Der Kommentar

Ein Kommentar von Leo Mayer
26.05.2015: Bundesfinanzminister Schäuble wollte für die griechische Regierung bereits im Februar "game over" verkünden. Mit der Vereinbarung Athens mit der Eurogruppe vom 20. Februar und der damit versprochenen Brückenfinanzierung der European Financial Stability Facility (EFSF) über vier Monate und der Überweisung der EZB-Gewinne der Europäischen Zentralbank aus den griechischen Anleihekäufen des Securities Market Programme schien Griechenland eine Verschnaufpause zu bekommen.

Obwohl die griechische Regierung ihre "Reformliste" immer wieder überarbeitete und den Forderungen der "Institutionen" entgegenkam, ist entgegen der Vereinbarung bisher kein Euro der zugesagten Kredite – fälschlicherweise häufig "Hilfe" genannt - nach Griechenland geflossen. Auf der anderen Seite hat Griechenland entgegen allen Unkenrufen bisher seine Zahlungsverpflichtungen eingehalten und pünktlich die fälligen Rückzahlungen für Kredite und Zinsen bedient. Doch jetzt scheint das Ende der Fahnenstange erreicht.

Unbezahlbare Schulden
Nach zwei mit der Troika vereinbarten Programmen (Memoranden) und einer Restrukturierung der Schulden ist die staatliche Verschuldung Griechenlands mit 312,6 Mrd. Euro nach wie vor untragbar hoch; im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ist sie sogar von 130 Prozent zu Beginn der Troika-Programme auf 180 Prozent angestiegen. Deutschland und Frankreich sind mit ca. 160 Mrd. Euro die beiden größten Gläubiger. Die Agentur für das Management Öffentlicher Schulden (ODDHX) in Athen hat jüngst die Struktur der Schulden und die bevorstehenden Zahlungen für Kredite und Zinsen veröffentlicht. Selbst wenn Griechenland keine neuen Kredite aufnehmen würde und die Zinssätze stabil blieben, müsste Athen im Zeitraum von 2015 bis 2057 Jahr für Jahr durchschnittlich 10 Mrd. Euro Tilgung und Zinsen an den Internationalen Währungsfond (IWF), die Europäische Zentralbank (EZB), die Europäische Union (EU) und die EU-Mitgliedsländer und an verschieden Finanzinvestoren bezahlen. In diesem Jahr werden 38,328 Mrd. Euro fällig.

Vor diesem Hintergrund hat der griechischen Innenminister Nikos Voutsis am Sonntag (24.5.2015) angekündigt, dass der IWF im Juni kein Geld aus Griechenland erhalten werde. 1,6 Milliarden Euro soll Griechenland in vier Tranchen an den IWF zahlen. "Wir haben das Geld dafür nicht", sagt Innenminister Nikos Voutsis im griechischen Fernsehen. "Wir werden keine Erpressung akzeptieren, die die uns für Zahlungsfähigkeit nur ein Memorandum oder den Bankrott lässt", setze er hinzu.

Der Tagung des Zentralkomitees von SYRIZA am Pfingstwochenende lag ein Antrag der "Linken Plattform" vor, die Zahlungen an die Gläubiger einzustellen, auch "wenn dies zum Austritt aus der Eurozone führen sollte". Panagiotis Lafanzanis, Sprecher der "Linken Plattform" und Minister für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sagte, dass er nicht daran glaube, dass eine Vereinbarung mit den Institutionen in Kürze zu erreichen sei. Griechenland müsse eine "alternative Finanzierung" ausfindig machen, sagte Lafanzatis und bekräftigte seinen Widerstand gegen die Privatisierung der Häfen, der Eisenbahn und der Flughäfen.

