Im Interview

Nadim Nashef Interview mit Nadim Nashef (Israel)

14.05.2021: Nadim Nashef lenkt den Blick auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die sich in gemischten Städten Israels mit einer starken arabisch-palästinensischen Präsenz wie Lod, Aco und Ramble abspielen - eine einschneidende Veränderung im Konflikt der israelischen Regierung mit den Palästinenser*innen. Er meint, dass vor allem die Verschlechterung und Verschlimmerung der wirtschaftlichen Bedingungen einen Krieg zwischen den Armen geschaffen haben.

 

 

In Israel und in Gaza geht das Blutbad weiter, der Zusammenstoß zwischen israelischer Armee und Hamas weitet sich aus. Die Rechnung wird von der Zivilbevölkerung - im wesentlichen der palästinensischen - bezahlt, mit Tod, Verletzung und Zerstörung.

Gaza Bombardement 2021 05 12

 

Jerusalem, der Brennpunkt des Konflikts       

 

Aber es ist nicht nur der laufende militärische Konflikt, der Aufmerksamkeit verdient. In Israel verschärft sich der Zusammenstoß zwischen jüdischen und arabischen Bürger*innen von Stunde zu Stunde. Israel Ostjerusalem 2021 05In gemischten Städten Israels - mit einer starken arabisch-palästinensischen Präsenz - wie Lod, Aco und Ramble, kommt es zu heftigen Zusammenstößen mit zahlreichen Verletzten und schweren Zerstörungen. Mobs arabischer Einwohner*innen zerstören Synagogen und verbrennen Autos von jüdischen Bürger*innen. Hunderte von Juden, von der extremen Rechten und unterstützt von fanatischen israelischen Siedler*innen aus dem Westjordanland, fallen in Lod, Akko und anderen gemischten Städten über ihre arabisch-palästinensischen Nachbar*innen und deren Eigentum her, zerstören Moscheen.

Israel Kafr Qasim 2021 05 13Die Nacht zum Donnerstag war eine der schlimmsten, die Israel je in Bezug auf die jüdisch-arabischen Beziehungen erlebt hat, mit mehreren Hassattacken in Städten im ganzen Land. Unruhen brachen in Haifa, Tiberias, Jaffa, Lod, Akko und Bat Yam aus. Im Tel Aviver Stadtteil Hatikvah kam es zu Zusammenstößen zwischen rechtsextremen jüdischen Aktivisten und arabischen Anwohner*innen.

Berichten zufolge organisieren sich rechtsextreme Militante auf Telegram und rufen zu Demonstrationen gegen Araber*innen und zu Gewalt auf. Die rechtsextreme Gruppe Lehava sagte, sie werde nächste Woche Pfefferspray und Tränengas an ihre Aktivisten verteilen.

Nach den anhaltenden Angriffen der vom israelischen Staat unterstützten bewaffneten Siedler auf arabische Bürger*innen in den gemischten Städten bilden junge Männer und Frauen Volks- und Zivilkomitees, um die arabischen Nachbarschaften vor diesen Angriffen zu schützen. Israel Haifa Schutz vor Siedlern 2021 05 13Die palästinensische Gemeinde in Lod ruft nach internationalem Schutz vor den staatlich sanktionierten Pogromen rechtsextremistischer Juden.

Die Polizei verhängte am Mittwochabend eine Ausgangssperre in der Stadt Lod, die zum Epizentrum der jüdisch-arabischen Zusammenstöße geworden war. Den Bewohnern wurde verboten, ihre Häuser zu verlassen, sich auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten oder die Stadt zu betreten.

7amleh - Arab Center for Social Media Advancement berichtet, dass Social-Media-Plattformen wie Facebook, WhatsApp, Twitter und Zoom mit israelischen Sicherheitseinheiten zusammenarbeiten und dass palästinensische Online-Inhalte wahllos zensiert und palästinensische Inhalte entfernt werden. Andererseits nutzen extremistische israelische Gruppen soziale Medien, insbesondere Telegram, als Mobilisierungsplattform, um gegen Araber*innen aufzuhetzen und ihr Leben zu bedrohen.

