Europa

alt23.12.2011:  Zwei Dokumente deutlicher Kritik aus Federn europäischer Diplomaten haben in diesen Tagen die israelische Führung verärgert und beunruhigt. In einem vor drei Tagen an den UN-Sicherheitsrat (UN-SC) übergebenen Brief verurteilten Groß-Britannien, Frankreich, Deutschland und Portugal in ihrer Rolle als Mitglieder dieses höchsten UN-Gremiums die israelische Regierung für ihre neuerliche Erlaubnis zum Bau von 1.000 Siedlungseinheiten im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Der Kritik und dem Protest gegen diese illegalen Handlungen der Expansion der israelischen Annexion palästinensischen Gebietes schlossen sich Südafrika, Brasilien und Indien umgehend an.

Der britische UN-Botschafter Mark Lyall Grant machte die Erklärung der vier europäischen Staaten in einer Pressekonferenz bekannt, in der er Israel aufforderte, den Siedlungsbau einzustellen und israelische Siedler zu bestrafen, die sich an kriminellen Handlungen beteiligt hätten. In dem Brief wurde erneut auf die Tatsache hingewiesen, dass die israelische Besiedlung in den besetzten palästinensischen Territorien nach internationalem Recht als illegal anzusehen sind und dass die israelische Entscheidung zum erneuten Ausbau von Siedlungen eine "vollständig negative Entwicklung" sei und eine Rückkehr zu Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensischen Autoritäten verhindern würde.


In dem bisher nicht vollständig veröffentlichten Brief der vier europäischen Mitglieder im UN-SC heißt es ferner: "Die Lebensfähigkeit des von uns erwünschten palästinensischen Staates und die Zwei-Staaten-Lösung sind auch für Israels langfristige Sicherheit wesentlich, sie werden aber durch die systematische und vorsätzliche Ausdehnung der Besiedlung bedroht. ... Wir verurteilen die von Siedlern ausgehende störende Verschärfung der Gewalt im Westjordanland und in Jerusalem, einschließlich der Inbrandsetzung von Moscheen. ... Es ist deutlich, dass diese vorsätzlichen provokativen Angriffe an Stätten der Gottesverehrung gedacht waren, Spannungen anzuheizen."

Die europäische Kritik an Israel fand gewichtige Ergänzung in einer eigenständigen Erklärung einer Gruppe von 120 blockfreien Staaten der UN-Generalversammlung, die der UN-Botschafter Südafrikas, Baso Sangqu, ebenfalls vorgestern vor der Presse bekannt machte. In dieser Erklärung heißt es u.a., dass "die israelischen Siedlungen das Haupthindernis einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes durch eine Zwei-Staaten-Lösung" seien. Diese Bewertungen wurden dann noch in einer gemeinsamen Erklärung von Brasilien, Südafrika und Indien in ihrer Funktion als Mitglieder des UN-SC wiederholt.

Damit haben insgesamt 9 Mitglieder des 15-köpfigen UN-SC die Ausdehnung der israelischen Besiedlung und die derzeitige Siedlergewalt verurteilt.

Israels UN-Vertretung versuchte umgehend wieder einmal aus Weiß Schwarz zu machen und von seiner Annexionspolitik abzulenken. Ein Sprecher behauptete, das größte Hindernis für Frieden in Palästina sei nicht die israelische Besiedlungspolitik, sondern "das palästinensische Beharren auf dem sogenannten Rückkehrrecht [der Flüchtlinge] und die Weigerung, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen". Was das Eingehen auf solche israelischen Forderungen in der Wirklichkeit bedeutet, macht ein zweites Dokument aus Federn von EU-Diplomaten deutlich, welches am Freitag vergangener Woche durch eine Veröffentlichung der israelischen Tageszeitung Haaretz bekannt wurde und sich mit der Lage der arabischen Minderheit in Israel auseinandersetzt.

