Literatur und Kunst

21.11.2022: Am 16. November jährte sich der hundertste Geburtstag von José Saramago, und wer weiß, wie viele Werke er uns noch hätte schenken können, wenn er uns nicht am 18. Juni 2010 verlassen hätte. José Saramago muss man lesen und wieder lesen, denn seine Geschichten strahlen einen befreienden Kommunismus aus, den die Welt so nötig hätte. 

 

Als er 1998 den wohlverdienten Nobelpreis für Literatur erhält, spricht er in der Schwedischen Akademie in Stockholm nicht über Literatur, sondern erzählt von seiner Großmutter und von seinem Großvater, einem armen Schweinezüchter, der nicht lesen und nicht schreiben konnte, und dennoch für Saramago der weiseste Mensch der Welt war: "Im Winter, wenn die Kälte der Nacht kam und im Haus das Wasser in den Krügen gefrieren ließ, holten sie die schwächsten Ferkel aus dem Stall und nahmen sie mit in ihr Bett. Unter den dicken Decken schützte die menschliche Wärme die kleinen Tiere vor dem Erfrieren und verhinderte ihren sicheren Tod."

Mensch und Schwein unter einer Decke. In diese Welt, in Azinhaga, rund 100 Kilometer nördlich von Lissabon, wurde José Saramago am 16. November 1922 geboren. Er wuchs in Lissabon auf und absolvierte eine Schlosserlehre, doch die langen Sommerferien verbrachte er bei seinen Großeltern auf dem Land. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bevor er für den Verlag Estúdios Cor arbeitete, wo er viele Schriftsteller kennenlernte und sich mit einigen anfreundete. Er schrieb zwei Romane, die kaum Beachtung fanden, veröffentlichte Chroniken und die ersten Gedichtbände.

Doch erst nach der Nelkenrevolution 1974 entschloss sich Saramago, Schriftsteller zu werden. Er widmete sich einem Roman, und dann noch einem und noch einem, zu einer Zeit, in der sowohl die Literatur als auch die Geschichtsschreibung die Art und Weise ändern wollten, wie sie die Welt beschreiben. Schriftsteller wie Historiker denken an die Vergangenheit im Hinblick auf das, was uns in der Gegenwart beschäftigt.

Saramago führt uns mit seinen Büchern durch die unterschiedlichsten historischen Epochen, von denen einige Hunderte oder sogar Tausende von Jahren zurückreichen. Doch die behandelten Themen und Probleme sind hoch aktuell, lebensnahe und alltagsbezogen.

Saramago selbst sagte: "Es gibt zwei mögliche Haltungen für den Romanautor, der ausschließlich oder gelegentlich den Weg der Geschichte gewählt hat: die erste, diskrete und respektvolle, wird darin bestehen, Schritt für Schritt die bekannten historischen Tatsachen wiederzugeben, wobei die Fiktion in diesem Fall nur der Diener einer Genauigkeit ist, von der man sich vor dem Vorwurf mangelnder Strenge jeglicher Art schützen möchte; die zweite, gewagtere, wird den Autor dazu bringen, in einem fiktiven Gewebe, das vorherrschend bleiben wird, die historischen Daten zu verweben, die ihm als Stütze dienen werden. In dem einen wie in dem anderen Fall jedoch werden diese beiden großen Welten, die Welt der historischen Wahrheiten und die Welt der fiktiven Wahrheiten, die scheinbar unvereinbar sind, vom Erzähler in Einklang gebracht. …
Dank dieser Art und Weise, nicht nur die historische Zeit, sondern die Zeit insgesamt zu begreifen - sie sozusagen in alle Richtungen zu projizieren -, ist es mir erlaubt zu denken, dass meine Arbeit im Bereich des Romans so etwas wie eine kontinuierliche Oszillation hervorzubringen vermag, an der der Leser unmittelbar teilhat, dank einer fortwährenden Provokation, die darin besteht, ihm durch immer ironisch angelegte Prozesse das zu verweigern, was ihm zuvor gesagt wurde, und in seinem Geist den Eindruck einer Zerstreuung der historischen Angelegenheit in eine fiktionalisierte Angelegenheit zu erwecken, die nicht nur eine Desorganisation des einen und des anderen bedeutet, sondern eine Reorganisation von beiden anstrebt."

