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stop ceta wallonie30.10.2016: CETA, das Freihandelsabkommen mit Kanada, soll nun wirklich im Schweinsgalopp bereits am Sonntag, den 30 Oktober, offiziell unterzeichnet werden, nachdem das wallonische Regionalparlament und das Parlament der Region Brüssel nach tagelangen hartnäckigen Verhandlungen ihr Nein aufgaben und der belgischen Regierung die Genehmigung zur Unterzeichnung erteilten. Die Hast, mit der die EU-Oberen das Abkommen in trockene Tücher bringen wollen, ist enthüllend für die Angst, die in ihren Kreisen herrscht, dass da noch andere auf die Idee kommen könnten, Nein zu sagen. Da müssen so schnell wie möglich vollendete Tatsachen geschaffen werden.

Die Verhandlungen der belgischen Regierung, die in engster Abstimmung mit der EU-Kommission agierte, mit den Regierunen der belgischen Regionen Wallonien und Brüssel endeten mit einem „Zusatzabkommen“, das als „Interpretations-Erklärung“ dem Vertrag angehängt werden soll. Darin sind einige Abschwächungen und Präzisierungen zum ursprünglichen Vertragstext festgehalten worden, ohne diesen selbst zu ändern. Deren juristischer Wert und Bindungskraft auch für Kanada ist umstritten. Allerdings hat die wallonische Regionalregierung einige Vorbehalte hinsichtlich einer juristischen Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof geltend gemacht und sich auch die Möglichkeit einer Überprüfung der Auswirkungen des Vertrags in Wallonien und eines eventuellen Wiederausstiegs bei negativen Erfahrungen bestätigen lassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass CETA sowieso zunächst nur „vorläufig“ in Kraft treten soll, weil in allen EIU-Staaten erst noch eine Prozedur der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente erfolgen muss, was möglicherweise bis zu zwei Jahren in Anspruch nehmen kann, bevor er endgültig in Kraft treten kann. Es bleibt also ein Spielraum für weitere Auseinandersetzungen und die Entwicklung des Widerstands gegen das Abkommen.

Peter Mertens, der Vorsitzende der belgischen Partei der Arbeit (PTB) hat zusammen mit Line de Witte, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leuven, Listenführerin der PTB/PdvA bei der letzten Wahl zum flämischen Parlament, am Freitag, 28. Oktober, am Tag nach der Bekanntgabe der Vereinbarung auf Regierungsebene, auf der Internetseite der PTA/PvdA die nachfolgende Analyse zum „korrigierten CETA“ veröffentlicht:

Ein „neues CETA“?

Gestern, Donnerstag, 22. Oktober 2016, haben die verschiedenen belgischen Regierungsgremien eine neue Vereinbarung zu CETA getroffen. Heute ist sie in einer außergewöhnlichen Verfahrensweise an das wallonische Parlament übermittelt worden. In der Zwischenzeit wurden die verrücktesten Interpretationen verbreitet. „Nicht ein Jota am Vertrag ist geändert worden“, kommentierten Charles Michels (rechtsliberaler Chef der belgischen Zentralregierung, Anm.) und Geert Bourgeois, Ministerpräsident der Region Flandern. „Wir haben einen neuen Vertrag hervorgebracht“, rühmt sich seinerseits der wallonische Ministerpräsident Paul Magnette. Kurz: nach ihm gibt es ein „neues CETA“. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte, dürften sich allgemein die Leute sagen, bevor sie zu ihren alltäglichen Beschäftigungen zurückkehren.

Aber was ist Realität?

Dass kein einziger Buchstabe am CETA-Vertrag selbst verändert worden ist, ist exakt. In diesem Sinn haben Michel und Bourgeois recht. Aber dennoch ist dem Vertrag eine „Interpretation“ durch die belgische Regierung zugefügt worden. In diesem Sinn hat Magnette Recht.

Die Schlüsselfrage ist also: welches Gewicht hat diese hinzugefügte Erklärung in juristischer Hinsicht? Schon letzte Woche – also lange vor der Unterzeichnung, wie man jetzt weiß – hat das wallonische Parlament einen Juristen eines renommierten Anwaltsbüros eingeschaltet, um das eine oder andere Element zu klären. „Jedes Mal, wenn die Interpretation im Widerspruch zum Vertag steht, wird der Vertrag Vorrang haben“, erklärte der Jurist. Wenn also der Vertrag in der juristischen Hierarchie höher seht als der interpretative Anhang, wird dieser Anhang nichts ändern können an den 1600 Seiten Liberalisierung, Marktförderung und Deregulierung.

