Europa

06.06.2015: Noch kurz vor dem G7-Gipfel haben Merkel, Hollande, Draghi, Lagarde und Juncker auf höchster politischer Ebene ihre Verhandlungsposition gegenüber Griechenland abgestimmt. Als 'ultimativ letztes Angebot'. Alexis Tsipras hat am Freitagabend vor dem Parlament die Forderungen der internationalen Kreditgeber als absurd zurückgewiesen. Zuvor hatte das Politische Sekretariat von SYRIZA von einer nicht zu akzeptierenden Provokation gesprochen. Auf dem Tisch liegt seit Montag (1.6.) auch ein Kompromissangebot der griechischen Seite. Als Verhandlungsgrundlage. Tsipras zeigte mit einem Telefongespräch mit Putin die 'russische Karte'.

Verhandlungen auf höchster politischer Ebene
In der Vergangenheit haben nichtgewählte Bürokraten der Troika mit den Ministern der griechischen Regierungen verhandelt. Seit SYRIZA die Regierung stellt, finden die Gespräche auf Augenhöhe statt – der griechische Finanzminister verhandelt mit den Finanzministern der Eurogruppe, die griechischen Experten mit den zuständigen Bürokraten der Institutionen. Jetzt ist das Thema auf der höchsten politischen Ebene angekommen. Am Montagabend (1.6.) haben sich Angela Merkel und Francois Hollande mit EZB-Chef Mario Draghi, EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und IWF-Chefin Christine Lagarde im Kanzleramt in Berlin getroffen. Finanzminister Wolfgang Schäuble musste draußen bleiben.

Bei dem Treffen ging es um die Abstimmung einer gemeinsamen Verhandlungsposition gegenüber Griechenland. Vorausgegangen war kurz zuvor das Treffen der G7-Finanzminister (27. – 29.5.). Dort hatte die US-Regierung die Europäer unmissverständlich aufgefordert, bis zum G7-Gipfel eine Lösung für das Griechenlandproblem zu finden. Die US-Regierung beunruhigt ein möglicher Grexit mit unabsehbaren Folgen für den Euro und die Weltwirtschaft sowie geopolitische Erschütterungen, falls Griechenland sich Russland zuwendet. Jetzt will Merkel liefern.

Martin Schulz (SPD): Wenn die fünf sich einigen, muss Griechenland annehmen
Die Fünferbande sprach scheinheilig von großen Zugeständnissen an Griechenland und bezeichnete ihr fünfseitiges Papier als "ultimativ letztes Angebot". EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) verstieg sich am Donnerstag in der Talkshow von Maybrit Illner zu der Aussage, dass der griechischen Seite so große Zugeständnisse gemacht wurden, über die er aber natürlich nicht reden könne, dass Griechenland "jetzt Vernunft annehmen" müsse. Die griechische Regierung gehe ihm "gehörig auf die Nerven", aber jetzt liege eine "Einigung auf dem Tisch" und es sei "Griechenlands Pflicht, sie anzunehmen.“ Für den SPD-Politiker hat die Regierung eines EU-Mitgliedslandes eine "Einigung" anzunehmen, die die Regierungschefs Frankreichs und Deutschlands mit den Chefs der EU-Kommission, der EZB und des IWF ausgehandelt haben. Alexis Tsipras bezeichnete dies in seinem Beitrag in 'Le Monde' als "Abschaffung der Demokratie in Europa" und als "Geburt eines technokratischen Monsters".

SYRIZA: "-- werden wir nicht akzeptieren"
Das von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker präsentierte fünfseitige Ultimatum stieß in der griechischen Öffentlichkeit und Medien auf Empörung. Wir lassen uns nicht erpressen, äußerten mehrere SYRIZA-Minister.

Dementsprechend reagierte das Politische Sekretariat von SYRIZA. "Die Forderungen der Kreditgeber sind provokativ und werden nicht akzeptiert", lautete die klare Ansage am Donnerstag (5.6.) Die Forderungen "stehen nicht nur im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand, sondern auch gegen das Mandat des griechischen Volkes, die Sparmaßnahmen zu überwinden und Würde und Demokratie wiederherzustellen".

