02.04.2016: „Der machtvolle Streik- und Demonstrationstag, der mehr als eine Millionen Menschen in 260 Städten vereinte, hat die unbeugsame Entschlossenheit der Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schüler, Lohnabhängigen, Beschäftigungslosen und Rentnerinnen und Rentner gezeigt, die Rücknahme des Arbeitsgesetzentwurfs zu erreichen und neue soziale Rechte zu erobern“. So lautet der erste Satz einer gemeinsamen Mitteilung, die die vier französischen Gewerkschaftsbünde CGT, Force Ouvrière, FSU und Solidaire sowie der Studentenverband UNEF und die Schülerverbände UNL und FIDL nach dem eindrucksvollen Erfolg ihres gemeinsamen Aktionstages am 31. März veröffentlicht haben.
Mit mehr als 1,2 Millionen Teilnehmern (390 000 laut Polizei) hatte sich die Zahl der Demonstranten innerhalb von nur drei Wochen gegenüber dem letzten Aktionstag am 9. März mehr als verdoppelt. 160 000 waren es trotz starker Regenfälle und Kälte in Paris, 120 000 in Marseille, 100 000 in Toulouse, mehrere Zehntausend in allen übrigen Großstädten und Tausende in vielen kleineren Orten.
Die Züge waren auffallend stark von der aktiven und engagierten Teilnahme vieler Jugendlicher geprägt. 22 Jugendorganisationen, darunter der Kommunistische Jugendbewegung, die Jungsozialisten, mehrere Gewerkschaftsjugendverbände, ökologische und feministische Vereinigungen hatten sich zu einem Kollektiv gegen das „Loi Khomri“ zusammengeschlossen und gemeinsam zu den Aktionen aufgerufen. „Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite“, lautete einer ihrer Slogans.
Neben den Spitzen der Gewerkschaften und Jugendverbände waren in den Demonstrationszügen auch viele führende Politiker der französischen Linksparteien präsent, so der Nationalsekretär der Kommunistischen Partei (PCF), Pierre Laurent, Vertreter der übrigen Komponenten der „Linksfront“, Julien Bayou, der Sprecher der grünen Partei, aber auch eine Reihe von Politikern aus der regierenden „Sozialistischen Partei“, die in den letzten Tagen ihr Nein zum Gesetzentwurf der Arbeitsministerin Khomri erneut öffentlich bekundet hatten.
Verbunden waren die Demonstrationszüge mit Streiks in mehreren tausend Betrieben und Büros. Da der Aktionstag ein normaler Werktag war, legten viele Beschäftigte lang die Arbeit nieder, um daran teilnehmen zu können. In Paris und zahlreichen anderen Orten war das öffentliche Leben weitgehend lahmgelegt. Infolge des Streiks der Eisenbahner und der städtischen Verkehrsbetriebe konnten der Zugverkehr und die Metro-Linien nur spürbar reduziert betrieben werden. Gestreikt wurde auch in Flughäfen, Krankenhäusern, kommunale4n und staatlichen Verwaltungen, Schulen und Universitäten und in manchen Medienunternehmen. Weil viele Pendler auf das Auto umstiegen, gab es vor in den Ballungszentren lange Autokolonnen und Staus von insgesamt über 400 km Länge. Selbst die Angestellten des berühmten Eiffelturms beteiligten sich, sodass der Attraktionspunkt für Touristen geschlossen bleiben musste. In Toulouse legten auch die Beschäftigen des Flugzeugbauers Airbus die Arbeit nieder. Mehr als 250 Schulen und ein dutzend Universitäten waren ganz oder teilweise von Jugendlichen blockiert. Zum Teil wurden die Eingänge mit Mülltonnen versperrt. Einige Schulen blieben auch auf Anweisungen der Direktorien geschlossen. In Paris, Rennes, Nantes und Rouen kam es am Rande zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Reiz- und Tränengas einsetzte und mehrere Verhaftungen vornahm. Für die ARD war dies wieder einmal die Gelegenheit, die „Krawalle“ in den Vordergrund ihrer Berichte zu schieben, statt die eindrucksvollen friedlichen Massendemonstrationen vorzuführen.
Mit dem jüngsten Aktionstag ist die Bewegung gegen das „Arbeitsgesetz“ der Regierung Hollande/Valls weiter in die Breite gewachsen. Die Teilnahme an den Aktionen beschränkte sich bei weitem nicht mehr auf den „harten Kern“ der Gewerkschaften. Selbst Gruppen des der Regierung näher stehenden reformistischen Gewerkschaftsbundes CFDT waren in einigen Orten dabei. Dessen Führung hatte zwar am Entwurf des „Arbeitsgesetzes“ zusammen mit den anderen Gewerkschaften Kritik geübt, sich aber der Teilnahme an den Aktionen verweigert und die Gewerkschaftsfront damit gespalten, weil sie darauf setzte, in Verhandlungen mit der Regierung „Verbesserungen“ zu erreichen.
