Meinungen

11. Seminar über emanzipatorische Denkweisen. Leo Mayer berichtet aus Havanna

03.02.2015: Über 300 Teilnehmer aus 21 Ländern, davon 130 aus dem Ausland – nahezu alle aus Lateinamerika – und 200 aus Cuba nahmen in diesem Jahr am „Internationalen Seminar über emanzipatorische Denkweisen“ (Paradigmas Emancipatorios) in Havanna teil. Im Zentrum der Debatten standen Analysen über die Strategien des Imperialismus, über die Fortschritte und Widersprüche, Initiativen und Herausforderungen der sozialen Bewegungen und der Linken in all ihren verschiedenen Strömungen sowie über die Zusammenarbeit und Spannungen zwischen Linksregierungen und sozialen Bewegungen. Dazu kam die Information und Diskussion über die aktuelle Entwicklung in Cuba und die Neuformulierung des sozialistischen cubanischen Projekts. Aus Deutschland nahm Leo Mayer (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, marxistische linke) an diesem Treffen teil.

Vom 13. – 16. Januar berieten über 300 AktivistInnen aus sozialen Bewegungen und Forschungseinrichtungen über die Fortschritte und Herausforderungen für die emanzipatorischen Bewegungen. Es war das elfte Treffen dieser Art, zu dem die Gruppe GALFISA am Philosophischen Institut in Havanna, das Centro Martin Luther King (Havanna) und andere Organisationen aus Cuba und dem lateinamerikanischen Kontinent eingeladen hatten. Die TeilnehmerInnen kamen überwiegend von sozialen Bewegungen und Instituten Lateinamerikas; einige wenige aus Spanien, Deutschland und den USA.

20 Jahre GALFISA
Gleichzeitig feierte GALFISA (Grupo América Latina: Filosofía Social y Axiología del Instituto de Filosofía - Diálogo por nuevos paradigmas emancipatorios) ihren 20. Geburtstag. Im Jahr 1994 – der Sozialismus in Europa war zusammengebrochen, der Neoliberalismus hatte weltweit gesiegt, Cuba kämpfte in der „periodo especial“ um das Überleben und in aller Welt wurden schon die Grabesreden auf das sozialistische Cuba geschrieben – hatte sich eine kleine Gruppe junger cubanischer PhilosophInnen zusammengefunden, um darüber zu beraten, wie es mit dem Sozialismus weitergehen kann. Ihre Losung: „Die Utopie ist realisierbar!“ Sie gingen davon aus, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein revolutionärer Zyklus zu Ende gegangen ist und die Formen der Revolution des 20. Jahrhunderts – weder der Typ der Oktoberrevolution noch derjenige der cubanischen Revolution – für das 21. Jahrhundert nicht mehr brauchbar sind. Ein neuer Typ von Revolutionen für ein neues Zeitalter müsse erarbeitet werden: „Revolutionen von Unten“ mit einer neuen, autonomen Rolle der sozialen Bewegungen zur Organisierung und Bewusstseinsentwicklung der unterdrückten Bevölkerung; „Einheit in der Vielfalt“ für einen emanzipatorischen Prozess der Befreiung von allen Formen der Unterdrückung.

Denn 1994 war nicht nur die Zeit, in der die Ideologen des Neoliberalismus das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) verkündeten, sondern in Lateinamerika deuteten sich auch bereits erste Risse in der Hegemonie des Neoliberalismus an. Am 1. Januar 1994 war die Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN, deutsch Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) erstmals mit einem bewaffneten Aufstand öffentlich in Erscheinung getreten. Ihr Sprecher, Sub-Comandante Marcos, entfachte mit den strategischen Konzeptionen der Zapatisten eine weltweite Debatte in der Linken über die Strategie zur Überwindung von Unterdrückung und Kapitalismus. Zudem hatten sich in vielen Ländern Lateinamerikas starke Bewegungen für die Verteidigung des Bodens, gegen die Privatisierung von Wasser und öffentlicher Infrastruktur und die Auslieferung der natürlichen Ressourcen an die Transnationalen Konzerne entwickelt; Initiativen gegen Sexismus, Homophobie und koloniale Diskriminierung vernetzten sich mit den Kämpfen um das Territorium, gegen Militarisierung, Korruption und Straffreiheit; eine neue Arbeiterbewegung war im Entstehen.

