Europa

31.10.2011: Am 27. Oktober hatte Papst Benedikt XVI. zu einem interreligiösen und interkonfessionellen Treffen für den Frieden in die mittelitalienische Stadt Assisi eingeladen. Erstmals richtete sich diese Einladung nicht nur an die Vertreter der Weltreligionen, sondern auch an fünf Persönlichkeiten aus dem Lager des "Atheismus", unter ihnen Walter Baier, der Ex-Vorsitzende der KPÖ und Koordinator des think tanks der Europäischen Linken, "transform! europe". (Rede in der Anlage)

Bereits im März diesen Jahres hatte der Päpstliche Kulturrat den Dialog aufgenommen. Mit einer akademischen Debatte an der "Académie Francaise" und im Großen Auditorium der Sorbonne-Universität in Paris sollte die Zusammenarbeit von Glaubenden wie Nichtglaubenden für eine humanere Welt intensiviert werden. "Wir sollten bei unserem Dialog versuchen, wieder die richtigen Fragen zu stellen", meinte Professor Jean-Luc Marion bei diesem Treffen. Der katholische Intellektuelle Rémi Brague appellierte an die Vernunft: "Die Vernunft - halten Sie an der Vernunft fest, denn damit haben Sie einen wichtigen Ansatzpunkt gefunden. Geben Sie nicht der Versuchung nach, die Vernunft durch irgendwelche Sentimentalitäten zu ersetzen ... ."

Das Frühjahrstreffen wurde insofern kritisch bewertet, dass die Mehrheit der Beiträge "ohne Praxisbezug" gewesen sei, sagte der Österreicher Franz Kronreif in einer Sendung von Radio Vatikan. Es sei "kaum etwas von der aktuellen Weltlage eingeflossen: In Japan geht der Reaktor hoch, in Libyen wird gekämpft, und es gibt eine Reihe von anderen Problemen (Wirtschaftskrise usw.) - das wurde nicht im geringsten angesprochen."

Radio Vatikan: "Immer wieder wurde am Freitag von katholischer Seite aus die Gottesfrage beschworen; auch der Papst selbst sprach sie in seiner Videobotschaft am Abend an. Wer Gott suche, finde den Menschen, so Benedikt. Doch so mancher Agnostiker wie etwa Baier mochte sich im »Vorhof der Völker« nicht darauf einlassen: »Ich weiß nicht, ob ich mir einen solchen Zynismus erlauben kann - aber ich glaube schon, dass der Papst die Gottesfrage überschätzt.«
Auch solcher Freimut gehört zu einem echten Gespräch, draußen im »Vorhof der Völker«. (Radio Vatikan, 26.3.2011, 12.47.48)

Weltfriedenstreffen in Assisi

Fünf Atheisten waren nun neben 300 Vertretern von Kirchen und Religionen zum interreligiösen und interkonfessionellen Treffen für den Frieden nach Assisi und Rom eingeladen worden. Dieses Assisi-Treffen - das dritte seiner Art - brachte unter dem Motto "Pilger der Wahrheit, Pilger des Friedens" erneut Gläubige und alle Menschen guten Willens zum Einsatz für Frieden und zum Aufbau einer gerechteren und solidarischeren Welt zusammen. In einer öffentlichen Diskussion mit der bulgarisch-französischen Philosophin, Julia Kristeva (Paris VII), Remo Bodei (University of California), Guillermo Hurtado, (Universidad Nacional Autónoma de México) und Padre Laurent Mazas, die im Rektorat der Universität Rom III stattfand, legte Walter Baier die Motive des Dialogs aus marxistischer Sicht dar. (Anlage)