Nichts Neues von Merkel und Juncker
Entgegen den großspurigen Verlautbarungen über die Zugeständnisse, sind diese nur marginal: Griechenland müsste 2015 einen niedrigeren Primärüberschuss (Haushaltsbilanz ohne Zinszahlungen) ausweisen, damit die Regierung Spielraum für dringende sozialpolitische Ausgaben zur Bekämpfung der humanitären Krise zurückgewinnt. Die Gläubigerseite legt aber weiterhin ein Veto ein zur Wiedereinführung von Arbeitsrechten - wie Tarifverhandlungen und Mindestlohn -, verlangt die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel, Strom und Medikamente. Auch die Bauern sollen drastisch erhöhte Steuern zahlen, was noch mehr Kleinbauern in den Ruin treiben, aber den Markt für die EU-Agroindustrie weiter öffen würde. Im öffentlichen Dienst verlangen sie eine erneute einschneidende Reduzierung der Gehälter, besonders bei den Geringverdienern. Neben der Abschaffung der Solidaritätszulage für Rentner, sollen die Renten jährlich um 1% des BIP gekürzt werden. Dabei sind die Renten in den zurückliegenden vier Jahren bereits um 30 Prozent zusammen gestrichen worden.

Die Institutionen fordern die Zustimmung zu allen Maßnahmen im Juni und die sofortige Umsetzung vom 1. Juli 2015 an. Darüber hinaus fordern sie Einsparungen in Höhe von 4,5 Milliarden Euro für den Zweijahreszeitraum 2015-2016.

SYRIZA soll kapitulieren
Etwa vier Fünftel der Forderungen lesen sich wie das, was Samaras im Jahr 2014 hätte erfüllen sollen. Samaras verweigerte sich. Wenn jetzt Berlin, Paris, EU und IWF Punkt für Punkt die alten Forderungen an SYRIZA weitergeben – so als hätten seit der Wahl im Januar keine Verhandlungen stattgefunden -, dann wird offensichtlich, dass sie nicht an einer Verhandlungslösung und einem Kompromiss interessiert sind. Sie verlangen die Kapitulation der Linksregierung.

Die Kompromisslosigkeit Berlins gegenüber Athen ist politisch motiviert, da die griechische Linksregierung den Neoliberalismus und die Austeritätspolitik – und damit die deutsche Hegemonie in Europa - offen herausfordert. Merkel und Schäuble können gegenüber Athen nicht nachgeben, weil dies zu enormen machtpolitischen Erschütterungen - und zu einer Erosion der deutschen Dominanz in der Eurozone - führen würde. Sollte die griechische Linksregierung handfeste Zugeständnisse erkämpfen können, die das Scheitern des neoliberalen Sparregimes deutscher Prägung in Europa offensichtlich machen würden, wäre dies eine Startsignal für linke und progressive Bewegungen in weiteren europäischen Ländern, dem griechischen Vorbild nachzueifern. (siehe Griechenland vor dem "Endgame"?

Tsipras: NEIN!
Am Freitagabend wies Alexis Tsipras in seiner Rede vor dem griechischen Parlament die neue 'Reformliste' als absurd zurück. Derartigen Vorschlägen könne seine Regierung nicht zustimmen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Politiker gibt, die glauben, es gebe auch nur einen griechischen Ministerpräsidenten, der die Renten senken oder die Stromrechnungen erhöhen würde", sagte Tsipras. "Ich würde gern glauben, dass diese Vorschläge ein schwacher Moment für Europa oder ein mieser Trick waren und von denjenigen zurückgenommen werden, die sie gemacht haben."

Tsipras wandte sich in seiner Rede an die internationalen Gläubiger, insbesondere in der Eurozone, an die griechische Öffentlichkeit und an die sozialdemokratische und konservative Opposition im Parlament.