Vor diesem Hintergrund lud GALFISA im Januar 1995 zum ersten Treffen nach Havanna ein, um den internationalen Dialog für eine neue emanzipatorische Denkweise zu eröffnen. Aus fünf Ländern, darunter natürlich Mexico/Chiapas, kamen die 50 TeilnehmerInnen. Seit dieser Zeit treffen sich alle zwei Jahre AktivistInnen aus sozialen Bewegungen und WissenschaftlerInnen bei „Paradigmas Emancipatorios“, um Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Praxis der Bewegungen und des gesellschaftlichen kritischen Denkens auszutauschen, die aktuelle Lage zu analysieren und über gesellschaftsverändernde Strategien zu debattieren.

Theorie zum Erkennen der Welt und den Aufbau einer neuen Gesellschaft
Georgina Alfonso González, Direktorin des Philosophischen Instituts: „Bei diesen Treffen diskutieren wir Probleme, die mit den Kämpfen und Theorien der gesellschaftlichen Bewegungen verbunden sind. Dem entsprechend ist auch die Arbeitsweise: Es gibt wenig Vorträge, wie es sonst traditionell üblich ist, sondern partizipative Gruppendynamiken, um einen Austausch zwischen den Experten und den politischen Akteuren zu erreichen. So befördern wir den Aufbau der Theorie, die für eine emanzipatorische Lösung der Probleme notwendig ist, die im Verlauf der Kämpfe und des Widerstandes gegen die multiplen Formen der Expansion des Kapitals auftauchen. Es geht um den Aufbau einer integralen Vision über die Fortschritte und Widersprüche, Initiativen und Herausforderungen für die Linke in all ihren Strömungen. Wir diskutieren über strategische politische Vorschläge, tauschen uns aus über solidarisches Wissen und Erkenntnistheorien, um der Herrschaft und dem Rassismus zu begegnen. Wir wollen über die Zukunft sprechen, wie eine antikapitalistische Gesellschaft entworfen und aufgebaut werden kann.“

Hinsichtlich der Vielfältigkeit der Bewegungen und Teilnehmer sagt Gilberto Valdés, Leiter von GALFISA und stellvertretender Direktor des Philosophischen Instituts: „Die Vielfalt - naturgegeben , sozial, menschlich - ist nicht Schwäche, sondern Stärke. Wir negieren nicht die Diskrepanzen, Probleme der Verständigung oder verschiedene Visionen. Wir suchen keinen leichten oder betrügerischen Konsens. Wir denken, das was uns verbindet und kennzeichnet ist, dass wir lernen können – einer vom anderen – und dass wir den gleichen Herausforderungen gegenüberstehen.“ Immer müsse berücksichtigt werden, dass die Menschen unterschiedlich sind und verschiedene Vorstellungen haben, meint Valdés.

Das 11. Seminar

Erster Tag.
In einem Video wurde über 20 Jahre GALFISA eine Bilanz gezogen, mit den Erfahrungen und Erfolgen, aber auch Problemen und anstehenden Aufgaben. Zu Beginn des Seminars stellte Gilberto Valdés dann die thematischen Achsen und die Arbeitsweise des Seminars vor. Außerdem, so Valdés, „werden wir eine Debatte organisieren über Cuba und die Perspektiven des Prozesses zur Aktualisierung des ökonomischen Modells und der Neuformulierung des cubanischen sozialistischen Projekts hinsichtlich der Kultur, der Wirtschaft, den lokalen Regierungen, der Jugend, den Frauen und den kommunitären Organisationen.“

Die Arbeit in den vier Tagen des Seminars erfolgte im Plenum, in Arbeitsgruppen mit ca. 30 TeilnehmerInnen und in Kleingruppen zu fünft.

