Der Kommentar

China Wu Huiping13.10.2022: Wu Huiping, Professorin der Tongji-Universität und stellvertretende Direktorin des Deutschlandforschungszentrums der Tongji-Universität, zum 50. Jahrestag der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik.

 

Vor fünfzig Jahren haben die Regierungen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland entschieden, das dicke Eis zu brechen und offizielle diplomatische Beziehungen aufzunehmen, trotz der Tatsache, dass sich beide Länder hinsichtlich des politischen und gesellschaftlichen Systems in großem Maße unterscheiden. Viele hatten sich damals kaum ausmalen können, dass die chinesisch-deutschen Beziehungen einmal zu derartiger Intensität und Vielfalt reifen würden. Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen ist nun ein halbes Jahrhundert verstrichen. Heute stehen beide Länder erneut an einem wichtigen Scheideweg. Meines Erachtens sind die Wahrnehmung, der Grundton und die politisiche Neuausrichtung beider Länder in Bezug auf drei grundlegende Fragen beachtenswert.  

Erstens geht es darum, wie man die Merkmale des Zeitalters erfasst. Angesichts großer Veränderungen setzen beide Länder in ihren Strategien darauf, sich als wahre "global player" zu positionieren und ihr jeweiliges Mitspracherecht bei der regionalen wie globalen Governance zu mehren. In diesem Kontext sind beide Länder, China wie Deutschland, aktiv dabei, zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen.

Aus der Sicht Chinas steht die Welt heute vor einem Jahrhundertwandel. Mit seiner in jeder Hinsicht signifikant wachsenden Stärke und merklich verbesserten internationalen Stellung erhofft sich China eine noch selbstbewusstere Gangart mit der Welt und offeriert mehr chinesische Lösungsansätze in regionalen wie auch internationalen Angelegenheiten.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf der anderen Seite hat jüngst eine "Zeitenwende" festgestellt und damit Umdenken in der deutschen Politik eingeleitet. Nun werden in Deutschland die Stimmen lauter, die eine führende Rolle in Europa, wenn nicht sogar weltweit fordern. Die deutsche Forderung nach einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde erneut gestellt. Die Bundesregierung arbeitet gerade daran, sich sowohl außen- als auch sicherheitspolitisch neu auszurichten und eine nationale Sicherheitsstrategie auf den Weg zu bringen. Geplant ist zudem, den Verteidigungshaushalt aufzustocken, um Deutschlands militärische Stärke zu erhöhen. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten wird die Militärpräsenz im Indo-Pazifik wieder sichtbar. Parallel dazu leitet die Bundesregierung einen Kurswechsel in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik ein, wobei die bisher praktizierte Leitidee vom "Wandel durch Handel" zunehmend über Bord geworfen und die Diversifizierung als neue außenpolitische Strategie angestrebt wird.    
  
Zweitens geht es meiner Meinung nach um die Frage, wie beide Länder die bilateralen Beziehungen definieren. Die bis dato anhaltende Pandemie, die fortwährenden regionalen Konflikte mitsamt ihren Folgen haben das geopolitische Bewusstsein der Europäer geschärft. Dies führt dazu, dass für westliche Politiker sowie einige Denkfabriken und Medien der Systemwettbewerb zunehmend in den Vorgrund rückt. Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen liegt es China am Herzen, eine umfassende strategische Partnerschaft mit Deutschland zu pflegen. China möchte, dass die chinesisch-deutsche Zusammenarbeit eine Vorbildfunktion für die Entwicklung der chinesisch-europäischen Beziehungen spielt. Die Volksrepublik ist zudem gewillt, im Umgang mit Deutschland und Europa neue Entwicklungsmodelle und alternative Wege des Fortschritts aufzuzeigen, die auf den Gegebenheiten des Landes beruhen und sich von denen des Westens unterscheiden.

Auf der Gegenseite versuchen Deutschland und Europa derweil, die chinesisch-europäischen Beziehungen neu aufzustellen. Sie bemühen dabei den Dreiklang von China als Kooperationspartner, Wettbewerber und systemischem Rivalen und betonen, dass China immer mehr zum systemischen Rivalen werde. Mit vermehrten geopolitischen Einflussfaktoren gehen inzwischen mehr Kontroversen und Konflikte zwischen China und Deutschland einher.  
  
Nicht zuletzt geht es meines Erachtens auch um die Bewertung externer Abhängigkeiten. Unter dem Eindruck der Entglobalisierung, der neuen technologischen Revolution sowie bestehender regionaler Konflikte gestaltet sich die internationale Konstellation in Politik, Wirtschaft sowie Wissenschaft und Technologie komplex und wechselhaft. Vor diesem Hintergrund schenken sowohl China als auch Deutschland Themen wie Resilienz von Wertschöpfungsketten und selbständiger Innovation immer größere Beachtung und versuchen Balance zwischen Eigenständigkeit und internationaler Zusammenarbeit zu halten. 
  
