Europa

Ocean Viking 2022 11 08aktualisiert 18.11.2022: Vierundvierzig der Ocean Viking werden aus Frankreich abgeschoben 

09.11.2022: Drei Rettungsschiffe können Gerettete nach heftigen Auseinandersetzungen mit neuer italienischer Regierung im Hafen von Catania in Sicherheit bringen ++ "Ocean Viking" wird Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer verweigert und nimmt Kurs auf Frankreich ++ Paris weist dem Schiff den Hafen Marseille zu. ++ Kritik von anderen NGOs

 

 

18.11.2022

Vierundvierzig der Ocean Viking werden aus Frankreich abgeschoben

Nachdem sich Italien geweigert hatte, das Schiff anlegen zu lassen, erteilte Frankreich eine Anlegeerlaubnis für den südfranzösichen Hafen Toulon. Aus Protest gegen die Haltung Italiens setzte die französische Regierung aber die geplante Aufnahme von 3.500 Flüchtlingen aus Italien aus. Innenminister Gérald Darmanin sagte, Frankreich habe der "Ocean Viking" "ausnahmsweise" das Einlaufen in einen französischen Hafen gestattet. Nach internationalem Recht sei Italien für die Aufnahme des Rettungsschiffes zuständig gewesen.

Die 234 Schiffbrüchigen der Ocean Viking sind in das beschleunigte Verwaltungsverfahren, das so genannte "Asyl an der Grenze", eingetreten. 44 sind unbegleitete Minderjährige, die in Ad-hoc-Einrichtungen untergebracht werden und mindestens bis zur Volljährigkeit in Frankreich bleiben können. 189 Personen (darunter 24 Frauen und 13 Kinder) befinden sich in dem Zentrum, das auf der Halbinsel Giens in der Nähe von Hyères in einer Feriensiedlung der EDF eingerichtet wurde, die in einen "internationalen Wartebereich" umgewandelt wurde, d. h. außerhalb des französischen Hoheitsgebiets (eine Person befindet sich weiterhin im Krankenhaus). Es handelt sich um Menschen aus Bangladesch, Eritrea, Syrien, Ägypten, Pakistan, Mali, Sudan und Guinea.

Für 60 Flüchtlinge besteht die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen - es handelt sich um Syrer:innen, Sudanes:innen, Eritreer:innen - zwei Drittel davon in einem der 11 Länder, die Paris ihre Zusammenarbeit angeboten haben, was beweist, dass "die Lösung europäisch ist", so der französische Innenminister Gérald Darmanin. Bei 86 anderen sind die Kontrollen noch nicht abgeschlossen. Für 44 Flüchtlinge wurde hingegen bereits die Entscheidung getroffen, sie in ihre Herkunftsländer abzuschieben, "sobald ihr Gesundheitszustand es zulässt", aber "so schnell wie möglich", d. h. in etwa 20 Tagen.

Der französische Innenminister Darmanin unterzeichnete am Montag ein Abkommen mit der britischen Innenministerin Suella Braverman, das sich auf Repression beschränkt: London wird Paris in diesem und im nächsten Jahr 72,2 Millionen Euro zahlen, um eine 40-prozentige Aufstockung der Gendarmerie in der Region Calais, die Anschaffung technischer Ausrüstung und eine verstärkte Zusammenarbeit im Zollwesen zu ermöglichen. Hintergrund: Seit Januar haben 41.000 Menschen den Ärmelkanal in kleinen Booten überquert, doppelt so viele wie 2021.

Die Nationalversammlung wird sich demnächst mit dem Text eines neuen Einwanderungsgesetzes befassen, dem 22. in 35 Jahren. Die Regierung will neben der Verkündung von "Entschlossenheit" ein Zeitfenster für die so genannte "gewählte Einwanderung" öffnen, d. h. eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung für Arbeiter:innen in "belasteten" Berufen, wie sie von den Unternehmern gefordert wird. Die parlamentarische Debatte wird angesichts von 89 Abgeordneten des rassistischen Rassemblement explosiv werden.


 

09.11.2022:

Ocean Viking nach Marseille. Frankreich durchbricht die europäische Mauer

Zwei Wochen nach Amtsantritt der ultrarechten Regierung eskaliert der erste große Konflikt zwischen der migrantenfeindlichen Rechtskoalition und den internationalen Seenotrettern. Rom forderte Rettungsorganisationen auf, den Hafen Catania mit ihren Schiffen und den vielen geretteten Menschen zu verlassen, nachdem Kinder, Frauen und medizinische Notfälle an Land gelassen wurden. Die Kapitäne der Schiffe weigerten sich.