 

Doch es gibt auch Zeichen des Zusammenhalts von jüdischen und arabisch-palästinensischen Bürger*innen Israels. Etwa hundert Jüd*innen und Araber*innen demonstrierten am Donnerstagnachmittag gemeinsam an der Nahalal-Kreuzung im nördlichen Jezreel-Tal und riefen zu Ruhe und Koexistenz auf. In Haifa nahm der Parlamentsabgeordnete Nitzan Horwitz, Vorsitzender der links-zionistischen Partei Meretz, an einer Kundgebung zur Unterstützung des jüdisch-arabischen Zusammenlebens teil.

Israel Israelis Araber 2021 05

Die mit dem "Nationalstaatsgesetz" [1] verbundene Diskriminierung, die Palästinenser*innen zu Bürger*innen zweiter Klasse macht, und die gewaltsame Unterdrückung von Protesten hat zu einer explosiven Frustration bei den Palästinenser*innen geführt.

Nadim Nashef, ein Aktivist der israelisch-arabischen Zivilgesellschaft, u.a. Direktor von 7amleh - Arab Center for Social Media Advancement und langjähriger Community-Organisator für Jugend- und Gemeindeentwicklungsfragen, meint, dass vor allem die Verschlechterung und Verschlimmerung der wirtschaftlichen Bedingungen einen Krieg zwischen den Armen geschaffen haben. Zudem ist das Eindringen rechtsextremistischer jüdischer Organisationen in die arabischen Stadtteile ein Problem.

Das Interview wurde von der Zeitung il manifesto übernommen:

"In der gemischten Stadt Lod ist es nicht der Hass zwischen Juden und Arabern, sondern Armut und Gentrifizierung."

"So viele konkrete Faktoren, nicht der Hass zwischen Arabern und Juden oder die religiösen Spannungen, von denen manche sprechen, stehen hinter den bürgerkriegsähnlichen Szenen, die am Dienstagabend in den Straßen von Lod zu sehen waren." Nadim Nashef, Direktor von "7amleh, The Arab Center for the Advancement of Social Media" und ein Exponent der palästinensischen Zivilgesellschaft in Israel, räumt mit oberflächlichen Lesarten dessen auf, was in gemischten Städten, in denen Juden und Araber zusammenleben, geschieht.

"Ich spreche über reale Dinge, auch politischer Natur", fügt Nashef hinzu, dem wir gestern einige Fragen gestellt haben, "aber eher im Zusammenhang mit dem täglichen Leben. Ich spreche von Gentrifizierung, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und der Vertreibung arabischer Familien, die die immer höheren Mieten nicht mehr bezahlen können. All dies kombiniert mit dem Eindringen (in arabische Viertel) von Aktivisten jüdischer rechter Organisationen. Probleme, die auch in anderen gemischten Städten Israels, wie Haifa und Akko, zu verzeichnen sind und die z.B. mit dem Fall der von Räumung bedrohten palästinensischen Familien aus Sheikh Jarrah, in Jerusalem, Gemeinsamkeiten aufweisen.

Frage: Dutzende von Autos wurden in Brand gesetzt, Gebäude verwüstet, Gewalt zwischen Juden und Arabern auf den Straßen, die stundenlang andauerte, bis der Ausnahmezustand und die Ausgangssperre verhängt wurden. Warum in Lod?

Nadim Nashef: Der Auslöser war die Ermordung eines jungen Mannes, Musa Hassouna, durch einen jüdischen Einwohner während der arabischen Proteste gegen die Vorgänge in Jerusalem. Aber das Feuer schwelt schon seit einigen Jahren unter der Asche. In Lod ist die Bevölkerung ärmer als in anderen Städten und die arabische Gemeinschaft muss unter Bedingungen der Marginalisierung und schweren Umweltzerstörung ums Überleben kämpfen. Wenn jemand von Hass zwischen Juden und Arabern spricht, würde ich eher von einer wachsenden Abneigung der arabischen Bürger, und nicht nur in Lod, gegenüber Amidar sprechen.

Frage: Beziehen Sie sich auf die Agentur, die einen Großteil der mietpreisgebundenen Wohnungen kontrolliert?

