Europa

alt25.06.2010: An der Oberfläche sieht es so aus, als ob der Konflikt zwischen der Russischen Union und Weißrussland um die Bezahlung von Gaslieferungen des russischen transnationalen Konzerns GASPROM beigelegt sei. Am gestrigen Donnerstag gab Gasprom bekannt, dass die seitens Weißrussland ausstehenden Zahlungen erfolgten und die Lieferung von Erdgas an Weißrussland wieder aufgenommen wurde. Alles also nur eine kleine rein wirtschaftliche 'Unebenheit' zwischen Geschäftsleuten? Wohl kaum, wenn Weißrusslands Staatspräsident Lukaschenko den Konflikt Anfang dieser Woche sogar als "Gaskrieg" gegen sein Land bezeichnete.

Weißrussland hat in Osteuropa einen vergleichsweise hohen Entwicklungs- und Lebensstandard. Das Land ist jedoch hinsichtlich der Versorgung mit Erdöl und Erdgas extrem abhängig von Importen aus Russland, ist aber darüber hinaus ein wichtiges Transitland für russisches Erdgas nach Mittel- und Westeuropa, sowie nach Litauen und der russischen Enklave Kaliningrad. Zwei große Leitungssysteme sind dabei das technologische Rückgrat. Die Transit- und Ferngasleitung Jamal-Europa mit etwa 33 Mrd. Kubikmetern Kapazität gehört bereits Gasprom, das Leitungsnetz der Beltrans AG für Transit und Verteilung im Land mit 51 Mrd. Kubikmetern Kapazität gehört Gasprom zu 50%, hier hat der weißrussische Staat noch dominierende Kontrolle.

Gasprom hat seit Jahren die erklärte Absicht, schrittweise die Preise für sein Erdgas an Weißrussland (Eigenverbrauch ca. 22 Mrd. Kubikmeter, Transit ca. 40 Mrd. Kubikmeter) auf das Niveau der Preise in Westeuropa (derzeit über 300 US-$ für 1000 Kubikmeter) anzuheben. In diesem Jahr will Gasprom einen Erdgaspreis von durchschnittlich 187 US-$ durchsetzen. Weißrussland betrachtet diesen Preis als überzogen und zahlte bisher für den Verbrauch im Lande nur einen Preis von 150 US-$, was dem Preis für Erdgasabnehmer in Russland entspricht. Auf diese Weise war Weißrussland bis Ende Mai aus Sicht von Gasprom mit Zahlung von 192 Mio. US-$ in Verzug.

Das Ansinnen Weißrusslands und seines Präsidenten Lukaschenko in dieser Angelegenheit ist zumindest als Verhandlungsposition nicht ganz so abwegig, wie es vielleicht zunächst erscheint. Erstens hat die Russische Union und Gasprom bzgl. der Lieferung von Erdgas in Europa und besonders gegenüber Weißrussland eine ausgesprochene Monopolstellung, ist der weltweit größte Einzelexporteur mit geschätzten Reserven von 70.000 Mrd. Kubikmetern Erdgas. Preise für Erdgas von Gasprom können und werden deshalb durchaus willkürlich festgelegt. Zweitens hat Russland schon früher mit Weißrussland vereinbart, Erdöl für dessen Eigenverbrauch zu Inlandspreise zu verkaufen. Warum also nicht sollte diese Regelung jetzt auch für Erdgas gelten. Insbesondere, wenn drittens zwischen beiden Staaten intensiv über die Bildung einer Zollunion verhandelt wurde (die in diesem Jahr bis zum 1.7. wirksam werden soll) und die Annäherung an einen gemeinsamen Wirtschaftsraum geplant ist?

Hatte Lukaschenko noch vor zwei Wochen auf Verhandlungen unter solchen Gesichtspunkten gesetzt, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Der schon eine Weile absehbare Streit eskalierte in der vorletzten Woche plötzlich. Gasprom-Chef Alexej Miller drohte mit Lieferstopp und erhielt dafür am Sonntag (20.6.) von seinem obersten Auftraggeber, Präsident Medwedjew, die Genehmigung und Anweisung. Wie Alexej Miller zuvor dem Präsidenten mitgeteilt hatte, „wird die Verschuldung für die Gaslieferungen von Weißrussland zwar anerkannt, es schlägt aber vor, die Schulden mit Lieferungen ihrer Maschinen, Anlagen und anderen Waren zu begleichen“. Dazu Medwedjew höhnisch: „Gasprom kann die Rückzahlung der Schulden in der Form von Kuchen, Butter, Käse oder anderen Zahlungsmitteln nicht akzeptieren.“ Gefordert waren Devisen!!

