selbst wenn Netanyahu weg ist".
Yousef Jabareen, Abgeordneter der Knesset (Hadash)
Friedenslösung nicht zu erwarten
Falls weder Netanjahu noch Gantz eine Parlamentsmehrheit erreichen können, könnte Rivlin auch noch andere Knesset-Abgeordnete mit dem Versuch einer Regierungsbildung beauftragen. Oder aber eine dritte Parlamentswahl ansetzen. Das allerdings wäre außerordentlich unpopulär. Der Verweis auf einen dritten Wahlgang wirkt deshalb wie ein mächtiger Druck auf die Parteien und Politiker, sich auf einen anderen Ausweg, also Rivlins Plan entsprechend auf eine gemeinsame Koalition zu verständigen.
Doch wie auch immer das Gerangel um die Regierungsbildung ausgehen wird, bleibt nur die Feststellung, dass so oder so ein Kurswechsel in der israelischen Politik in Richtung einer Friedenslösung mit den Palästinenser*innen in nächster Zeit leider nicht zu erwarten ist.
Netanjahu hat im Wahlkampf, wenn er wieder ans Ruder kommt, ganz klar eine weitere Verschärfung seines aggressiven und expansiven Kurses gegen die Palästinenser*innen angekündigt. Nach einer Wiederwahl wollte er ausnahmslos alle völkerrechtswidrig errichteten israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland in das Staatsgebiet seines "jüdischen Staates" einverleiben. Darüber hinaus noch weite Teile des von Palästinenser*innen besiedelten Jordan-Tals. Damit würde eine Zwei-Staaten-Regelung endgültig unmöglich gemacht. Und der Staat Israel würde uneingeschränkt zu einem Apartheid-Staat umgeformt, in dem die arabisch-palästinensischen Bevölkerungsminderheit als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Das selbst verkündete Programm einer neuen Netanjahu-Regierung für die nächsten Jahre ist mehr als abschreckend, aber vor allem gefährlich für den Frieden im Nahen Osten und damit den Weltfrieden.
Doch auch das Programm einer Regierung Gantz oder einer "Regierung der nationalen Einheit" aus beiden Blöcken wäre kaum viel besser. Ex-Generalstabschef Gantz würde als Regierungschef wohl kaum viel gemäßigtere Ziele verfolgen, zumal er unter dem starken Druck der rechtsextremistischen und aggressiv-expansionistischen Stimmungen stehen würde, die im Wahlergebnis für Netanjahu sichtbar sind.
Das Erfreulichste am Wahlergebnis: "Vereinte Liste" von israelischen Friedenskräften, Kommunist*innen und arabischer Bevölkerungsminderheit mit 13 Abgeordneten drittgrößte Fraktion
Das Erfreulichste am jüngsten israelischen Wahlergebnis ist unter diesen Umständen nur, dass es der "Vereinten Liste" von israelischen Friedenskräften, Kommunist*innen und arabischer Bevölkerungsminderheit in Israel gelungen ist, wieder mit 10,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und mit 13 statt zuletzt 10 Abgeordneten in das israelische Parlament einzuziehen. Denn die "Vereinte Liste" hat sich auch in diesem Wahlkampf klar für die Zwei-Staaten-Lösung, für die Beendigung der militärischen Besetzung des Westjordanlandes und der expansiven Siedlungspolitik, für die Bildung eines eigenständigen und souveränen Staates Palästina in den Grenzen von 1967 mit Ostjerusalem als Hauptstadt ausgesprochen.
Diese Positionen der israelischen Friedenskräfte verdienen und brauchen auch weiterhin solidarische internationale Unterstützung. Und das nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch in unserem eigenen Interesse an der Sicherung und Erhaltung des Friedens in der Nahostregion und damit des Weltfriedens.
txt: Georg Polikeit
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