Der Widerstand verschob die Linien

Es ist dennoch absurd zu behaupten, dass der Widerstand nichts erreicht habe. Fünfzehn Tage lang hat das „Nein“ aus Wallonien und der Region Brüssel für Wirbel gesorgt. Was sieben Jahre lang nicht gemacht werden konnte, ist ganz plötzlich machbar geworden: eine breite Debatte abhalten, in der alle Akteure ihre Stimme zu Gehör bringen konnten. Das europäische Establishment war plötzlich gezwungen, die Einsprüche der Umwelt-Organisationen und der Verbrauchervereine, der Gewerkschaften und Genossenschaften zu berücksichtigen. Bis auf die Kapverdischen Inseln haben die Zeitungen den Widerspruch gegen diese Vereinbarung erwähnt. In Kanada und in Deutschland haben Bürger die Obersten Gerichte angerufen. In Amsterdam und in Berlin gab es Unterstützungsdemonstrationen. Sehr zahlreich haben sich Europäer Belgien zugewendet, voller Bewunderung und Hoffnung.

Niemals zuvor war ein Handelsabkommen Gegenstand so vieler Diskussionen gewesen. Und das ist eine gute Sache, denn in diesem CETA geht es um sehr viel mehr als um freien Handelsaustausch im eigentlichen Sinn. Es sind nicht in erster Linie die Import-Export-Tarife, die Gegenstand der Diskussion sind, sondern eher der Unterschied von Regulierungen und Vorschriften zwischen der EU und Kanada. Und diese Regeln betreffen die Umwelt, die Arbeitsgesetzgebung, den Kapitalfluss, die Gesundheit und die Patente. Im Vertrag ist auch die Rede von einem Sondertribunal für die multinationalen Konzerne, wo nur sie das Recht haben, Klage zu erheben und wo die nationalen Gesetze keine Anwendung finden.

Ende oder nicht für das Sondergericht ICS?

Um die Bewegung einzudämmen, hat die EU eine gewisse Anzahl von Versprechen gemacht. Das wichtigste betrifft das Ausnahmegericht für die Multis, das „Investment Court System“ (ICS). Es ist dieses Gericht, vor dem Unternehmen Staaten vorklagen können, wenn diese einen Beschluss fassen, der ihren Profiten schaden könnte. Diese Gerichte sind Teil eines juristischen Parallel-Systems, das völlig unabhängig ist gegenüber jeder nationalen Gerichtsentscheidung.

Dank der Opposition der Parlamente von Wallonien und Brüssel wurde erreicht, dass diese Gerichte nun in anderer Weise zusammengesetzt werden. Die Richter sollen unabhängiger werden und ein ethnischer Verhaltenskodex soll eingeführt werden. Ohne eine solche Reform will das wallonische Parlament übrigens das Abkommen nicht ratifizieren.

Die Zukunft wird zeigen, ob diese Zusage eingehalten wird. Es ist aber auf jeden Fall festgelegt, dass das Prinzip, Ausnahmegerichte zu bilden, aufrechterhalten wird. Die Richter werden sicherlich etwas besser ausgewählt, aber die Multis haben immer noch Rechte, die niemand anderem zugestanden werden: sie können Druck auf die Staaten ausüben, indem sie von ihnen bei einem Gericht, das speziell dafür geschaffen wird, mehrere Milliarden Schadenersatz einfordern. Unterdessen verspricht die belgische Regierung, beim Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen, ob ein solches Ausnahmegericht zulässig ist. Man wird also warten müssen, denn der Europäische Gerichtshof hat noch nie durch Schnelligkeit geglänzt. Und inzwischen wird das Ausnahmegericht natürlich präsent sein.

Was ist mit den öffentlichen Diensten?