An Devisenvorräten aber ist Weißrussland derzeit nicht reich. Und es  halfen auch nicht mehr Verzweiflungsangebote von Lukaschenko: Man bat um zwei Wochen Aufschub zur Beschaffung der Devisen für die Schuldbegleichung. Man schlug vor, die Schulden gegen Forderungen Weißrusslands an Gasprom wegen Nutzung der Transitleitungen (laut Lukaschenko 260 Mio. US-$) zu verrechnen. Und Lukaschenko ging sogar schon vorher (Ende Mai) soweit, Gasprom und Medwedjew eine volle Übernahme des Energienetzes von Weißrussland (Beltrans) gegen Beibehaltung des niedrigen russischen Inlands-Gaspreises vorzuschlagen - was einige Kommentatoren als Bereitschaft zum 'Verkauf des Familiensilbers' bewerteten.

Das alles interessierte Medwedjew und Gasprom-Chef Miller nicht. Ab Montag (21.6.) wurden die Gashähne für Erdgas nach Weißrussland schrittweise bis auf vorgestern 70% zugedreht. Während daraufhin Lukaschenko alle Hebel setzte, um die geforderten Devisen kurzfristig zu besorgen, drohte er jetzt seinerseits, den Transit wegen ausstehender Zahlungen (s.o.) von Gasprom zu stoppen und wies dieses am Dienstag an, wenn Gasprom seine Transitgebühren nicht bis Donnerstagvormittag zahlen würde. Am Mittwoch überwies nun Weißrussland 187 Mio. an Gasprom, und am Donnerstagvormittag zahlte Gasprom 228 Mio. an Weißrussland. Gas fließt wieder wie zuvor.

Warum also das Ganze, warum diese Farce, könnte man fragen. Denn die Brutalität und Kompromisslosigkeit des russischen Präsidenten Medwedjew in der Behandlung des Streites ist hervorstechend. Das Vorgehen wird jedoch verständlich, wenn man weiß, dass in der letzten Woche (18.6.) auch Verhandlungen zwischen Russland und Weißrussland über die Modalitäten der gemeinsamen Zollunion zwischen den beiden Staaten und Kasachstan stattfanden. Dabei wehrte sich Weißrussland vehement gegen die Konzeption der russischen Seite, für Öl und Gas weiterhin Exportzölle zu erheben und verweigert die Annahme der russischen Vorstellungen. Weisrussland fordert eine uneingeschränkte Zollunion.

Wie die Vorstellungen der russischen Seite aussehen und ausgehen, zeigte der Staats- und Wirtschaftsführung Weißrusslands das Beispiel Erdöl. "Russland liefert Weißrussland zollfrei nur noch eine Ölmenge von 6,3 Millionen Tonnen, die dem Eigenverbrauch des Landes entspricht. Auf alle darüber hinausgehenden Lieferungen (zuletzt etwa 10 Mio. Tonnen jährlich) müssen trotz der eigentlich bestehenden Zollunion beider Staaten 280 Dollar Gebühr pro Tonne entrichtet werden. Im Endergebnis sacken die Staatseinnahmen in Weißrussland drastisch ein, die Schulden wachsen" schrieb Russland-Aktuell am 28.5. dieses Jahres. Man müsste hinzufügen: Und die Profite von Gasprom wachsen in gleichem Maße. Und sie sind gleichzeitig Mehrwert, der von der Bevölkerung Weißrusslands geschaffen wurde. Denn die genannten Gebühren schöpfen das ab, was nach Veredelung des Rohöls von Weißrussland durch Verkauf im Ausland eingenommen wird. Früher, nein, auch heute nennen wir das 'ungleiche Verträge', 'Übervorteilung', 'Neokolonialismus'.

Dass Russlands Präsident mit seiner Anweisung, nicht viel Federlesen zu machen und die Gasliefermengen umgehend zu reduzieren, den Konflikt auf die Ebene der Staatsbeziehungen angehoben hatte, verdeutlicht, was seine Entscheidung - und das sehen viele Beobachter in beiden Staaten - zeigen soll: wir sind die Stärkeren, fügt euch unseren Forderungen! Die russische Staatsführung (obwohl nicht alle dort an diesem Strang ziehen, so z.B. Außenminister Lawrow) hält es ganz offensichtlich so, wie es schon vor Jahren deren Verteidigungsminister Iwanow formulierte: "Zur Durchsetzung von nationalen Interessen in der Außenpolitik haben Öl und Gas dieselbe Bedeutung wie Atomwaffen!" Eine Ansicht, die Präsident Medwedjew teilt. Neokolonialismus und Imperialismus in reiner Form.

Es wäre Weißrusslands Volk zu wünschen, dass es sich solchen Umarmungen entziehen kann.

Text: hth  /  Foto: WikiCommons