In Arbeitsgruppen mit dem gleichen Thema „Wie begegnen wir der imperialistischen Strategie und den nie endenden Kriegen des Kapitals auf unserem Territorium und in unserem Land?” stellte jede(r) Teilnehmer(in) die Situation in ihrem/seinem Land, die Kämpfe und sein persönliches Engagement vor. Es stellte sich heraus, dass der Begriff „Territorium“ nicht nur geografisch und z.B. auf den Kampf um den Boden oder die Wohnung bezogen ist, sondern das Konzept des Territoriums erweitert wird auf den Kampf um das Wasser, gegen Mülldeponien, für die Verteidigung der natürlichen Ressourcen gegen die Auslieferung an die Transnationalen Konzerne (TNK), für „Coca-Cola-freie- Kommunen“, aber auch auf die Verteidigung vielfältiger Gewohnheiten, Identitäten und Kulturen  - alle mit ihrer eigenen Geschichte im Kampf gegen die Kolonialisierung. Nicht zuletzt wird unter Kampf um das „Territorium“ auch der Kampf der Frauen um die Selbstbestimmung über ihren Körper verstanden. Die Herausforderung ist, aus all diesen verschiedenen Bewegungen eine starke Volksbewegung (el pueblo unido) zu schaffen, dessen Gemeinsamkeit das „antisystemische“ ist.

Zweiter Tag
Der zweite Tag begann im Plenum mit drei Kurzvorträgen zum Thema „Strategie des Imperialismus – vielfältige Herrschaft und Unterdrückung durch des Kapitals – neue Staatsstreiche und nie endender Krieg“.
Berta Cáceres Flores, Koordinatorin der Dachorganisation der Volksbewegungen in Honduras (Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras, COPINH) [1], berichtete über Repression, Straffreiheit für politische Verbrechen des Staates und die Militarisierung des Landes nach dem Staatsstreich. Sie schilderte wie das Land mit seinen Reichtümern an die TNK ausgeliefert wird. (siehe z.B. "Siemens: Profite vor Menschenrechten")  Der Staatsstreich sei jedoch nicht nur ein Staatsstreich in und für Honduras gewesen, meinte sie. Anschaulich belegte sie, wie Honduras zum „Versuchskaninchen“ für eine neue Welle geplanter Staatsstreiche gegen die progressiven Regierungen und für die Installierung autoritärer Regime in Lateinamerika gemacht wird. Ana Esther Ceceña referierte zur Situation in Mexico und die Herausforderungen für die Bewegungen und die Linke. Leo Mayer informiert unter den Schlagworten „der Krieg“ - die Krise - die Hoffnung“ über die Situation in Europa (in der Anlage).
In einer knapp zweistündigen Debatte wurden die angesprochenen Fragen vertieft. Kritisch wurde nachgefragt und debattiert, wieso die Bewegungen und die Linke in Europa nicht gemeinsam gegen die Krise handeln; Parallelen wurden gezogen zwischen dem kontinentweiten Widerstand gegen das Projekt einer „Amerikanischen Freihandelszone“ (ALCA) in den 90er Jahren in Lateinamerika und dem aktuellen TTIP-Projekt zwischen der EU und den USA. Die Erfahrung sei, so die DiskutantInnen, dass man nicht bei der Abwehr stehen bleiben dürfe, sondern Projekte einer alternativen Integration entwerfen müsse. Nachfragen gab es zu den Chancen von SYRIZA bei den Wahlen in Griechenland, verbunden mit der Hoffnung, dass damit ein Anstoß für Veränderungen in Europa gegeben werden könnte.

Am Nachmittag wurden die Seminarteilnehmer in zwei Gruppen aufgeteilt:
1) „Die Linke an der Regierung“ und
2) „Die antikapitalistischen Versuche und Erfahrungen“.