Schlagzeilen seiner Rede waren:

  • Die Verhandlungen sind an einem kritischen Punkt. Er zeigte sich aber zuversichtlich, dass Griechenland und die internationalen Geldgeber näher an einer Einigung seien als jemals zuvor. "Wir sind auf der Zielgeraden", sagte er.
  • Er sei "unangenehm überrascht" über die Vorschläge, die ihm von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker übermittelt wurden und die Regierung Griechenlands unter Druck setzen.
  • Seine Regierung werde "unzumutbaren Vorschlägen nicht zustimmen"
  • Die Vorschläge der griechischen Regierung sind die einzig realistische Basis für die Gespräche. Seine Regierung habe einen umfassenden Vorschlag vorgelegt. Dies zeige den "ehrlichen Willen" Athens, die Krise zu beenden.
  • Griechenland brauche eine "europäische Lösung"
  • Die Opposition forderte er auf, sich klar für oder gegen die "Juncker-Vorschläge" zu äußern. Er forderte die Opposition auf, ihm in diesen letzten harten Verhandlungstagen beizustehen. "Wir bleiben trotz des internationalen Drucks auf beiden Beinen", sagte er.
  • Eine Verhandlungslösung müsse niedrige Primärüberschüsse, eine Reduzierung/Restrukturierung der Schulden, Schutz der Löhne und Renten beinhalten sowie das Recht der Gewerkschaften auf branchenweite kollektive Tarifverhandlungen wieder herstellen.

Das Angebot aus Athen
Die griechische Regierung sagt nicht nur 'Nein' zum Vorschlag von Merkel, Hollande und der Troika, sondern hat einen eigenen vorgelegt. Bereits am Montag (1.6.) hat sie eine 47 Seiten lange Maßnahmenliste als Kompromissangebot übermittelt. Die Linksregierung schlägt vor, hohe Einkommen, die Profite von Großunternehmen und Luxusgüter stärker zu besteuern - statt Strom und Medizin, wie Schäuble, Merkel & Co. fordern. Die breite Bevölkerung soll eine Schuldenerleichterung erhalten und vor Zwangsräumungen aus der ersten Wohnung geschützt werden. Außerdem will die Regierungen Tarif- bzw. Kollektivverhandlungen auf Branchenebene wieder einführen sowie den Mindestlohn stufenweise anheben. Den Forderungen der Gegenseite kommt die griechische Regierung entgegen, indem sie einen Primärüberschuss anstrebt, der allerdings unter den unrealistischen Vorstellungen der Troika liegen soll. Außerdem akzeptiert sie weitere Privatisierungen und eine Anhebung des Renten- bzw. Pensionsantrittsalters, nicht aber weitere Kürzungen.

Die wichtigsten Punkte aus dem Papier (das gesamte Papier in englischer Sprache)

  • Haushaltsüberschuss
    Im laufenden Jahr wird ein Primärüberschuss von 0,6% des Bruttoinlandsproduktes erreicht. (Vorschlag der Fünfergruppe: 1%). Für die Folgejahre schlägt Griechenland folgende Primärüberschüsse vor: 2016: 1,5%; 2017: 2,5%, 2018 -2022: 3,5%.
  • Steuern
    Die Mehrwertsteuer soll von jetzt 6,5%, 13% 23% auf 6%, 11%, 23% geändert werden. Für Medikamente, Bücher und Theater wird sie von 6,5 auf 6% gesenkt. Zeitungen, Grundnahrungsmittel und frische Lebensmittel, Energie, Wasser, Hotels und Restaurants werden mit 11% besteuert; alles andere mit 23%. Die Ausnahmeregelungen für die Inseln werden abgeschafft. Eine 'Solidaritätssteuer'  (0,7% bei niedrigen Vermögen, 6% ab 100.00 Euro und 8% ab 500.000 Euro) soll im laufenden Jahr 220 Millionen Euro und im kommenden Jahr 250 Millionen Euro einbringen. Eine Extrasteuer für Gewinne von Großunternehmen soll über eine Milliarde Euro bringen. Außerdem soll es eine Luxussteuer geben, die 30 Millionen in die Staatskassen spülen soll. Fernsehwerbung soll ebenfalls besteuert werden (100 Mio. Euro), für den Gebrauch von TV-Frequenzen sollen Gebühren erhoben werden (220 Mio. Euro).