Nadim Nashef: Ja. Viele der Häuser von Amidar (gegründet 1949, zu den Hauptaktionären gehören die Jewish Agency, der Jewish National Fund und die israelische Regierung, Anm. d. Red.) sind Häuser, die Palästinensern gehörten, die 1948 flohen oder vertrieben und vom Staat beschlagnahmt wurden. In den vergangenen Jahrzehnten wurden sie den ärmsten Bevölkerungsschichten zugewiesen, die meistens mit der arabischen Bevölkerung zusammenfielen, die auf diese Weise von einer niedrigen, an den Staat zu zahlenden Miete profitieren konnten. Amidar hat jedoch in den letzten Jahren, im Namen des freien Immobilienmarktes, die Mieten erhöht und viele dieser Häuser zum Verkauf angeboten. Die Familien, die sie bewohnen, können sich diese hohen Kosten nicht leisten und müssen sie verlassen. Sie werden oft von Immobilienfirmen gekauft, die sie dann an gut finanzierte, mit der extremen Rechten verbundene Organisationen verkaufen, die sie jüdischen Familien zuweisen, die sich an der Eroberung arabischer Viertel beteiligen, so wie in Sheikh Jarrah. Und in einem Klima des Krieges zwischen den Armen sehen die Juden, die in den heruntergekommensten Vierteln leben, sicherlich nicht ablehnend auf die Ersetzung ihrer arabischen Nachbarn durch jüdische Familien, auch wenn diese oft sehr religiös sind. Auf längere Sicht hat sich die Spannung also in Wut verwandelt. Ich bin nicht überrascht von der Gewalt in der letzten Nacht, aber ich habe sicherlich nicht erwartet, dass sie so weit verbreitet ist.

Frage: Aber Gentrifizierung ist ein weltweites Phänomen und auch in Israel nicht neu. Auch die Mizrachi, die Juden aus dem Nahen Osten, die gezwungen waren, die zentralen Viertel der Städte, in denen sie seit den 1950er Jahren lebten, zu verlassen, um Platz für einkommensstarke Gruppen zu schaffen, wissen etwas davon.

Nadim Nashef: Stimmt, aber hier verbindet sich die Gentrifizierung mit dem politischen Diskurs, mit dem hitzigsten Nationalismus, der an der Spitze der Regierung so viel Unterstützung genießt. In Jaffa, wo Hunderte von arabischen Familien seit Jahren auf Sozialwohnungen warten, herrscht eine Situation großer sozialer Unsicherheit. Mitte April kam es in der Stadt zu Zusammenstößen vor dem Hintergrund von Plänen, ein großes Gebäude im arabischen Viertel Ajami an eine rabbinische Hochschule mit nationalistischer Ausrichtung zu verkaufen. Viele sahen darin einen Versuch, die arabischen Bewohner zu vertreiben. Im Zuge dieser Unruhen wurde ein Treffen zwischen der Polizei und Amidar-Beamten abgehalten, um die Spannungen abzubauen, aber die Eskalation in Jerusalem und die militärische Konfrontation zwischen der Hamas und Israel hat alles in Städten wie Lod, Jaffa und sogar Haifa neu entfacht.

Frage: Was können wir in Lod erwarten, sobald der Ausnahmezustand aufgehoben ist?

Nadim Nashef: Natürlich werden die Probleme nicht verschwinden. Wenn die arabischen Bewohner weiterhin durch die Regierungspolitik marginalisiert und verarmt werden, von Amidar unter Druck gesetzt werden und ständigen Provokationen durch rechtsextremen Gruppen ausgesetzt sind, werden sie sich immer mehr mit den Kämpfen der Palästinenser*innen, die in Ost-Jerusalem und den übrigen besetzten Gebieten leben, identifizieren und sich daran beteiligen.

Das Interview ist am 13.05.2021 in der italienischen kommunistischen Tageszeitung "il manifesto" erschienen: «A Lod città mista non è odio tra ebrei e arabi, ma povertà e gentrificazione»
eigene Übersetzung
kommunisten.de dankt il manifesto für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung


il manifesto Jane Fonda 2

il manifesto
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Anmerkungen

[1] Israels Rechte errichten Apartheid-Staat
https://kommunisten.de/rubriken/internationales/7271-israels-rechte-errichten-apartheid-staat

Deutschlandfunk: "Dieses Gesetz wird alle Nichtjuden im Lande treffen"
https://www.deutschlandfunk.de/nationalitaetengesetz-in-israel-dieses-gesetz-wird-alle.694.de.html

Israels Nationalstaatsgesetz legt Grundlage für Annexion der Westbank
https://kommunisten.de/rubriken/internationales/7287-israels-nationalstaatsgesetz-legt-grundlage-fuer-annexion-der-westbank