Der Antrag der "Linken Plattform", der die Regierung drängt die grundlegenden Ziele und Wahlkampfversprechen einzuhalten, wurde angenommen, jedoch der Vorschlag die Zahlungen an die internationalen Gläubiger zu stoppen mit einer knappen Mehrheit von 11 Stimmen (56% - 44%) abgelehnt. Damit gab SYRIZA Premierminister Alexis Tsipras und Finanzminister Yanis Varoufakis grünes Licht für die weiteren Verhandlungen mit den "Institutionen", aber mit der Einschränkung keine Vereinbarung im Stile der "Memoranden" zu treffen und die "roten Linien" nicht zu überschreiten. (Resolution)

Berlin: Griechische Regierung soll kapitulieren
Parallel haben über das gesamte Pfingstwochenende Finanzexperten der Athener Regierung und Vertreter des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission in Brüssel verhandelt. Die Zeit drängt, denn bereits am kommenden Freitag muss die Athener Regierung die Renten und die Löhne der Staatsangestellten bezahlen und soll eine Woche später Schulden beim Internationalen Währungsfonds in Washington tilgen. Bundesfinanzminister Schäuble lehnt es dabei ab, Athen mit einer Verlängerung des laufenden Hilfsprogramms entgegenzukommen. Der CDU-Politiker sagte im Deutschlandfunk am Sonntag (24.5.), die Regierung in Athen habe sich verpflichtet, die Zusagen zu erfüllen. Deshalb brauche man auch nicht über Alternativen zu sprechen. Griechenland sei auch kein Problem, das die G7 lösen könne, betonte Schäuble mit Blick auf das Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der sieben führenden Industrieländer in der kommenden Woche in Dresden.

Obwohl auch die Bundesbank von einer "besorgniserregenden" Lage spricht, da die Zahlungsfähigkeit Athens "akut bedroht" sei, bleibt Berlin unnachgiebig. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, sie sehe keine rasche Lösung der Griechenland-Krise. "Es ist noch eine ganze Menge zu tun", sagte sie nach dem Treffen mit Alexis Tsipras in Riga. Athen müsse noch "sehr, sehr intensiv" mit den Gläubiger-Institutionen verhandeln, bevor frisches Geld fließe, sagte Merkel weiter.

Die Eurogruppe fordert weitere Rentenkürzungen, weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Erleichterung von Massenentlassungen, Erhöhung der Steuern für die breite Masse der Bevölkerung. Insbesondere der Internationale Währungsfond drängt darauf, dass auch künftig den Gewerkschaften Verhandlungen über kollektive Tarifverträge verboten bleiben. Umstritten sind die zu erwirtschaftenden Primärüberschüsse. Der Vorschlag der Europäischen Kommission in Fragen des zu erwirtschaftenden Primärüberschusses einige Zugeständnisse zu machen, stieß auf die sofortige Zurückweisung durch die deutsche Regierung. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, dass der von Griechenland zu erwirtschaftende Primärüberschuss in diesem und im folgenden Jahr abgesenkt werden soll - um ab 2017 erneut auf den absurd hohen Wert von 3,5 Prozent angehoben zu werden. Allein schon eine kurzfristige Linderung der brutalen Sparpolitik, die Griechenland in den wirtschaftlichen Zusammenbruch und eine humanitäre Katastrophe führte, wird aber in Berlin und vielen anderen Hauptstädten Europas vehement abgelehnt. Berlin will die Kapitulation Linksregierung in Griechenland.

"Anstatt einen Grexit zu erzwingen, könnte die EU Griechenland innerhalb der Eurozone gefangen halten, ihm das Geld ausgehen lassen und danach einfach nur abwarten und zusehen, wie Tsipras’ politische Unterstützung im Inland zusammenbricht. Eine solche Belagerungsstrategie – also abzuwarten, dass Griechenland das Geld ausgeht, das es benötigt um die regulären Staatsfunktionen aufrecht zu erhalten – scheint inzwischen die am besten geeignete Technik der EU zu sein um den griechischen Widerstand zu brechen. Wahrscheinlich wird sie erfolgreich sein, da es der griechischen Regierung immer schwerer fällt, genug Geld aufzutreiben um Ende jeden Monats Löhne und Renten zu zahlen", beschreibt das Nachrichtenportal oikonomia.gr die Strategie der Eurogruppe unter Führung Berlins.