In der ersten Arbeitsgruppe „Die Linke an der Regierung“ wurden die sehr unterschiedlichen Erfahrungen sozialer Bewegungen mit Linksregierungen debattiert. Während in Bolivien und Ecuador Regierung und Bewegungen gemeinsam den Veränderungsprozess vorantreiben, ist die Situation in Nicaragua oder Brasilien widerspruchsvoller.
Die sandinistischen Genossen berichteten über die fortschrittliche Außenpolitik und die großen Sozialprogramme der Regierung zur Bekämpfung der Armut, aber gleichzeitig werden weitgehende Freihandelsverträge mit der EU abgeschlossen und an Transnationale Konzerne Schürfrechte auf Jahrzehnte abgegeben. Zu diesen Widersprüchen zählt auch der Kampf der Frauenbewegung gegen das Verbot der Abtreibung, die von der sandinistischen Regierung heftigst und verleumderisch attackiert wird. Am Bau des Kanals - von den Compañeros als  „Teil des globalen neoliberalen Projekts“ charakterisiert - entzünden sich heftige Auseinandersetzungen um die Fragen der Naturzerstörung und die generelle Frage „Welches Entwicklungsmodell für Nicaragua ist mit dem Kanal verbunden?“. Die anwesenden sandinistischen Genossen engagieren sich in der Widerstandsbewegung gegen den Kanalbau und müssen dabei aufpassen, dass sie nicht der politischen Rechten in die Hände arbeiten.
Ein Problem, von dem auch die AktivistInnen aus Brasilien berichteten: Die Regierung war noch nie eine antikapitalistische Linksregierung, sondern immer eine Koalitionsregierung. Das aktuelle Parlament ist das am meisten rechtsgerichtete seit dem Ende der Diktatur. Die Rechtsparteien versuchen, die legitimen sozialen Proteste, z.B. gegen die Erhöhung der Fahrpreise, gegen Korruption, Polizeigewalt oder Umweltzerstörung für sich zu instrumentalisieren. In dieser Situation sei die „Hauptschwäche der Regierung, dass sie die Komplexität der Bewegungen nicht versteht und nicht fähig ist, mit den Bewegungen den Dialog zu führen“, so die brasilienischen AktivistInnen.
Anders wieder die Situation in Venezuela mit einer „pro-sozialistischen Regierung und einer Kultur des Landes die kapitalistisch ist“. „Wir haben die Regierung erobert, aber nicht die Macht“, meinte Jacquelin Jirénez, Aktivistin  in einem Stadtteil-Komitee von Caracas. Die sozialen Bewegungen müssten entwickelt und gestärkt werden, „damit die Menschen nicht nur die Stimme abgeben, sondern mitarbeiten.“ Deutlich wurde, wie eine Mexikanerin sagte, dass der Kapitalismus ein globales gesellschaftliches Verhältnis ist, das alle Bereich durchdringt und den Rahmen und die Grenzen für Linksregierungen setzt.

Am Abend berichteten jugendliche Teilnehmer aus Cuba und anderen lateinamerikanischen Ländern, die an den zapatistischen Schulen in Chiapas teilgenommen hatten, über ihre Erfahrungen. ZapatistInnen informierten über die Lage 21 Jahre nach Beginn des Aufstandes und über ihre gesellschaftspolitischen Konzeptionen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft: „Wir sagen nicht Sozialismus, sondern Gerechtigkeit, Frieden, Brot, Bildung, Würde, Macht von Unten. Wenn das Sozialismus ist? Gut, dann sind wir einverstanden!“

 

Dritter Tag
Am dritten Tag wurde in vier Arbeitsgruppen und Untergruppen getagt.

  • AG1: „Solidarisches Wissen und Erkenntnis durch den Kampf. Forschung für die Bewegungen in Zeiten der Krieg und der Krise“.
  • AG2: „Ethische und politische Einsichten unserer feministischen Praxis: Herausforderung der sozialen Bewegungen im Kampf gegen die patriarchale und sexistische Kultur“.
  • AG3: „Die Bewegung für Umweltgerechtigkeit“.
  • AG4: „Alternative Kommunikation: Herausforderungen für den Aufbau einer Gegenhegemonie”.

In der AG „Umweltgerechtigkeit” bestand Einigkeit darüber, dass der Begriff „Entwicklung“ mit einem neuen Inhalt gefüllt werden muss. Bisher war „Fortschritt“ und „Entwicklung“ immer mit der Entwicklung des Kapitalverhältnisses verbunden, mit dem Ergebnis, dass „Entwicklung und Fortschritt“ heute die Existenzbedingungen der Menschheit untergraben. Die Frage lautet: Welche Entwicklung bzw. Entwicklungsmodell brauchen wir, damit sie dem Menschen nützt.
Julio Torres von CubaSolar, eine Vereinigung zur Förderung erneuerbarer Energien, betonte, dass es keinen Sozialismus gibt, wenn er das Wachstums- und Energieproblem nicht löst. „Buen Vivir“ und Solarenergie geben die Richtung vor. Er informierte über die Anstrengungen, die energetische Basis in Cuba von Öl auf die Nutzung der Solarenergie zu verändern, verwies aber auch auf die Schwierigkeiten, in der cubanischen Bevölkerung ein ökologisches Bewusstsein, d.h. ökologisches Wissen und ökologische Praxis, zu verankern.

