20.05.2016: Am 16. Mai 1940 begann für die norddeutschen Sinti und Roma die systematische Verschleppung ganzer Familien in die Lager und Ghettos des besetzten Polens. Nur wenige der rund 2.500 Deportierten kehrten nach dem Ende des Faschismus wieder zurück, viele starben in den Lagern. Am 1997 errichteten Gedenkstein im Kieler Hiroshima-Park findet jährlich eine kleine Feier statt. Der Landesvorsitzende des Verbandes der Sinti und Roma in SH e.V. Matthäus Weiß (Foto) begrüßte als Gäste die Vertretungen aus Landes- und Kommunalpolitik. Namentlich dankte er Heide Simonis, Ministerpräsidentin a.D. und langjährige Unterstützerin der Sinti und Roma, sowie Marianne Wilke, die als Ehrenvorsitzende der VVN-BdA Schleswig-Holstein (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen) mit ihrem Mann Günther teilnahm, für ihre Solidarität und Freundschaft.
Matthäus Weiß stellte klar, dass die Veranstaltung als Gedenken an die Opfer durchgeführt wird, dies jedoch nicht ausreichend sei die Geschichte zu reflektieren. Auch die aktuelle Situation muss angesprochen werden. „Es erfüllt mich mit großer Sorge und bereitet mir Bauchschmerzen, wenn heute wieder drei Staaten als sichere Herkunftsländer beschlossen werden, von denen klar ist, dass es diese vermeintliche Sicherheit für die Menschen dort nicht gibt.“ Die Menschen werden aber, gleich welche Gesetze dagegen geschaffen werden, ihre Wege gehen damit sie leben können, so Weiß. Und Matthäus Weiß wiederholte fast wortgleich die Aussage von einer Veranstaltung des `Runden Tisches gegen Rassismus und Faschismus Kiel´, und benannte den Hunger und die Armut als einen Fluchtgrund, meinte Hunger kann wie Krieg sein, dadurch fehlt den Menschen die Kraft etwas aufzubauen und auch deshalb fliehen sie. (s.a. Es ist nicht nur Krieg, wenn Bomben fallen!)
Mit dem Hinweis auf AfD, Pegida und Kigida machte Weiß deutlich, dass wir weiter wachsam müssen gegen rassistische Entwicklungen und das Auftreten solcher Organisationen und Zusammenschlüsse. Er berichtete von der Teilnahme an einer Veranstaltung in Pinneberg und stellte die Frage „Wie weit sind wir wieder, wenn Veranstaltungen solcher Art von der Polizei geschützt werden müssen?“ Auch meinte er, ob es ein normales Leben sei, wenn Kinder erklären müssen woher sie kommen, weshalb sie daher kommen oder hier geboren wurden. Eindringlich verband Matthäus Weiß in dieser kurzen Rede persönliche Erfahrungen, die lange Geschichte von Unterdrückung der Sinti und Roma und den immer noch notwendigen Kampf für die Umsetzung gleicher Rechte für alle Menschen, gegen Ausgrenzung aufgrund sozialer und kultureller Herkunft.
Der Vizepräsident des schleswig-holsteinischen Landtages Bernd Heinemann (SPD) ging in seiner Rede auf das Ergebnis einer erst in diesem Jahr veröffentlichten Studie ein, die belegt, was Opfer des Faschismus, Organisationen gegen Nazis und deren Historiker schon wussten: bis Anfang der 70er-Jahre saßen in dem obersten Parlament des Bundeslandes ehemalige Mitglieder der NSDAP und anderer Naziorganisationen und regierten mit. Trotz allem kann das Ergebnis der Studie im Auftrag des Landes wertvoll für die Vermittlung von Geschichte sein und hoffentlich Konsequenzen für das Aufarbeiten haben. Insgesamt war die Rede des Vizepräsidenten jedoch leider ein Beleg für eine falsche Form der Aufarbeitung der Geschichte. Heinemann hob in seiner Rede die „Bemühungen der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein, sich in unsere Kultur zu integrieren“ hervor. Mit Beispielen wie den Schulbesuchen der Kinder oder die von den Sinti und Roma gewollte Zusammenarbeit mit anderen Teilen der Bevölkerung wollte er deren Integrationsbemühungen unterstreichen. Damit zeichnete Heinemann jedoch das Bild einer Akzeptanz für Menschen, die einseitig Leistungen bringen und „stets bemüht sind“ die Vorurteile gegen sie abzubauen. Ein solidarisches Miteinander und gleiche Rechte für Alle werden jedoch nicht durch eine Art „Bringschuld“ der jahrhundertelangen Verfolgten und Ausgegrenzten entwickelt werden!