Unter anderem sagte er:
"Die Notwendigkeit des Dialogs auch über - selbst weit gezogene - Grenzen der eigenen Weltanschauungen hinaus ergibt sich aus der Erkenntnis, dass man sich die Zukunft der Gesellschaft nicht einfach ausdenken kann, sondern dass sie aus der Praxis vieler Menschen entsteht, und in der Auseinandersetzung mit je gegenwärtigen Problemen. Schon Marx und Engels hatten in einer häufig zitierten Stelle der zur Selbstverständigung verfassten Gemeinschaftsarbeit, "Die Deutsche Ideologie" angemerkt, dass der Kommunismus nicht als ein "Ideal" verstanden werden solle, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten habe, sondern "die reale Bewegung, die die gegenwärtigen Zustände aufhebt". Daraus ist abzuleiten, dass KommunistInnen die Zukunft sich nicht als ihr alleiniges Werk vorstellen können. Dass sie sich in der Vergangenheit nicht zu diesem freundlichen Realismus entschließen konnten, zum Schaden vieler und auch zum eigenen, soll hier nur vermerkt aber nicht näher untersucht werden.
Gewollt oder ungewollt führt jeder Dialog zur Frage von  möglichen Übereinstimmungen beziehungsweise notwendigen Abgrenzungen.
(...)
Doch geht es dabei nicht um das Wort, ist die Welt heute doch noch gefährdeter und komplizierter als in den späten 60er-Jahren, als MarxistInnen und ChristInnen sich im Dialog darauf verständigten, die gemeinsame Anstrengung auf die Bewahrung des Friedens zu konzentrieren, und alles andere bei Seite zu lassen.
Die Herausforderung heutiger Philosophie (und wohl auch Theologie) im Hinblick auf den tätigen Humanismus ist daher nicht so sehr die Abgrenzung als die Herstellung einer strategischen Kooperation, was neben guten Willen auch die Verständigung in einer gemeinsamen Sprache voraussetzt.
(...)
Daher möchte ich heute vor allem den zentralen Stellenwert der "sozialen Gerechtigkeit" im Wertesystem der Linken in Erinnerung zu bringen, das heißt das Recht der Menschen auf eine die Lebenshaltung ermöglichende, menschenwürdige Erwerbsarbeit, auf ein Einkommen als Menschenrecht, auf ein allen gleichermaßen zugängliches, auf Wohnung, auf einen Schutz vor Armut im Alter und auf den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur, also den, von den Arbeiterbewegungen durchgesetzten, und heute wieder in Frage gestellten zivilisatorischen Standard.
Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, dass Feminismus ausschließlich von Frauen handelt.
In einem seiner frühesten Texte hatte Marx folgenden anthropologischen Zusammenhang erkannt: "In dem Verhältnis zum Weib...ist die unendliche Degradation ausgesprochen, in welcher der Mensch für sich selbst existiert...In diesem natürlichen Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigentliche natürliche Bestimmung ist. In diesem Verhältnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen geworden. Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe der Menschheit beurteilen."2
Der Befund über den "Bildungsstand der Menschheit" ist gemessen an den angehäuften Potentialen der Vernichtung alarmierend.
(...)
Lassen Sie mich vorurteilskonform mit Marx schließen: Es ist das Eine, die Welt philosophisch zu interpretieren; und es ist ein anderes, leidenschaftlich um ihre Veränderung zu kämpfen. Für beides brauchen wir einander: Für den Dialog der Tat, die Solidarität der Einzelnen und der Gruppen guten Willens. Doch die Krise der kapitalistischen Ökonomie, die Kriege, aktuellen wie die drohenden, die revolutionären Veränderungen durch technologische und sozialstrukturelle Umwälzungen, das Erreichen der ökologischen Grenzen unserer Produktionsweisen, die weltweite ungleiche Verteilung der Lebenschancen und die davon erzeigten Erschütterung der Weltordnung - alles das erfordert eine permanente Neuorientierung der Menschen. Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus und Islamophobie machen sich auf, in das Vakuum einzudringen, das von der sozialen Unsicherheit erzeugt wird. Wollen wir diese Gefahr abwehren, so brauchen wir auch die gemeinsame Anstrengung der Interpretation und des Erkundens neuer Wege des humanen Fortschritts.
Mehr denn je sind wir dabei aufeinander verwiesen."

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