"Ich kann das Gesetz nicht brechen. Als Kapitän bin ich gesetzlich verpflichtet, die Sicherheit aller Menschen an Bord zu gewährleisten. Es wäre gefährlich, Schiffbrüchige zur Rückkehr aufs Meer zu zwingen. Ich sehe keine Möglichkeit, legal und sicher zu navigieren. Wenn ich sehe, dass bei mir Menschen an Bord sind, die das Recht haben, an Land zu gehen, aber von den Behörden daran gehindert werden, dann bin ich einfach nur wütend", sagte Joachim Ebeling, Kapitän des Rettungsschiffes "Humanity 1".

Die EU-Kommission bekräftigte, dass die Seebrüchigen so schnell wie möglich ausgeschifft werden sollten und forderte Italien auf, alle Geretteten an Land zu lassen. Eine Sprecherin betonte, dass die Flüchtlinge nach EU-Recht Zugang zum Asylverfahren in Italien haben müssten. Es gebe einen klaren Rechtsrahmen.

Auch Papst Franziskus äußerte zu dem Konflikt: "Das Leben muss gerettet werden. Das Mittelmeer ist der größte Friedhof der Welt." Er betont, dass die europäischen Länder sich darauf einigen müssen, die Ankunftsländer nicht allein zu lassen.

Nach zähen Auseinandersetzungen, Klagen vor italienischen Gerichten und einem Hungerstreik der Geflüchteten ließen die italienischen Behörden am Dienstagmorgen (8.11.) dann endlich die 89 Geretteten vom Rettungsschiff "Rise Above" der deutschen Organisation Mission Lifeline an Land gehen. Am Abend durften auch 35 Menschen von der deutschen "Humanity 1" und 213 von der norwegischen "Geo Barents" der Organisation Ärzte ohne Grenzen die Schiffe verlassen.

Geo Barents Catania 2022 11 08


"Ocean Viking" - Italien verweigert Einfahrt

Im Unterschied zu diesen Rettungsschiffen verblieb die "Ocean Viking" von SOS Méditerranée in internationalen Gewässern, weil von Rom keine Antwort auf das Ersuchen nach der Zuweisung eines Hafens in Süditalien kam.

Die Ocean Viking rettete zwischen dem 22. und dem 26. Oktober 234 Frauen, Kinder und Männer, darunter mehr als 40 unbegleitete Minderjährige und vier Kinder unter vier Jahren, die sich auf sechs seeuntüchtigen und gefährlich überfüllten Booten in großer und unmittelbarer Gefahr befanden.

Am Dienstag (8.11.) twitterte SOS Méditerranée: "Angesichts des Schweigens von #Italien fordern wir die französischen Seebehörden nachdrücklich auf, einen Hafen zu bestimmen, um die 234 Überlebenden der #OceanViking an Land zu bringen."

"Die Situation an Bord hat eine kritische Schwelle erreicht", sagte Sophie Beau, Direktorin von @SOSMedFrance.

"Nachdem sie so lange auf eine positive Antwort auf die zahlreichen Anfragen nach einem sicheren Ort gewartet haben, verlieren die Überlebenden die letzten Reste ihrer Hoffnung und ihre unglaubliche Widerstandskraft, die sie bisher gezeigt haben. Einige Überlebende haben bereits die Absicht geäußert, aus Verzweiflung über Bord zu springen", warnte Xavier Lauth, Einsatzleiter von SOS Méditerranée.

  Ocean Viking 2022 11 06  
 

Die extremen Wetterbedingungen waren sehr hart für die Überlebenden, die an Deck schliefen. 16 Tage des Wartens seit der 1. Rettung. Dies ist die längste Zeit, die die Überlebenden jemals an Bord der #OceanViking verbracht haben. Ihr physischer und psychischer Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Sie brauchen jetzt dringend einen sicheren Ort.
https://twitter.com/SOSMedIntl/status/1589292475348303872

 

 

"Ocean Viking" auf dem Weg nach Frankreich

"Nach den Ereignissen der letzten Tage haben wir als SOS Méditerranée beschlossen, dass Italien kein sicherer Hafen ist. Deshalb fahren wir in Richtung Frankreich und warten auf offizielle Mitteilungen", erklärt der Präsident der Hilfsorganisation, Alessandro Porro, an Bord des Schiffes.