Ohne Feminismus keine Revolution und keine neue Gesellschaft
Ohne Feminismus gibt es keine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus und keinen Aufbau einer neuen Gesellschaft, hieß es in der AG Feminismus. Die AG beschäftigte sich mit den Beiträgen des Feminismus zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft. Ausgehend von der Kritik an Patriarchat und Kapitalismus und durch die gemeinsamen politischen Kämpfe mit antikapitalistischer und antipatriarchaler Orientierung hat sich das feministische Denken und Handeln Räume in den Bewegungen und Parteien erkämpft, stellten die Compañer@s fest. „Heutzutage treffen wir den Feminismus in den unterschiedlichsten Gruppen. Dies freut uns, denn damit machen wir einen revolutionären Prozess, der viel integrativer und breiter ist“, sagte die chilenische Feministin Nelly Cubillos Álvarez. „Wir Frauen sind kein ‘Thema‘ und kein ‘Problem‘. Wir sind die Hälfte von allem. Und das bedeutet, dass bei allen Aktionen und Fragen des Lebens die Perspektive der Frauen integriert werden muss“, forderte sie. Nalu Faria aus Brasilien ergänzte: „Es geht aber nicht nur darum die Frauen einzubeziehen. Die Einbeziehung der Frauen ist die Voraussetzung für die Herausbildung einer neuen Produktions-, Reproduktions- und Konsumtionsweise. Für Jugendliche ist es von fundamentaler Bedeutung neue Praxen aufzubauen, die auf einer antipatriarchalen Ethik basieren.“
Thema war auch die „feministische Ökonomie“, wo die Reproduktion und der Beitrag von Haus- und Pflegearbeit diskutiert und die traditionelle Zweiteilung zwischen „Hausarbeit“ und „produktiver Arbeit“ infrage gestellt wird. Auf diese Weise „erweitert man die Konzepte von Wirtschaft und Arbeit, denn man bezieht alle mit ein, die zur Nachhaltigkeit der Spezies Mensch beitragen“, schlussfolgerte Nalu Faria.
Die cubanische Feministin Helen Hernández Hormilla warnte vor einem “Neo-Machismo” in Cuba, der sich in Meinungen ausdrückt wie „Die Frauen haben genug erreicht, warum wollen sie noch mehr?“ Bestätigt wurde sie durch die Cubanerin Dayma Echevarría, die sagte, “der Sozialismus ist in vielen Aspekten patriarchal“. Die große Präsenz von Frauen in legislativen Institutionen und in der Politik habe keinen qualitativen Wechsel in der Ausübung der Macht gebracht, kritisierte sie.

Neuformulierung des cubanischen sozialistischen Projekts
Zu den interessantesten Momenten zählte die Veranstaltung „Cubanische Revolution – Strategien der Veränderung, Möglichkeiten und Herausforderungen“, bei der mit Fernando Martínez Heredia (u.a. Präsident des Lehrstuhls für die Studien Antonio Gramsci), Ernesto Molina (Professor am Institut für Internationale Beziehungen), Susana Acea (Vorsitzende der Poder Popular im Stadtteil Habana Centro und Mitglied des Präsidiums der Parteihochschule der PCC), Mónica Baró (junge Mitarbeiterin am Philosophischen Institut) und Carlos Martínez (Vorsitzender einer Transport-Kooperative) über die „Alternativen Cubas in einem neuen Szenarium der Veränderung” debattiert wurde.