CETA ist das erste Handelsabkommen zur Anwendung von Negativlisten bei der Liberalisierung der Dienstleistungen. Das heißt, dass von nun an alle Dienstleistungsbereiche liberalisiert werden können, außer wenn sie auf der Liste stehen. Die nunmehr hinzugefügte Interpretation dazu besagt, dass die Staaten selbst entscheiden können, was ein Öffentlicher Dienst ist. Aber der Vertrag hat immer Priorität vor der Interpretation. Was bedeutet, dass es in der Praxis also absolut nicht sicher ist, dass man verlangen könnte, was auch immer es sei. In der Vergangenheit hat das holländische Unternehmen Echmea die slowakischen Behörden bei einem solchen Ausnahegericht angezeigt, weil diese aus den Krankenversicherungen einen öffentlichen Dienst machen wollten, was den privaten Gesundheitsversicherungen verbieten würde, Profit zu machen. Die Slowakei musste 22 Millionen für seinerzeit „nicht realisierte Gewinne“ und für die künftigen Gewinnausfälle bezahlen. Wissend, dass CETA juristisch Vorrang hat vor der Interpretation, ist es also absolut nicht sicher, dass der belgische Staat nicht bezahlen muss wenn er seine öffentlichen Dienste garantieren will.

Was geschieht, wenn Technokraten sich mit Hormonfleisch und gentechnisch veränderten Organismen (GVO) beschäftigen?

Nun werden wir also kein  Hormonfleisch und auch keine genetisch manipulierte Nahrungsmittel mehr akzeptieren müssen. Das ist ebenfalls versprochen worden. Und es wird im belgischen (Zusatz)Abkommen stehen. Faktisch stand es aber schon in CETA selbst. Das ist eine gute Sache für alle, die sich um die Nahrungsmittelsicherheit sorgen, und das kann nur gut für uns sein.

Aber – denn es gibt noch ein aber – es wird nunmehr eine ganz neue Form der Zusammenarbeit zwischen der EU und Kanada geben, bei der spezielle Expertengruppen die Normen und Spezifikationen festlegen. „Geregelte Zusammenarbeit“ heißt die Bezeichnung für diese Prozedur. Die Technokraten dieser Expertengruppen werden auch die Normen für die Nahrungssicherheit definieren. Die Erfahrung mit dieser Art von technokratischen Gruppen innerhalb der EU zeigt uns, dass diese Experten oft weit davon entfernt sind, unparteiisch zu sein. Und dass die Experten von Großunternehmen im Allgemeinen in der Mehrheit sind. Es ist also absolut nicht undenkbar, dass einige Technokraten zugunsten der Multis wie Bayer-Monsanto agieren werden, die es liebend gern sähen, dass „genetisch veränderte Organismen“ (GVO) auch in Europa weit verbreitet werden. Gegenwärtig können Hormonfleisch und GVO auf unserem Markt noch abgelehnt werden, aber in Kürze wird dies über den Mechanismus der „geregelten Zusammenarbeit“ vielleicht nicht mehr der Fall sein. Wenn die Vordertür noch verschlossen ist, ist es die Hintertür keineswegs mehr.

Was ist mit den US-amerikanischen Filialen in Kanada?

Mehr noch als das Freihandelsabkommen mit Kanada ist der Freihandelsvertrag mit den USA (TTIP) im Visier. Das ist ganz logisch, denn es handelt sich um einen viel wichtigeren Markt, und eine ganze Reihe von US amerikanischen Normen sind sehr viel lascher. Die Welt der US Unternehmen hat allerdings nie Hemmungen gekannt. Vier Fünftel der US-Unternehmen haben Filialen in Kanada, und dank CETA würde also jede beliebige kanadische Filiale eines US Unternehmens unmittelbaren Zugang zum europäischen Markt haben.

Das Abkommen Magnettes verlangt nun eine „echte“ Bindung dieser Unternehmen in Kanada. Obwohl die Forderung korrekt ist, regelt sie nichts. Denn was heißt das, eine „echte Bindung“? Dass es genügt, auch ein paar Waren auf dem kanadischen Markt zu verkaufen? Dass es genügend Kanadier in seinem Verwaltungsrat hat? Und wer kontrolliert all das? Selbst in Europa gelingt es nicht, die zehntausende von Briefkastenfirmen zu kontrollieren, die unsere Gesetze zu umgehen versuchen.

Warum das alles jetzt in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Parlamente ratifizieren lassen?

„Wir weisen das Ultimatum und die Timings zurück, die unvereinbar sind mit der Demokratie“, erkläre Paul Magnette noch vor einigen Tagen. „Das wird Wochen brauchen, wenn man nicht in Irrtümer verfallen will“, sagte Eli Di Rupo (PS) am letzten Montag. „Umso mehr, als wir mit politischen Delinquenten verhandeln“, fügte Benoît Lutgen (Vorsitzender der französischsprachigen Christlich-Sozialen und Koalitionspartner der Sozialdemokraten in Wallonien, Anm.) hinzu.