Margarida Botelho, Mitglied des Sekretariats des Zentralkomitees der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP) sagte bei der Konferenz "Eine universelle und fortschrittliche Vision der Geschichte - Die Aktualität von José Saramagos Werk" am 22. Oktober 2022:

"Ausbeutung, die Entmenschlichung der Gesellschaften, Ungleichheit und Diskriminierung, Obskurantismus, Manipulation des Gewissens, Faschismus, Krieg. Wir haben uns ihnen anhand von Büchern genähert, die vor etwa 40 Jahren von einem Mann geschrieben wurden, der dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. … Man kann sagen, dass die Werke der großen Künstler unsterblich sind. Und das sind sie. Vor allem Werke wie das von José Saramago, in denen universelle Werte präsent sind: Freiheit, Demokratie, Emanzipation, Gleichheit, Souveränität der Völker, Frieden, Achtung der Natur, Bejahung der Menschlichkeit, Hoffnung und Vertrauen in die Völker, die Arbeiter und ihren Kampf. Die Kultur ist, wie wir wissen, auch das Terrain des Klassenkampfes, und zwar heutzutage ein sehr intensiver Kampf. Es ist gut zu spüren, dass diejenigen, die für alles, was fortschrittlicher und menschlicher ist, kämpfen, Schriftsteller an ihrer Seite haben, die genau das in ihrem Werk widerspiegeln: die Dimension der Schönheit, die von diesem tausendjährigen Marsch gegen die Ausbeutung ausgeht, mit seinen Fortschritten und Rückschlägen, Siegen und Niederlagen, Kräften und Widersprüchen, einem Marsch mit Höhen und Tiefen, aber unaufhaltsam, der sich in diesem universellen Werk widerspiegelt, das seinen Protagonisten, den wahren Erbauern der Geschichte, den Arbeitern und dem Volk, eine Stimme gibt."[1]

Nach dem Nobelpreis 1998 hätte Saramago leicht zu den Intellektuellen gehören können, die von den Mächtigen bevorzugt werden, aber stattdessen blieb er der Intellektuelle, der er war: ein "schiffsbrüchiger Kommunist", wie er sich selbst gerne bezeichnete. 1969 hatte er sich der damals noch im Untergrund arbeitenden Portugiesischen Kommunistischen Partei angeschlossen, immer in Gefahr, ins Fadenkreuz der gefürchteten politischen Polizei zu geraten. Der Partei blieb er bis zu seinem Tode verbunden. Solange seine Kräfte reichten, ging er jedes Jahr zur Festa do Avante, um seine Bücher zu mitzubringen und sie mit einem Lächeln zu signieren.

Buch Saramago Hoffnung im AlentejoMit der realistischen bäuerlichen Familien- und Revolutionschronik "Levantado do Chão", 1979 in Lissabon bei Editorial Caminho erschienen, hatte Saramago seinen nationalen Durchbruch. Als das Buch 1985 unter dem Titel "Hoffnung im Alentejo" im Aufbau-Verlag in deutscher Sprache erschien, wurde José Saramago auch in Deutschland einem breiteren Leser:innenkreis bekannt.

"Hoffnung im Alentejo" beruht auf den Erfahrungen Saramagos in der Genossenschaft "Unidade Colectiva de Produção Boa Esperança" in Lavre. Er fand in den Bildern, Geschichten und Menschen, die er auf ähnliche Art und Weise aus seiner vom Landleben geprägten Kindheit und Jugend kannte, den Weg zu seiner ganz eigenen Sprache. Selbst in den deutschen Übersetzungen erfährt man die Originalität und Melodie seiner Erzählweise.

In "Hoffnung im Alentejo" beschreibt Saramago die Geschichte der Landarbeiter:innen des Alentejo, ihr entbehrungsreiches und monotones Leben, ihren Kampf gegen feudale Herrschaftsstrukturen, die sich in über 500 Jahren kaum verändert hatten. Er erzählt vom Leben, Kämpfen und Sterben des als Kommunist verschrienen Tagelöhners João Mau-Tempo.

Die Besetzungen der Latifundien durch die Landarbeiter nach der "Nelkenrevolution" bilden den hoffnungsvollen Schlusspunkt. Von nun an besteht die Hoffnung, nicht mehr als Knecht, sondern "vom Boden erhoben" (levantado do chão) zu leben.

Buch Saramago Das MemorialIn dem Roman "Das Memorial" ("Memoriale dal convento") – 1982 in portugiesisch, 1986 in deutsch veröffentlicht – behandelt Saramago ein immer wiederkehrendes Thema in seinen Werken: den Gegensatz zwischen Reichen und Armen, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, zwischen dem königlichen Größenwahn und dem Elend des Volks. Die Handlung spielt in der Zeit der Inquisition im absolutistischen Portugal des 18. Jahrhunderts während der Regentschaft des Königs Johann V., der den Palácio Nacional de Mafra erbauen ließ. Beim Bau dieses gigantischen Projektes, der größten Schloss- und Klosteranlage Portugals, finanziert mit dem Gold aus der damaligen Kolonie des portugiesischen Weltreichs Brasilien, arbeiteten 50.000 Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen, 2.000 Menschen starben bei Unfällen.