Es geht längst nicht mehr um unterschiedliche wirtschaftspolitische Konzepte: Hier aus der Krise heraussparen und Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit – was jedoch, wie die Praxis zeigt, die Krise immer weiter verschärft -, und dort eine Politik, die "Wachstum auf der Basis interner Nachfrage und nicht nur auf der Stärkung der Exportfähigkeit" verfolgt sowie "die Arbeitsrechte und die Erhöhung der Löhne respektiert, um die Binnennachfrage zu unterstützen und Anreize zu schaffen, damit die ins Ausland emigrierten hochqualifizierten Arbeitskräfte zurückkehren". (Alexis Tsipras bei der Tagung des griechischen Unternehmerverbandes, 19. Mai 2015)

Die griechische Seite ist zu Kompromissen bereit, erklärt jedoch immer wieder unmissverständlich, dass sie sich nicht erpressen lässt und dass "das Mandat des griechischen Volkes nicht verhandelbar" ist. In Umsetzung ihres Wahlprogramms hat die Linksregierung in Athen sowohl Gesetze zur Bekämpfung der humanitären Krise, die Erhöhung des Mindestlohns, die Wiedereinstellung von 13.000 Staatsbediensteten wie auch die Wiedereröffnung des öffentlichen Rundfunk- und TV-Senders ERT beschlossen. Für die Eurogruppe verstoßen diese Gesetze "klar gegen den Geist der Reformverträge mit der Troika". Unbeachtet bleibt, dass auch der institutionelle Umbau der Verwaltung bereits begonnen hat, Maßnahmen zur Erhöhung der Steuereinnahmen ergriffen werden und der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerflucht angefangen hat.

Die Kompromisslosigkeit Berlins gegenüber Athen ist politisch motiviert, da die griechische Linksregierung den Neoliberalismus und die Austeritätspolitik – und damit die deutsche Hegemonie in Europa - offen herausfordert. Merkel und Schäuble können gegenüber Athen nicht nachgeben, weil dies zu enormen machtpolitischen Erschütterungen - und zu einer Erosion der deutschen Dominanz in der Eurozone - führen würde. Sollte die griechische Linksregierung handfeste Zugeständnisse erkämpfen können, die das Scheitern des neoliberalen Sparregimes deutscher Prägung in Europa offensichtlich machen würden, wäre dies eine Startsignal für linke und progressive Bewegungen in weiteren europäischen Ländern, dem griechischen Vorbild nachzueifern. Die jüngsten Wahlerfolge linker, um PODEMOS gruppierter Kräfte bei der Kommunalwahl sind ein Warnsignal an Regierenden. Deshalb kann sich Berlin auch auf die konservativ und sozialdemokratisch geführten Regierungen in den Nachbarländern, die ihrer Bevölkerung härteste Kürzungen zur Rettung der Banken verordnet haben, verlassen: Bei einem Erfolg von SYRIZA würden sie hinweggefegt werden. Deshalb muss die griechische Linksregierung noch vor den Wahlen in Spanien, Portugal und Irland in die Kapitulation oder Griechenland in den finanziellen Abgrund getrieben werden.

Deutsche Krisenpolitik in der Sackgasse
Dabei befindet sich die von Deutschland forcierte Austeritätspolitik inzwischen in einer Sackgasse. Denn diese Politik hat zwar die Dominanz Deutschlands in der Eurozone und der EU gefestigt, aber gleichzeitig werden dadurch die Zerfallstendenzen in der EU (siehe der Aufschwung antieuropäischer Parteien in ganz Europa) befördert.

Aber auch innenpolitisch sind Merkel und Schäuble – und die gesamte Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD – zur Geisel ihrer eigenen Politik geworden. Sie können sich angesichts eines sich formierenden Rechtspopulismus und ihrer bisherigen Politik der "Alternativlosigkeit" keine Korrektur ihrer bisherigen Politik erlauben.

Dabei liegt es auf der Hand, dass ein Staatsbankrott Griechenlands an der Eurozone nicht spurlos vorübergehen würde. Der griechische Finanzminister Varoufakis warnt: „Ich möchte alle warnen, die strategisch daran denken, Griechenland von Europa abzutrennen. Dies ist sehr gefährlich. Wer wird der Nächste nach uns sein? Portugal? Was wird passieren, wenn Italien entdeckt, dass es unmöglich ist, in der Zwangsjacke der Austerität zu bleiben?“

Zudem würden mit dem Ausscheiden peripherer EU-Länder aus der Eurozone auch die Vorteile abschmelzen, die der strukturell unterbewertete Eurokurs der deutschen Exportwirtschaft verschafft.
Letztendlich läuft die "Hardliner-Position" der deutschen Regierung auf eine Erosion des "deutschen" Europas und eine Stärkung der Desintegrationstendenzen der EU hinaus.