All das kontrastiert in erschreckender Weise mit dem Timing, das in den letzten 24 Stunden befolgt worden ist. Diese Geschwindigkeit hat Züge der schwindelerregenden Attraktion Cobra des Walibi-Parks (einer Achterbahn) an sich. Am Donnerstag genau um Mittag wurde der Entwurf eines Abkommens vereinbart. Um 18.30 Uhr waren die Texte an die Abgeordneten des wallonischen und Brüsseler Parlaments übermittelt. Sie beriefen eine Kommissionstagung für 21.30 Uhr ein. Es kamen noch Texte an, während die Kommission bereits versammelt war. Freitag um 11 Uhr fanden dann die Plenartagungen des wallonischen und Brüsseler Parlaments statt, wo alle entscheiden müssten. In weniger als 24 Stunden sollte also alles aufgearbeitet, diskutiert und abgestimmt sein. Und hunderten von neuen Seiten, voll von Juristen-Jargon, sollen bewertet worden sein. Das ist genau das Gegenstück des Timings, das von der PS zu Recht kritisiert worden ist. Und dieses Mal wurde den Parlamentariern von Wallonien und Brüssel sogar ein Ultimatum aufgedrückt (nämlich bis Freitagabend 24 Uhr zu entscheiden, Anm.) Warum sollten die Dinge so schnell gehen? Fürchtete Magnette eine gründlichere juristische Analyse des Abkommens?

Free Trade oder Fair Trade (Freihandel oder fairer Handel?)

Leider ist im Wesentlichen nichts an CETA verändert worden. Es handelt sich um ein Freihandelsabkommen, das liberalisieren, Märkte erweitern und deregulieren wird. Es wird Europa ohne Zweifel ein gutes Paket an Arbeitsplätzen und Wohlstand kosten.

In der jüngsten Studie der Tufts University unter Leitung von Professor Pierre Kobler, Wirtschaftswissenschaftler beim Departement für Wirtschafts- und Sozialfragen (DAES) der UNO, und von Professor Servaas Storm, der Wirtschaft an der Universität Delft lehrt, heißt es: „Das Freihandelsabkommen mit Kanada dürfte rund 204 000 Arbeitsplätze in Europa zerstören und zu einem durchschnittlichen jährlichen Verlust von 631 Euro pro Person führen. Das bedeutet einen Transfer von 0,66 % des europäischen PIB der Arbeiter an die Kapitalbesitzer. Am Ende dürfte das inländische Bruttoeinkommen der EU bis 2023 um 0,49 % reduziert werden“. In diesen Worten fassten die Professoren ihre Studie in der Zeitschrift „Le Monde Diplomatique“ zusammen.

Zahlreiche Verbesserungen sind hinzugefügt worden und ein Haufen Versprechen wurde gemacht. Aber den derzeitigen Vertrag als „neues CETA“ zu verkaufen, heißt doch mehr als ein Stück zu weit zu gehen. Dieser Vertrag bleibt einer für „free trade“, zugunsten der großen Kozerne eines jeden Sektors. Zum Schaden der kleineren lokalen Produzenten, zum Schaden der Beschäftigten, der Bürger und der Umwelt. Nein, CETA hat nichts von einem guten Vertrag.

Was gut ist, das ist die gesellschaftlich Debatte und der Widerstand einer sehr großen Zahl von sehr verschiedenartigen Akteuren, der von der Basis kam. Da liegt der Schlüssel. Sie können diesem Vertrag noch den Stecker ziehen. Auch andere Verträge sind schon im Papierkorb gelandet. 2012 hat das EU Parlament unter dem Druck von unten das Handelsabkommen ACTA abgelehnt. ACTA hätte unsere Bürgerrechte und unsere Freiheit im Internet in Gefahr bringen können. 1998 hatte Frankreich das Multilaterale Investitionsabkommen versenkt. Es ist möglich, das zu tun, und das ist auch das, was mit CETA gemacht werden muss, denn das „neue CETA“ ist noch weit davon entfernt, endgültig unter Dach und Fach zu sein.

Quelle: Vraiment nouveau, ce «nouveau CETA» ?

Übersetzung: Georg Polikeit       Foto: Martin Heinlein