Die Protagonisten sind Baltasar, ein Soldat, den das Heer während des Spanischen Erbfolgekriegs zurückließ, als er die linke Hand verlor, und der statt seiner Hand eine Art Haken hat; Bilimunda, ein Mädchen afrikanischer Herkunft, das mit leerem Magen zur Seherin wird, und ein Mönch im Geruch der Ketzerei, der (die Figur ist echt) eine Flugmaschine gebaut hat. Er kann sich in die Lüfte erheben, aber er wird von der Inquisition verfolgt, die ihn der Hexerei beschuldigt.

Es ist eine gewalttätige und epische Geschichte, in der Saramago bereits seinen strukturellen Atheismus zum Ausdruck bringt und in der Figuren auftauchen, die in anderen Werken wiederkehren werden: ein Mann mit eingeschränkten Fähigkeiten, eine Frau, die die Fähigkeit hat, zu sehen, was andere sich nicht vorstellen können, ein Lebewesen, das den Weg weist - oft ein Hund, der mit Hilfe seines Geruchssinns als Wegweiser zur Überwindung von Schwierigkeiten dient.

Aber jeder seiner Texte verdient eine eigene Betrachtung: von "Das steinerne Floß", in dem er sich vorstellt, wie die iberische Halbinsel vom Kontinent abbricht und in Richtung Lateinamerika segelt, über die "Geschichte der Belagerung von Lissabon", die sowohl im Mittelalter als auch in der Gegenwart spielt, bis hin zur berühmten "Stadt der Blinden", in der plötzlich alle aufhören zu sehen

Buch Saramago Stadt der Blinden"Die Stadt der Blinden" - "Wer schauen kann, der sehe. Wer sehen kann, der betrachte" –, 1997 in deutscher Sprache erschienen, ist ein erschreckender Roman, der durch die Corona-Pandemie schlagartig Aktualität erhielt. Es ist ein Roman über eine Menschheit im Belagerungszustand. Saramago liefert eine detaillierte Beschreibung des totalen Zusammenbruchs der Gesellschaft nach einer überaus unnatürlichen Katastrophe. Als die Epidemie – die Menschen erblinden - sich ausbreitet, gerät die Regierung in Panik und beginnt, die Opfer in einer leerstehenden Nervenheilanstalt unter Quarantäne zu stellen. Dort werden sie von Soldaten bewacht, die den Befehl haben, jeden, der zu fliehen versucht, zu erschießen.

Die gesamte gesellschaftliche Struktur verändert sich, um sich den neuen Umständen anzupassen -- einer Welt, in der einst zivilisierte Stadtbewohner zu zerlumpten Nomaden werden, die sich auf der Suche nach Nahrung von Gebäude zu Gebäude tasten. Saramago malt eine Hölle aus, in der diejenigen, die auf der Straße erblindeten, niemals mehr ihr Zuhause finden werden, in der Menschen gezwungen sind, Hühner roh zu verspeisen, und Rudel von Hunden auf der Suche nach Leichen über die kotübersähten Bürgersteige streunen.

Als erste Blinde beginnen über eine Art gesellschaftliche Organisation nachzudenken, werden alle Blinden wundersamerweise wieder sehend, bevor sich eine der Überlegungen in der Praxis bewähren musste.

Insbesondere zwei Werke, in Wirklichkeit aber eigentlich alle, haben in der katholischen Welt für Aufruhr gesorgt:

Buch Saramago Das Evangelium"Das Evangelium nach Jesus Christus", das in einem Palästina spielt, das dem heutigen so ähnlich ist, und "Kain", das in die Vorzeit zurückreicht. In beiden wettert Saramago, der Portugal als Atheist verlassen hat, um nicht täglich mit der klerikalen Propaganda konfrontiert zu werden, gegen einen rächenden Gott, der nach Macht über die Menschheit und die Kontrolle über das Leben auf dem Planeten strebt. Ein Gott, der weder Liebe noch Barmherzigkeit kennt und dem man nicht glauben sollte.

Nach einem Vortrag vor Student:innen - er sprach von Liebe und Hass gegenüber der herrschenden Macht, vom Wert einer Freiheit, die es im Kapitalismus nicht geben kann -, für den er von den jungen Leuten tosenden Applaus erntete, sagte Saramago: "Passt auf euch auf. Und wenn ihr die Revolution macht ... ruft mich an".

José Saramago muss man lesen und wieder lesen, denn seine Geschichten strahlen einen befreienden Kommunismus aus, den die Welt so nötig hätte. Hundert Jahre später ist er für die Mächtigen und ihre politischen und ideologischen Agenten noch immer ein Dorn im Fleisch.

 

Fußnoten

[1] Conferência «Uma visão universal e progressista da História - A actualidade da Obra de José Saramago», 22 Outubro 2022, Lisboa: Intervenção de Margarida Botelho, membro do Secretariado do Comité Central do PCP,
https://www.pcp.pt/encerramento-da-conferencia-uma-visao-universal-progressista-da-historia-actualidade-da-obra-de-jose