China hat als Reaktion auf solche Überlegungen seinerseits die Schaffung eines neuen Gefüges der wirtschaftlichen Entwicklung forciert, bei dem der inländische Wirtschaftskreislauf die Hauptstütze der Wirtschaft darstellen soll, der sich mit dem internationalen Kreislauf ergänzt. Trotz des in- und ausländischen Drucks arbeitet das Land daran, Durchbrüche in Schlüsseltechnologien zu erreichen, um selbständige Innovationen in Wissenschaft und Technologie vorzunehmen.

Auf der anderen Seite des eurasischen Kontinents werden in Deutschland unterdessen die Stimmen lauter, die eine geringere Abhängigkeit von anderen Ländern fordern. Sie gelten nun als allgemeiner Konsens und Grundton der deutschen Politik. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen etwa sieht Deutschland in der Gefahr dreier Abhängigkeiten, nämlich von Russland bei der Energie, von den USA im Bereich Sicherheit und von China in Bezug auf Wirtschaft und Handel. Angetrieben von solchen Überlegungen sind die Bemühungen Deutschlands zur Reduzierung einseitiger politischer, wirtschaftlicher sowie sicherheits- und energiepolitischer Abhängigkeiten längst in Gang. Man sucht längerfristig nach neuen Partnern, etwa in Asien und Afrika, aber auch in Lateinamerika.  

In den vergangenen 50 Jahren haben sich die diplomatischen Beziehungen und die Zusammenarbeit beider Seiten als denkbar robust erwiesen. Politisch wie diplomatisch fährt China gegenüber Deutschland im Großen und Ganzen einen stabilen Kurs ohne große Unvorhersehbarkeiten. Manche vorteilhafte politische Maßnahmen, die China im Zuge der Reform und Öffnung ergriffen hat, kommen Deutschland zugunsten der bilateralen Beziehungen zugute. Hier ist der Versicherungskonzern Allianz SE zu nennen, der als erster ausländischer Versicherer eine eigene Asset-Management-Gesellschaft in China etablieren durfte. 
  
Umgekehrt wird in der China-Politik Deutschlands nach jahrelanger Stabilität in jüngster Zeit aber eine merkliche Nachjustierung wenn nicht sogar Neuausrichtung spürbar. Konkret schlägt sich dies in der Überbetonung geopolitischer Faktoren, einem zunehmenden Abbau der Abhängikeit vom chinesischen Markt und einem stärkeren Schulterschluss mit den USA und Europa nieder.

Doch abgesehen davon können beide Länder bei ihrer Zusammenarbeit noch immer auf ein vergleichsweise bruchfestes Fundament bauen. Europas geographische Lage bedingt, dass der Kontinent sich hinsichtlich der politischen, wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen maßgeblich von den USA unterscheidet. Um seine Stärke zu bewahren, muss Europa im Geiste der strategischen Autonomie handeln.

Andererseits sollten die Entscheidungsfinder in Deutschland Problemen und Mankos im Hinblick auf interne Solidarität, Sicherheit und Verteidigung sowie auch die Gefolgschaft gegenüber den USA nüchtern ins Auge sehen. Europa sollte vermeiden, sich in eine Zwickmühle von wirtschaftlicher Rezession, knapper Energieversorgung und Lebensmittelengpässen zu begeben. Fehl am Platze wäre auch, Hauptprobleme und Widersprüche auf die Abhängigkeit von China abzuwälzen, wobei die Auswirkungen wirtschaftlicher Abhängigkeiten unnötig hochgespielt werden, genauso wie die vermeintlichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit in Deutschland durch "unzuverlässige" Hersteller. De facto unterwerfen sich in Europa tätige chinesische Unternehmen einer weitaus strengeren Glaubwürdigkeitsprüfung als europäische Unternehmen.  
  
Allgemein anerkannt ist in Wirtschaftskreisen beider Länder zudem, dass gegenseitige Abhängigkeiten in Wirtschaft und Handel einen gemeinsamen Nutzen bringen. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich die politischen Kontakte eher zurückhaltend gestalten, erweisen sich die Wirtschaft und Handel als Motor dafür, die chinesisch-deutschen Beziehungen zu stabilisieren und weiter zu vertiefen.