Fernando Martínez Heredia bezog sich auf die Rede von Barack Obama am 17. Dezember, in der dieser das Scheitern der US-Politik gegenüber Cuba eingestanden hatte. Diese Rede sei eine Hommage an das cubanische Volk und seinen Widerstandsgeist gewesen. Gleichzeitg sei aber mit dieser Rede eine ideologische Offensive gegen Cuba gestartet worden. Er warf in diesem Zusammenhang das Problem der „Orientierung“ auf. Wer gibt sie? Ausländische Medien? Die kapitalistische Konsumideologie? Die fünf Millionen Touristen, die jährlich nach Cuba kommen? Die Nachhaltigkeit des sozialistischen Projekts hänge mehr denn je von der revolutionären Ethik ab, schlussfolgerte er, ohne die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen zu verschweigen. Die äußeren Rahmenbedingungen seien heute unvergleichbar besser als 1961, dem Jahr der Invasion in der Schweinebucht: die Revolution habe eine starke Basis in der Bevölkerung, es gebe breite internationale Unterstützung, der Handel mit den BRICS-Ländern erweitere die Spielräume, Cuba verfüge über hervorragende wissenschaftliche Kapazitäten, ein gutes Bildungs- und Gesundheitswesen sowie eine gute militärische Verteidigung. Mit den ökonomischen Reformen wachse auch die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft.
Er nannte vier Säulen zur Neuformulierung des cubanischen sozialistischen Projekts: 1) volle nationale Souveränität. 2) soziale Gerechtigkeit. 3) Bewusstsein und Partizipation der Bevölkerung. 4) Die nationale Souveränität und das Bewusstsein bilden die Grundlage des Patriotismus, mit dem die ArbeiterInnen, die selbstständigen ArbeiterInnen, die GenossenschaftlerInnen, kleine UnternehmerInnen und die in ausländischen Unternehmen und beim Staat Beschäftigten zur Verteidigung Cubas intergiert werden können, so Martínez.

Die soziale Gerechtigkeit ist eine der großen Herausforderungen im Zusammenhang mit den Wirtschaftsreformen. Bei den ökonomischen Reformen bleiben die wichtigsten Produktionsmittel und die Naturressourcen in der Hand des Staates, bei ausländischen Investitionen entscheidet der Staat, wo diese im Rahmen der strategischen Planung erwünscht und möglich sind. Es werden nicht nur mehr private Unternehmen geben, sondern vor allem Kooperativen. Dabei müssten allerdings die Erfahrungen Jugoslawiens berücksichtigt werden, wo die Kooperativen durch die Konkurrenz untereinander vom Ziel abgekommen sind. Unter Bezug auf Lenin wurde mehrmals gesagt, dass die „bürokratische Maffia der mächtigste Feind innerhalb des Sozialismus“ ist.

Susana Acea, Vorsitzende der Poder Popular (Volksmacht) im Stadtteil Habana Centro, und Mónica Baró sprachen offen und schonunglos die Problem an: fehlende und verfallende Wohnungen, Arbeit für die Jugend, gesellschaftliche Beteiligung.  Susana Acea gab zu, dass „die Art und Weise der Leitung übermäßig zentralisiert“ ist, was die Wechselwirkung mit den Regierenden einschränkt. Die Kritik an der bisherigen Art und Weise der Volksmacht und die Suche nach neuen Formen mit einer stärkeren Partizipation der Bevölkerung ist ein Bestandteil der Neuausrichtung des sozialistischen Projekts. Auf einer kürzlich stattgefunden BürgerInnenversammlung hatte eine Abgeordnete unter großem Applaus gesagt: „Ich bin Abgeordnete der Volksmacht im Stadtteil Plaza de la Revolución. .. Die Volksmacht ist ein Desaster, .. sie funktioniert nicht. .. Wir kommen von einem autoritären Sozialismus und wir wollen nicht auf die gleiche Weise weitermachen.“ Mónica Baró benannte in fünf Punkten Probleme und mögliche Lösungswege. „Bildung, Gesundheit, Arbeit, Partizipation - das sind für die heutige Jugend nicht Errungenschaften, sondern Rechte, die sie erfüllt sehen will. Da nutzt es nichts immer von 1959 zu reden", sagte sie. Der Sozialismus werde nicht durch den politischen Willen der Führung aufgebaut, auch nicht durch die Versammlungen, etc., sondern der Sozialismus wird von denen Unten aufgebaut – von Unten und von der Linken. Notwendig sei Partizipation und die „horizontale, offene Debatte“, bei der alle Probleme zur Sprache kommen müssen - sonst gibt es keine Partizipation. Die Diskussion dürfe nicht mit „das nützt dem Feind, dem CIA, ...“ abgewürgt werden. Denn die Revolution ist nicht die Regierung – die ist revolutionär -, sondern das Handeln der Bevölkerung. Ein Weg ist die Förderung von autonomen, kommunitären Initiativen in den Stadtteilen zur Lösung von Problemen, dem Aufbau kultureller Treffpunkte, ... .