Diese krisenbedingt zunehmende strukturelle Instabilität der Eurozone wird noch durch eine geopolitische Dimension verschärft. Sollte Griechenland aus der europäischen Währungsunion ausscheiden, dann könnte sich das Land geopolitisch in Richtung Moskau orientieren, wie es sich in der Russlandvisite des griechischen Premiers Tsipras bereits andeutete. Die russische Regierung hat Griechenland inzwischen angeboten Mitgliedsstaat der BRICS-Bank zu werden. Athen könnte dann Kredite der BRICS-Bank erhalten, erklärte der russische Finanzminister Sergej Storchak. Die BRICS-Bank wurde 2014 von den BRICS-Ländern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als Alternative zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds gegründet. Eine solche geopolitische Machtverschiebung käme für Berlin, Brüssel wie auch Washington einer ausgewachsenen Katastrophe gleich, die ein enormes - auch militärisches - Eskalationspotenzial mit sich bringen würde.

Tsipras: "Wir wollen die Eurozone verändern"
SYRIZA will kein Ausscheiden aus der Eurozone. Schon vor längerer Zeit hat Alexis Tsipras in LE MONDE diplomatique geäußert:

"Denn die Eurozone existiert nun mal. Wir haben eine Wirtschaftsunion und eine gemeinsame Währung, und die unmittelbaren Alternativen sind schlechter. Ein Ausscheiden aus der Eurozone würde keinem Krisenstaat nutzen. Im Gegenteil. Es würde nur neue Probleme schaffen: die Umstellung auf eine instabile Währung, Sturm auf die Banken, Inflation, Kapitalflucht und Auswanderung. Schon deshalb sollte Griechenland nicht freiwillig aus der Eurozone ausscheiden.
Aber es gibt noch einen zweiten Grund. Das Ausscheiden Griechenlands oder eines der anderen Krisenländer wäre eine Katastrophe für ganz Europa. Denn sobald ein Land ausscheidet, werden die Märkte und die Spekulanten sofort fragen, wer der Nächste sein wird. Das ist ein Prozess, der - einmal begonnen - nicht mehr zu stoppen ist.
Unser Interesse als Europäer ist ein anderes: Wir wollen die Eurozone verändern."

Diese Position wurde am vergangenen Wochenende vom Zentralkomitee von SYRIZA noch einmal bekräftigt.

Aber Athen – selbst wenn vielleicht demnächst noch Madrid und Dublin hinzukommen sollten – kann die Entwicklungsrichtung der EU und der Euro-Zone nicht alleine verändern. Der Kampf gegen Austerität und Neoliberalismus muss in ganz Europa geführt werden. Deshalb appelliert Tasos Koronakis, Sekretär des Zentralkomitees von SYRIZA, an die Linkskräfte und sozialen Bewegungen Europas:

"Nach nunmehr fast vier Monaten intensiver Verhandlungen steht unser europäisches Projekt vor einem Augenblick der Wahrheit.
In diesen kritischen Augenblicken rufen wir zu Akten sozialer und politischer Solidarität auf, die von Kundgebungen zu Aufklärungskampagnen in ganz Europa reichen und die sowohl Initiativen auf institutioneller Ebene, in lokalen, regionalen und nationalen Parlamenten, als auch Unterstützungserklärungen durch Einzelpersonen und durch Gruppen für die Bemühungen Griechenlands beinhalten, das europäische Paradigma weg von der verheerenden Austeritätspolitik hin zu einem neuen Modell des nachhaltigen Wachstums umzugestalten.
Ihre und Eure Unterstützung ist von äußerster Wichtigkeit, nicht nur für die Menschen in Griechenland, sondern für das Schicksal der europäischen Idee."

Am 20. Juni, dem internationalen Flüchtlingstag und dem Beginn der Griechenland-Solidaritätswoche des Weltsozialforums wird neben den Demonstrationen in Rom, London, Brüssel und in vielen anderen Städten Europas auch aus Berlin und vielen deutschen Städten ein Zeichen gesendet werden: Es gibt das Europa der Solidarität!


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