Der Kommentar

Logo Antikriegsbildvon Felix Bartels  

Nachdem ich immer mal wieder gefragt werde, wie ich es fertigbringe, an meinen Einschätzungen und Positionen auch nach dem 24. Februar festzuhalten, gibt es wohl noch etwas Bedarf, den Grund zu ordnen, auf dem ich (wie alle anderen übrigens auch) stehe. Es geht schnell, keine Sorge.

 

Zunächst ist erfreulich, dass die Leute, die seit Februar ein Umdenken fordern, zugeben, dass sie es sind, die ihre Meinung geändert haben. Sie passen sich an. Halten wir das erst einmal fest. Was immer man Leuten wie mir vorwerfen könnte, Wankelmut oder konvenientes Nachgeben gehört dazu nicht.

Zweitens allerdings frage ich mich, was ich denn eigentlich revidieren sollte. Ich habe mich bei diesem Komplex weder geirrt noch getäuscht. In Russland nicht, und nicht in den westlichen Mächten.

Weder habe ich vor dem 24. Februar gesagt, die russische Armee werde schon keinen Krieg beginnen, noch habe ich den imperialistischen Charakter der russischen Politik geleugnet. Schon 2014 hatte ich den russischen Zugriff auf die Krim mit dem der NATO auf den Kosovo verglichen. Nichts von dem, was Putin am und seit dem 24. Februar anordnete, sprengt den Rahmen, in dem marxistisch-leninistische Analyse stattfindet. Der Ukrainekrieg war unter Maßgabe der Instrumentarien und Muster, mittels denen ich Weltpolitik verstehe, erwartbar und kann nach wie vor mit Erkenntnisgewinn interpretiert werden.

"Putins Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, so verwerflich sie ist, ändert nichts am Charakter der vorausgegangenen Politik."

Und dasselbe gilt für die Politik der NATO-Staaten. Die Forcierung des Regime Changes in Kiew 2014, die Aufrüstung der Ukraine auch vor dem 24. Februar 2022 schon, das strategische Kalkül hinter der NATO-Osterweiterung, der Kampf um den Energiemarkt, der Zusammenhang von EU- und Krimkrise – all das und vieles mehr war auch vor dem Angriff schon bekannt und musste zwingend Teil der Überlegungen werden.

Putins Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, so verwerflich sie ist, ändert nichts am Charakter der vorausgegangenen Politik. Ändert nichts daran, dass wir in einem imperialistischen Zeitalter leben, in denen Mächte als verfeindet-gleichartige aufeinander prallen und kleinere Nationen die Interessen der großen mit Menschenleben zu bezahlen haben. Putins Entscheidung bestätigt das Muster, sie widerlegt es nicht. Zu glauben, dass sie gewissermaßen nachträglich den objektiven Charakter der amerikanischen Militär- und Außenpolitik seit 1990 ändern könnte, hieße, daran zu glauben, dass es in Putins Macht liege, mittels eines einzelnen Befehls den Inhalt eines bereits geschehenen Abschnitts der Weltgeschichte nachträglich zu verändern. Genau diese Auffassung aber ruft jemand herbei, der fordert, man müsse jetzt nach Putins Angriff die Rolle der NATO retrospektiv neu bewerten.

Nun ist aber auch das noch zu defensiv. Es geht ja nicht bloß um Sachverhältnisse, die analysiert werden. Politische Rede folgt immer Absichten. Menschen haben Interessen, auch verborgene Motive. Ich verstehe die an die gesamte Linke herangetragene Forderung nach Umdeutung der bisherigen Geschichte als einen Akt opportunistischer Disziplinierung.

"Dieser Krieg ist unser 1914 – nicht technisch, in dieser Hinsicht hat sich vieles verändert seit Verdun, aber politisch: Ein internationales Ereignis, das national wirkt, eine nationalistische Welle, die den Internationalismus killt, ein imperialistischer Krieg, der kollateral den Zusammenbruch der linken Bewegung besorgt."

Wenn ich vom ersten Tag des Krieges an gegen den Strom geschwommen bin, also nicht die Parole ausgegeben habe, ab jetzt sei nur noch Putin der Feind, alles andere müsse zurückgestellt werden usf., dann nicht, weil mich das Schicksal der Menschen in der Ukraine kaltgelassen hat. Ich habe mit Beginn des Krieges etwas geahnt, das sich bald bestätigte. Dieser Krieg ist unser 1914 – nicht technisch, in dieser Hinsicht hat sich vieles verändert seit Verdun, aber politisch: Ein internationales Ereignis, das national wirkt, eine nationalistische Welle, die den Internationalismus killt, ein imperialistischer Krieg, der kollateral den Zusammenbruch der linken Bewegung besorgt.