    Steuerflucht, Steuerhinterziehung, Treibstoffschmuggel werden entschieden bekämpft. Zukünftig soll eine unabhängige Steuerbehörde eine effizientere Finanzverwaltung ermöglichen.
  • Privatisierungen
    Das Privatisierungsprogramm wird angepasst. Bis 2020 sollen knapp 11 Mrd. Euro durch Privatisierungen und Landentwicklung einnehmen. Dabei sollen Natur und Arbeiterrechte geschützt werden und die lokalen Wirtschaften einen Nutzen haben. Bei Privatisierungen behält die öffentliche Hand einen signifikanten Anteil. Die Privatisierungserlöse werden zur Stärkung der Sozialkassen verwendet, der Staatsanteil an den privatisierten Unternehmen wird zur Stärkung der Entwicklungsbank genutzt.
  • Renten
    Künftig soll es nicht mehr möglich sein, vor dem 62. Lebensjahr in Frührente zu gehen. So sollen schrittweise das allgemeine Rentenalter erhöht und die Rentenkassen entlastet werden. Ein "neues und besser integriertes soziales Sicherungssystem" soll in der nächsten Zukunft eingeführt werden.
  • Arbeitsrechte
    Das Recht der Gewerkschaften auf kollektive Tarifverhandlungen wird entsprechend den ILO-Normen und den Verhältnissen in anderen EU-Ländern wieder hergestellt. Bis Ende 2016 wird der Mindestlohn im Privatsektor schrittweise wieder auf den Stand von 2010 (vor den Memoranden) angehoben.
  • Moratorium für Zwangsversteigerungen
    Die griechische Regierung will Zwangsversteigerungen von Schuldnern durch die Bank aussetzen, wenn es der erste und einzige Wohnsitz ist, der Wert des Wohnbesitzes nicht über 200.000 Euro liegt und das erklärte Einkommen der Familie nicht über 35.000 Euro und die Ersparnisse nicht über 15.000 Euro liegen.
  • Umstrukturierung der Schulden
    Die griechische Regierung strebt eine Umstrukturierung der Schulden an. Ab 30.6.2015 soll mit der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Euro-Rettungsschirm ESM die „optimale rechtliche und wirtschaftliche Lösung“ ausgehandelt werden, wenn es um die Rückzahlung der griechischen Staatsanleihen geht, die gegenwärtig noch im Besitz der Europäischen Zentralbank sind. Die Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) sollen so restrukturiert werden, dass sie in zwei Phasen vollständig zurückgezahlt werden können. In der ersten Phase sollen die IWF-Schulden wie vorgesehen bis zum 30. Juni zurückgezahlt werden; anschließend soll die Rückzahlung an die Refinanzierung der Schulden des Landes angepasst werden.

Tsipras zeigt die russische Karte
Vor der Rede im Parlament telefonierte Tsipras am Freitag Nachmittag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Aus Regierungskreisen heißt es, dass sie über die Beteiligung Griechenlands an der BRICS-Bank und über Kooperation um Handel und bei Energie gesprochen haben. Es geht dabei auch um die geplante 'Turkish stream', eine Gas-Pipeline zwischen Russland und der Türkei. Die beiden hätten "praktische Schritte für ein Abkommen" für einen 'Greek stream Abzweiger' diskutiert, mit dem Gas aus Russland in die Türkei und weiter über Griechenland nach Europa transportiert werden könnte. Ein weiteres Thema war der bevorstehende Besuch von Tsipras in St. Petersburg am 18. -20. Juni.

Tsipras und Putin sind zwar nicht zum G7-Gipfel geladen, sorgen aber für Gesprächsstoff im Schloßhotel Elmau.

txt: lm


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