Heide Simonis Foto) korrigierte ihren Parteigenossen indem sie klarstellte, dass viele der Sinti und Roma länger in Schleswig-Holstein verankert seien als sie selbst, was sich teilweise auch darin äußere, dass sie besser Plattdeutsch sprechen.
Vielleicht hätte Heinemann gut daran getan, sich vor seiner Rede noch einmal mit der Geschichte der Sinti und Roma zu befassen. Die erste urkundliche Erwähnung der Sinti und Roma wird in Schleswig-Holstein aus dem Jahre 1417 verzeichnet. Eine jahrhundertelange Diskriminierung, Verfolgung und Leiden der Menschen zeichnet die Geschichte der Sinti und Roma. Diese wird auch daran deutlich, dass die Morde und Deportationen während des Faschismus aus Deutschland erst 1982 als Tatbestand des Völkermordes politisch anerkannt wurden.
1980 gründete sich der "Verein zur Durchsetzung der Rechte der Sinti in Kiel und Schleswig-Holstein", seit 1990 gibt es den Landesverband der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein e.V. mit ca. 5000 Mitgliedern. Erst 1998 wurden die in Deutschland lebenden ca. 70.000 Sinti und Roma als nationale Minderheit anerkannt. Romanes ist (erst) seit 1998 mit der europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen gesetzlich anerkannt und geschützt.
Als erstes Bundesland hatte der Schleswig-Holsteinische Landtag am 14. November 2012. nach fünf vergeblichen Anträgen, den Schutz der deutschen Sinti und Roma beschlossen. Neben den deutschen Dänen und Friesen wurden sie als zu schützende und zu fördernde Minderheit in die Landesverfassung aufgenommen. Ein parlamentarisches Gremium soll seit dem April 2013 dafür sorgen, die Rechte und den Schutz auch im Alltag durchzusetzen. Dies gilt allerdings nur für die seit Jahren hier lebenden Menschen. Geflüchteten aus anderen Ländern droht auch aus Schleswig-Holstein die Abschiebung, umso mehr, wenn sie aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ kommen, zu denen die Länder gezählt werden, aus denen Roma flüchten.
Der Staatssekretär Rolf Fischer (ehemaliger Kreisvorsitzender der SPD in Kiel) begann seinen Beitrag mit Hinweis auf Ralph Giordano und dem Werk „Die zweite Schuld“. Mit dem Wegsehen, Verschweigen und Verleugnen sollte nicht nur die erste Schuld während der Zeit des Faschismus verdrängt werden, sondern auch in der Nachkriegszeit ab 1945 erfolgte keine umfassende Aufarbeitung. Fischer forderte dazu auf sich heute mit der Geschichte auseinanderzusetzen, die aktuellen Rechtsentwicklungen zu sehen, ernst zu nehmen und zu handeln und sich nicht in die Gefahr einer „dritten Schuld“ zu begeben.
Die musikalischen Beiträge vor, während und am Ende des Gedenkens sind ebenfalls als politische Aussage zu verstehen, denn die Kultur der Sinti und Roma wurde gerade auch zur Zeit des Faschismus als „entartet“ bezeichnet oder als „Zigeunermusik“ volkstümlich hergerichtet und entwertet.
Zum Abschluss wurden im Foyer des Kieler Gewerkschaftshauses Gespräche über die Redebeiträge und darüber hinaus geführt, auch über die Möglichkeiten und die Notwendigkeit der weiteren Zusammenarbeit gegen die Rechtsentwicklung und Rassismus und gleiche Rechte für alle Menschen.
Text/Fotos: Bettina Jürgensen