Vierter Tag
Am letzten Tag des Seminars stand das Thema “Soziale Bewegungen und das Projekt der lateinamerikanischen Integration ALBA” auf der Tagesordnung. Die Debatte konzentrierte sich darauf, dass unabdingbarer Teil dieses Integrationsprojektes die Integration und Koordination der Aktionen und Kämpfe der sozialen Bewegungen sein muss. Joaquín Piñero, Leitungsmitglied der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST, Brasilien), ging davon aus, dass in Lateinamerika ein neuer Zyklus des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeiter und Bewegungen begonnen hat. Die Krise sei eine multiple Krise, in der sich verschiedene Krisenprozesse überlagern und gegenseitig verstärken. Die Regierungen der Region haben in ihrer Mehrheit keine Vorschläge wie aus dieser Krise herauszukommen wäre, weil sie in den Formen der bürgerlichen Herrschaft verharren. „Abwälzung der Krisenlasten, Bürokratie, Gewalt, Straffreiheit, Narco-Trafico und Militarisierung sind Ergebnisse dieses Prozesse“, so Joaquín Piñero. Die Bewegungen müssten sich kontinentweit vernetzen und Allianzen mit denjenigen Regierungen bilden, die die Situation verändern wollen, forderte er. Ein wichtiger Schritt sei das erste kontinentale Treffen im Jahr 2013 von Delegierten der Bewegungen aus ganz Lateinamerika gewesen. Dieses Netzwerk arbeitet weiter.

Joel Suárez vom Centro Martin Luther King in Havanna berichtete über das Treffen der Bewegungen mit dem Papst Anfang November 2014 (kommunisten.de berichtete: Land, Arbeit, Wohnung – der Schrei der Unterdrückten). Mit der Forderung „kein Arbeiter ohne Arbeitsplatz – kein Bauer ohne Land – keine Familie ohne Dach über dem Kopf“ habe Papst Franziskus sich an die Seite der Bewegungen gestellt. Von großer Symbolik sei das gemeinsame Auftreten des Papstes – Vertreter der Verbrechen im Zuge der Eroberung Lateinamerikas – und Evo Morales – Vertreter der unterdrückten und kolonialisierten Indios – gewesen. Der Dialog mit dem Vatikan werde fortgeführt, ausgebaut und auf weitere Themen, wie z.B. das Recht der Frauen auf ihren Körper, das Problem der Staatsstreiche oder die kurdische Bewegung, ausgedehnt.

Zum Abschluss präsentierten die TeilnehmerInnen aus Mexico mit Fotos, Videoclips, Gedichten und Reden ein Gedenken an die 43 verschwundenen Studierenden aus Ayotzinapa. Jeder Einzelne der 43 wurde mit Bild, Vorname und Name vorgestellt; eine Appell für das weltweite, gemeinsame Handeln gegen Militarisierung und Straflosigkeit.

 

 



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Text auf dem Schild: "Morgen wird es zu spät sein, um das zu tun, was wir schon vor langer Zeit hätten machen müssen."

[1] Berta Cáceres und die VerteidigerInnen ihrer Territorien gegen die Übergabe der Flüsse an TNK sind nach ihrer Rückkehr nach Honduras erneuten Repressionen ausgesetzt: COMUNICADO de La Red Nacional de Defensoras de Derechos Humanos en Honduras en Solidaridad con Berta Cáceres y el COPINH.

Kurz vor ihrer Abreise nach Havanna war einem ihrer Mitstreiter von Todesschwadronen in der Nacht die Kehle durchschnitten und die Leiche auf die Straße gelegt worden.


siehe auch