"Die arabische Minderheit macht mit ungefähr 1,6 Millionen Menschen ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus. In vielen Bereichen, so wird in dem Bericht festgehalten, ist sie jedoch weit unterrepräsentiert. So liege zum Beispiel ihr Anteil an den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes lediglich bei sieben Prozent, unter den Hochschullehrern nur bei 2,7 Prozent. Vermerkt wird überdies, dass auch die Arbeitslosigkeit höher sei und dass der Durchschnittsverdienst eines arabischen Haushalts bei lediglich 61 Prozent des Einkommens eines jüdischen Haushalts liege. 50 Prozent der israelischen Araber leben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge in Armut. 'Die wirtschaftliche Ungleichheiten' werden den EU-Diplomaten zufolge noch 'untermauert durch ein Planungssystem, das für israelische Araber den Zugang zu Land- und Hausbesitz begrenzt'. Der Minderheit von 20 Prozent gehörten nur drei Prozent des Landes. ... Es bleibe 'noch viel Arbeit zu tun', um die in Israels Unabhängigkeitserklärung verankerte Gleichheit aller Bürger zu verwirklichen." So fasste die SZ von gestern zentrale Aussagen des ihr vorliegenden internen EU-Berichtes zusammen.

Das geheim behandelte Dokument wurde offenbar seit etwa einem Jahr von EU-Botschaften in Israel erarbeitet und verfasst. Da es ohne vorherige oder begleitende Abstimmung mit der israelischen Regierung zustande kam, ist es in seiner Schilderung der Lage der arabischen Minderheit eher ungewöhnlich offen und findet - wenig erstaunlich - heftigste offizielle israelische Kritik und Verdammung.

Denn das EU-interne Papier im Umfang von 27 Seiten betont u.a. die Verpflichtung von Israels Regierung, die Unterschiede zwischen der jüdischen Mehrheit Israels und der arabischen Minderheit zu beseitigen. "Wir glauben nicht, dass die Anerkennung Israels als eines jüdischen Staates von der Umsetzung der Vision der Gleichheit aller Staatsbürger abhalten sollte, so wie sie in den Gründungsdokumenten [Israels] formuliert wurde", heißt es in dem Dokument. "Es ist im Interesse aller Israelis, deutlich zu machen, dass Israel nicht nur jüdisch und demokratisch, sondern tolerant ist und niemanden ausgrenzt. Wir glauben in Übereinstimmung mit den meisten Israelis, dass die israelische Nationalität kein ausgrenzendes Konzept ist und durchaus gleichermaßen Menschen anderen Glaubens und ethnischer Herkunft einschließen kann." Das hat sicherlich wenig mit den Zielvorstellungen und Träumen der gegenwärtig Israel regierenden Rechten zu tun.

Einige EU-Staaten - darunter Tschechien, Polen, die Niederlande, Italien - haben denn auch schon im Vorfeld Anstrengungen unternommen, um das Dokument in seiner politischen Wirkung gegenüber Israels Regierung zu entschärfen. Dazu gehörte vor allem die Entfernung des ursprünglichen Teils über praktische Vorschläge und Vorstellungen der EU-Vertreter hinsichtlich einer Gleichbehandlung der arabischen Minderheit in Israel, wie etwa die Unterstützung von Projekten gemeinsamer Schulen, die Förderung von Organisationen, die israelischen Arabern zu Ausbildung und Arbeit verhelfen, oder der Ermunterung von europäischen Unternehmen, gezielt in Gebieten mit arabischer Bevölkerungsmehrheit zu investieren. Besondere Sprengkraft hätte der Vorschlag gehabt, künftig bei zweiter Lesung 'potenziell diskriminierender Gesetzentwürfe' im israelischen Parlament einen offiziellen EU-Protest einzureichen.

Aber von solcher praktischen Konsequenz kritischer Einsichten ist die EU-Führung noch weit entfernt, auch wenn erkennbar ist, dass gewisse Bewertungsbrüche zur us-amerikanischen bedingungs- und gewissenlosen Kollaboration mit der israelischen Rechten in ihrer Expansions- und Ausgrenzungspolitik bestehen.

Text: hth  /  Quellen: Haaretz, SZ, IMEMC  /  Foto: michaelramallah