Seit 2016 ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Die Direktinvestitionen aus Deutschland in China beliefen sich in der ersten Hälfte des laufenden Jahres auf zehn Milliarden Euro. Es ist das stärkste Halbjahr des 21. Jahrhunderts für deutsche Direktinvestitionen in China. Deutsche Unternehmen wie Daimler, Volkswagen, BMW und ALDI sind gerade dabei, ihre China-Geschäfte auf verschiedenen Wegen auszuweiten. Besonders erwähnenswert ist, dass der deutsche Chemieriese BASF Ende Juli bekanntgegeben hat, die abschließende Genehmigung für den Bau eines zweiten Verbundstandorts in der Stadt Zhanjiang in der südchinesischen Provinz Guangdong zu erteilen. BASF kündigte an, bis 2030 bis zu zehn Milliarden Euro in das Megaprojekt zu investieren. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist auf Handelskooperation mit anderen Ländern in höchstem Maße angewiesen. Es ist für Deutschland unvorstellbar, sich von der Welt, einschließlich China, abzukoppeln. Die große Mehrheit der deutschen Unternehmen, die in China vertreten sind, ist nicht bereit, den riesigen chinesischen Markt mitsamt seinem dynamischen Wachstum in Bereichen wie Chemie und Elektromobilität aufzugeben. 
  
Sowohl China als auch Deutschland treten dafür ein, eine offene und pluralistische Welt aufzubauen und die internationale Zusammenarbeit auszuweiten, um den regionalen und globalen Frieden zu wahren und den Dialog über Sicherheitsfragen aufrechtzuhalten. Beide Länder sprechen sich dagegen aus, dass Großmächte gewaltsam nach Einflusssphären streben oder diese untereinander aufteilen. Seit alters her plädiert China dafür, den Austausch und das gegenseitige Lernen zwischen den Zivilisationen zu fördern und neuartige Beziehungen zwischen Großmächten aufzubauen. China begrüßt die friedliche Beilegung internationaler Konflikte und Streitigkeiten und vertritt die Auffassung, dass die verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme in Ost und West die wohlüberlegte Wahl jedes einzelnen Landes darstellen. Und diese Wahl stützt sich auf die jeweiligen eigenen Gegebenheiten, Mentalitäten und historische Hintergründe. 
  
Systembedingte Unterschiede dürfen nicht zum Hemmnis für die Entwicklung oder die Vertiefung bilateraler Beziehungen werden. Hierfür ist es ratsam, dass sich die neue China-Strategie Deutschlands nicht auf die Idee einer begrenzten Zusammenarbeit und geopolitisches Denken beschränkt. Stattdessen ist es angebracht, Differenzen zurückzustellen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen sowie die Differenzierung und Einzigartigkeit von Gesellschaftssystemen und historischen Entwicklungspfaden zu respektieren. Beruhend auf dieser Prämisse sollten wir uns von den Denkmustern des Kalten Krieges, nämlich der Aufteilung der Welt in Freund und Feind, lösen und die Realität anerkennen, dass Wettbewerb und Kooperation nebeneinander bestehen.      
  
Gegenwärtig tauchen immer wieder neue komplexe Herausforderungen auf, die zeitbedingt sind und globale Auswirkungen haben. Alle Länder sind gemeinsam schwierigen Situationen ausgesetzt. Als Folge werden der Globalisierungsprozess und das weltweite Wirtschaftsgefüge, die seit dem Ende des Kalten Krieges stets auf internationaler Arbeitsteilung und Zusammenarbeit beruhten, in Mitleidenschaft gezogen. Wetter- und Klimaextreme nehmen stetig zu, globale Pandemien wie COVID-19 hemmen die wirtschaftliche und soziale Ordnung der Länder in aller Welt immens, und regionale Konflikte, wie der zwischen Russland und der Ukraine, haben zu sekundären Herausforderungen wie regionalen Sicherheitskrisen und Energieversorgungsengpässen geführt. Die Folge: Europa hat nun mit einem langwierigen Zermürbungskrieg zu kämpfen.  
  
Alles im allem gestaltet sich das Umfeld für internationale Kontakte also turbulent. Das geht natürlich auch an den chinesisch-deutschen Beziehungen nicht spurlos vorüber. Diese entpuppen sich als immer komplizierter. In Anbetracht all dieser Umstände ist es umso wichtiger, die chinesisch-deutschen Beziehungen langfristig auf einem stabilen Kurs zu halten, um den Herausforderungen der Zeit erfolgreich begegnen zu können. Die chinesisch-deutsche Partnerschaft sollte stärker auf gemeinsame Interessen und grundlegenden Konsens ausgerichtet werden, um gemeinsam nach Kompromisslösungen zu suchen und die Zusammenarbeit in Bereichen wie Umweltschutz, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung sowie Kultur zu vertiefen. Gelingt dies, werden China und Deutschland eine noch wichtigere Rolle dafür spielen, die globale Lage zu stabilisieren und zur Lösung der großen globalen und aktuellen Probleme beizutragen.  
 

*Wu Huiping ist Professorin der Tongji-Universität und promovierte an der Technischen Universität Darmstadt. Sie ist als stellvertretende Direktorin des Deutschlandforschungszentrums der Tongji-Universität tätig, Dekanin der Deutschen Fakultät und stellvertretende Direktorin des Chinesisch-Deutschen Zentrums für Gesellschaftlich-Kulturellen Austausch. 

übernommen von german.chinatoday.com.cn