Demgegenüber betonte Philippe Martinez, der Generalsekretär der CGT, an der Spitze der Pariser Demonstration marschierend, dass dieser Gesetzentwurf „nicht verbesserungsfähig“ sei. Die Regierung müsse endlich auf den in den Demonstrationszügen sichtbar werdenden Volkswillen hören und ihren Entwurf zurückziehen. Laut Umfragen sprachen sich mehr als 70 Prozent der Befragten für die Rücknahme des Regierungsentwurfs aus.
„Entgegen dem, was die Regierung behauptet, würde dieses Gesetzesvorhaben auf keinen Fall die für einen wirtschaftlichen Aufschwung notwendigen dauerhaften Arbeitsplätze schaffen“, erklärten die beteiligten Gewerkschaften und Jugendorganisationen in ihrer gemeinsamen Mitteilung nach dem Erfolg des Aktionstages. Angesichts des weiteren Anwachsens der Arbeitslosenzahlen, der hohen Jugendarbeitslosigkeit, der Explosion von prekären Niedriglohnjobs werde dieser Text nur einen generellen Rückschritt im Arbeitsrecht und das „soziale Dumping“ zwischen den einzelnen Unternehmen der gleichen Branche nach sich ziehen. Der Kern des Gesetzentwurfs ist nämlich, dass darin die Möglichkeit von betrieblichen „Ausnahmeregelungen“ von geltenden Arbeitsgesetzen und Tarifverträgen durch „betriebliche Vereinbarungen“ festgeschrieben wird, angeblich um den Betrieben zu „mehr Flexibilität“ im Namen der „Wettbewerbsfähigkeit“ gegen ihre Konkurrenten zu verhelfen. In Wirklichkeit bedeutet dies aber die Verlagerung von Entscheidungen über Arbeitszeiten, Überstundenregelungen und sonstige Arbeitsbedingungen auf die betriebliche Ebene, auf der die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften im Vergleich zur Branchenebene eine schwächere Position haben und leichter mit der Drohung eines sonst angeblich bevorstehenden Konkurses oder Zwangs zum Arbeitsplatzabbau zur Hinnahme von sozialen Verschlechterungen erpresst werden können.
Deshalb sei die Rücknahme dieses Entwurfs die einzig mögliche Lösung des entstandenen Konflikts, betonten die beteiligten Gewerkschaften und Jugendorganisationen in ihrer Erklärung. Sie erklärten aber zugleich ihre Bereitschaft, “die Regierung zu treffen und Vorschläge für neue Rechte in Sachen Beschäftigung, Löhnen und Renten, Arbeitszeit, soziale Absicherung, Arbeitsbedingungen, Bildung und gewerkschaftliche Rechte und Freiheiten“ zu unterbreiten.
Genau einen Tag vor dem Aktionstag hatte Staatschef Hollande nach einer Ministerratssitzung bekanntgegeben, dass er das umstrittene Vorhaben einer Verfassungsänderung für die Einführung neuer Artikel zur Verhängung des Ausnahmezustands und zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft für wegen „Terrorismus“ verurteilte Straftäter, die er nach den Attentaten von Paris angekündigt hatte, nicht weiter verfolgen werde. Das war am Widerstand der rechten Mehrheit im Senat gescheitert, der sich nicht mit der sozialdemokratischen Mehrheit im Parlament auf einen gemeinsamen Text verständigen wollte. Viele Teilnehmer der gewerkschaftlichen Aktionen sagten wie Bernadette Groison, die Generalsekretärin der im Bildungswesen tätigen Gewerkschaft FSU: „Die Regierung hat einen Schritt zurück bei der Verfassung gemacht. Sie kann das auch bei dem Gesetzentwurf zum Arbeitsrecht tun.“ Philippe Martinez von der CGT fügte hinzu: „Zu sagen, dass man sich geirrt hat, ist keine Schwäche, sondern Hören auf die Straße“.
Falls die Regierung allerdings, wie befürchtet wird, nicht dazu bereit ist, sind die Beteiligten entschlossen, die Bewegung gegen das „Arbeitsgesetz“ mit neuen Aktionen fortzusetzen und weiter auszuweiten. Auf Initiative der Jugendorganisationen sollen bereits ab dem 5. April neue Aktionen stattfinden, weil in der Woche von 5.-8. April die Beratung des Gesetzentwurfs zunächst in der Kommission für soziale Angelegenheiten des Parlaments beginnt. Ein neuer großer gemeinsamer Streik- und Aktionstag aller beteiligten Gewerkschaften und Jugendverbände wird für den 9. April anvisiert.
Text: Georg Polikeit Foto: ActuaLitté