Am ersten Wochenende nach dem Angriff fanden in Berlin als Friedensdemos annoncierte Veranstaltungen statt. Ich war an dem Tag in der Stadt unterwegs, durchschwamm den Strom hunderter Menschen, die sich kriegstreiberisch gebärdeten. Als ich schrieb, dass es sich eigentlich um Kriegsdemos handele, habe ich für diese Anschuldigung einigen Unmut von Leuten geerntet, die ihrerseits keine zwei weiteren Wochen benötigten, um Waffenlieferungen und Hochrüstung nunmehr auch angemessen zu finden.

Es macht überhaupt keinen Spaß, innere Entwicklungen von Menschen früher zu bemerken als sie selbst an sich. Solange sie noch nicht wissen, was sie tun, kann man es ihnen nicht beweisen, und ab dem Moment, wenn man es ihnen beweisen kann, ist es gleich, weil sie ab da nicht mehr schlimm finden, was sie gestern noch entrüstet abgestritten haben. Es früher gewusst zu haben als sie nützt gar nichts. Und doch ist grundsätzlich gut, wenn jemand sich zum Kenntlichen verändert.

Wir werden auf Jahre mit den Aufräumarbeiten des zertrümmerten linken Spektrums beschäftigt sein. Es wird Leute geben, die sich aus Trotz einigeln und die russische Invasion nachträglich immer logischer und angemessener finden. Es wird Leute geben, die endgültig verloren sind an die bundesdeutsche Zivilgesellschaft, wo sie ihren Frieden mit dem Imperialismus der westlichen Staaten machen und die Scham über diese Preisgabe linker Positionen durch einen exklusiv anti-russischen Antiimperialismus auszugleichen suchen. Es wird Leute geben, die sich irgendwann wieder erinnern, dass auch das US-Militär Kriege geführt hat mit hunderttausenden Toten, mit Folter und Kriegsverbrechen, aus denselben Interessen heraus wie die anderen imperialistischen Akteure, und diese Leute, die langsam wieder zu sich kommen, werden es schwer haben, ohne Scham zu klassischen und bewährten Positionen der Linken zurückzukehren.

Auch dieser Prozess also – diese gigantische opportunistische Umwälzung der einzigen Bewegung, die dem real existierenden Kapitalismus wenigstens etwas Widerstand entgegensetzt – war ein Grund, am 24. Februar an der marxistischen Analyse und an den linken Positionen, die sich aus ihr ergeben, festzuhalten. Denn er ist der größte Begleitschaden dieses Krieges.

 

Felix BartelsFelix Bartels
studierte Klassische Philologie und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und schloss mit einer Arbeit zu Platons Theaität ab. Von 2009 bis 2013 arbeitete er regelmäßig an Editionen des VAT (Mainz), als Redakteur der Literaturzeitschrift Argos und Leiter der Edition Neue Klassik. Von 2014 bis 2020 war frei u. a. für den Aurora Verlag der Eulenspiegel Verlagsgruppe tätig, ab 2016 Redakteur des Jahrbuchs der Peter Hacks Gesellschaft. Seit 2020 arbeitet er fest für den Eulenspiegel Verlag.
Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit liegen bei Literatur der DDR und Kinderliteratur, James Krüss, Maurice Sendak und besonders bei Peter Hacks, außerdem beim Deutschen Idealismus und marxistischer Theorie. 2011 arbeitete er am ersten Band einer Gesamtausgabe der Schriften Saul Aschers. Die Studie "Leistung und Demokratie" ist zugleich der Versuch, eine Theorie der sozialistischen Gesellschaft anzureißen.
Als Autor beschäftigt sich Bartels hauptsächlich mit Themen der politischen Theorie, Ideologiekritik, Philosophiegeschichte, Filmkritik und Poetik. Er veröffentlicht in junge Welt, Neues Deutschland, konkret und Jungle World. Sein Buch Odysseus wär zu Haus geblieben untersucht Irrationalität im politischen Denken.
(Wikipedia)