In Telefongesprächen zwischen Premierministerin Giorgia Meloni und Präsident Emmanuel Macron und am Nachmittag zwischen Innenminister Matteo Piantedosi und seinem Kollegen Gerald Darmanin drängte die französische Regierung darauf, dass Italien der Ocean Viking einen sicheren Hafen zuweisen müsse. Die ultra-rechte Regierung in Rom blieb hart.

Am Ende hat Frankreich nachgegeben, die europäische Abwehrfront durchbrochen und Marseille als sicheren Hafen für das Schiff der Nichtregierungsorganisation SOS Méditerranée angegeben. Die französischen Behörden versichern, dass die Flüchtlinge in Marseille alle von Bord gehen werden, ohne dass eine Selektion wie in Catania erfolgt. "Es gibt keine Einschränkungen, jeder hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen", heißt es aus dem französischen Innenministerium.

Matteo Salvini begrüßte diese Entscheidung als Sieg: "Das ist gut", beeilte er sich in den sozialen Medien zu schreiben. "Die Luft hat sich verändert. Die Bürger haben uns aufgefordert, die italienischen Grenzen zu verteidigen, und diese Regierung wird ihr Wort nicht brechen", so der Vize-Ministerpräsident Italiens.

Die Entscheidung der französischen Regierung ist eine implizite Anerkennung der harten Linie der italienischen Regierung, obwohl die Europäische Union wiederholt die Einhaltung des internationalen Rechts gefordert hat, wonach der sichere Hafen in dem Land gestellt werden muss, das dem Ort, an dem die Schiffbrüchigen gerettet wurden, am nächsten liegt.

SOS Méditerranée betont, dass hinter ihrer Entscheidung, Frankreich um die Zuweisung eines sicheren Hafens zu bitten, auch die im Laufe der Zeit immer kritischer werdende Situation auf dem Schiff stehe, die die Besatzung befürchten lasse, dass es "jederzeit zu schweren Zwischenfällen" kommen könne, "die die Sicherheit der Überlebenden und unserer Teams an Bord gefährden". [1]

Für andere Rettungsorganisationen ist die Entscheidung von Ocean Viking, das Angebot von Paris anzunehmen, zumindest genau so überraschend wie die Entscheidung Frankreichs, seine Häfen zu öffnen. "Jede NGO hat ihre eigene Strategie", sagt Till Rummenhohl von SOS Humanity. "Ich kann mich nicht zu den anderen äußern, aber das internationale Recht besagt, dass man den nächstgelegenen Hafen zuweisen muss. Malta tut so etwas nicht, Italien hat reagiert. Das könnte sich jetzt ändern. Aber Schiffe sind nicht immer in der Lage, Hunderte von Meilen mit Schiffbrüchigen an Bord zu fahren."

Selbst zu Zeiten Salvinis als italienischer Innenminister haben sich die Rettungsorganisationen immer geschlossen für die Einhaltung der internationalen Regeln eingesetzt. "Die Regeln sind klar", heißt es, "wenn man eine andere Vorgehensweise wählt, geht man von dem ab, was die Seenotrettung vorsieht.

"Es darf nicht länger hingenommen werden, dass den Überlebenden nicht umgehend ein sicherer Ort zugewiesen wird. Wir fordern - einmal mehr - die Regierungen auf, als EU-Mitgliedsstaaten und assoziierte Staaten gemeinsam mit der Europäischen Kommission einen vorhersehbaren Mechanismus für die Ausschiffung der Überlebenden an sicheren Orten einzurichten, an denen ihre Sicherheit nicht mehr gefährdet ist und ihre grundlegenden menschlichen Bedürfnisse erfüllt werden können", fordert Xavier Lauth, Einsatzleiter von SOS Méditerranée.  

 

Anmerkungen

[1] SOS Méditerranée, Presserklärung, 8.11.2022: Following Italy’s silence, SOS MEDITERRANEE urges French maritime authorities to assign a port to disembark the 234 survivors stranded onboard the Ocean Viking since 18 days
https://en.sosmediterranee.org/press/press-release-following-italys-silence-sos-mediterranee-urges-french-maritime-authorities-to-assign-a-port-to-disembark-the-234-survivors-stranded-onboard-the-ocean-viking-since-18-days/


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