Deutschland

Reinefarth archiv Yad Vashem 906976137293693426801.08.2014: Was haben Sylt, die Insel der Schönen und Reichen im nordfriesischen Wattenmeer und Warschau gemeinsam? Auf den ersten Blick fällt einem dazu nicht viel ein. Und doch gibt es eine Verbindung, die einem noch heute erschaudern lässt - symbolisiert an der Person  Heinz Reinefarth (Foto, Mitte) . Er war sowohl in Warschau als auch in Westerland an exponierter Position tätig:  Von 1951 bis 1964 war er Bürgermeister von Westerland und während des Warschauer Aufstandes im Sommer 1944 befahl er als Generalmajor der SS Massenhinrichtungen an Zivilisten. In dieser Funktion war er Himmlers williger Vollstrecker, der befohlen hatte, in Warschau Aufständische und Zivilisten unterschiedslos zu ermorden. Heinz Reinefarth gilt in Polen seither als "Henker von Warschau".

Aus Anlass des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstandes wurde am 31.7. am Westerländer Rathaus nun nach jahrzehntelangem Verdrängen und Totschweigen eine Gedenktafel im Beisein von Vertretern der Generalkonsulate Polens aus Berlin und Hamburg enthüllt. Einstimmig hatte der Gemeinderat schließlich den Text der Tafel gebilligt, auf dem nun in deutscher und polnischer Sprache der Männer, Frauen und Kinder Warschaus gedacht wird, die während der Niederschlagung des Aufstands von den deutschen Besatzern verletzt, geschändet und ermordet wurden:

Warschau 01. August 1944
Polnische Widerstandskämpfer stehen auf gegen die deutschen Besatzer.
Das nationalsozialistische Regime lässt den Aufstand niederschlagen.
Mehr als 150.000 Menschen werden ermordet, unzählige
Männer, Frauen und Kinder geschändet und verletzt.
Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland,
war als Kommandeur einer Kampfgruppe mitverantwortlich für dieses
Verbrechen.
Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern und hoffen auf Versöhnung.
Aus Anlass des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstandes.
Sylt / Westerland 2014

Allein am 5. August 1944 fanden auf Reinefarths Kommando hin im Stadtteil Wola 10.000 Menschen den Tod. "Die Kinder und Frauen wurden alle an Ort und Stelle umgebracht", erzählt Janusz Brochwicz-Lewinski, damaliger Offizier im Warschauer Aufstand. "Die haben auch Leute im Krankenhaus umgebracht: Ärzte, Krankenschwestern und Patienten. Wenn die ein Krankenhaus erobert haben, haben sie alle erschossen, an Ort und Stelle." (NDR 5.5.2014). Der Schweizer Historiker Philipp Marti schreibt dazu in seinem im April diesen Jahres erschienen Buch: „Obwohl das Massaker mehrere zehntausend Zivilisten das Leben kostete, war Reinefarth nicht ganz zufrieden. Telefonisch meldete er dem Oberkommando der vor Warschau stationierten 9. Armee, dass seine Truppen nur langsam vorankämen und er zu wenig Munition habe, um alle Gefangenen zu liquidieren.“ Bis zum 3. Oktober war der Aufstand niedergeschlagen und als "Strafe" ließ Hitler die Warschauer Innenstadt sprengen. In den darauf folgenden Wochen und in Folge von Hunger und Zerstörung starben bis zu 200.000 Menschen in der Stadt. Die Vorgesetzten waren mit Reinefarth zufrieden und ehrten ihn, den "Exzesstäter" (Marti), mit Eichenlaub zum Ritterkreuz; überreicht wurde ihm die militärische Auszeichnung von Generalgouverneur Hans Frank, der als "Schlächter von Polen" in die Geschichte eingegangen ist.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Reinefarth unversehrt überlebt hatte, verbrachte er drei Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Dort ließ er sich vom Nachrichtendienst der US-Army anwerben, was ihn davor bewahrte, nach Polen ausgeliefert zu werden. Dort hätte ihm die Todesstrafe gedroht. „Vor einigen Jahren freigegebene Dokumente liefern eine schlüssige Erklärung dafür, warum Reinefarth im Gegensatz zu anderen Kriegsverbrechern der Auslieferung nach Polen entging: Er hatte sich 1947 vom CIC, dem damaligen Nachrichtendienst der US- Army, anwerben lassen, der sich von dem ehemaligen Frontoffizier und Festungskommandanten spezifische Informationen über die sowjetische Infanterietaktik erhoffte. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges hatte der gegenseitige fachliche Austausch zur Folge, dass eine Auslieferung aus westalliierter Sicht nicht mehr zu verantworten war. Darüber hinaus wäre dadurch die laufende Zusammenarbeit mit vielen anderen hochrangigen deutschen Offizieren von Wehrmacht und SS erheblich belastet worden“ (Marti)

Im Juni 1948 an die britischen Besatzungsbehörden überstellt, wurde Reinefarth am 21. Juni 1949 vom Spruchgericht Hamburg- Bergedorf von jeglicher Schuld während seiner SS-Tätigkeit frei gesprochen. Derart entlastet, startete er seine zweite Karriere: Er wurde Mitglied der Stadtvertretung und des Magistrats von Westerland und wurde 1951 zum Bürgermeister der Stadt gewählt – dieses Amt sollte er zwölf Jahre innehaben.  Die „Sylter Rundschau“ konstatierte damals hochzufrieden, dass am 5. November 1951 Heinz Reinefarth  im überfüllten Kursaal unter lauten Beifallskundgebungen zum neuen Bürgermeister gewählt wurde. „Es waren nicht nur seine Parteifreunde, die ihm die Hand schüttelten, sondern in überwiegender Zahl Bürgerinnen und Bürger aus allen Kreisen der Bevölkerung, die wohl alle das Gefühl hatten, dass nunmehr der richtige Mann am richtigen Platz steht.“

Seine Partei war der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), für die er auch bis Anfang der 60er Jahre im schleswig-holsteinischen Landtag saß. Im nördlichsten Bundesland, wo der Bevölkerungsanteil der Flüchtlinge aus dem Osten besonders hoch war, hatte die Partei ihre Machtbasis; bei den Landtagswahlen 1950 erhielt der BHE mehr Stimmen als die CDU. Konsequenter noch als andere Parteien forderte die BHE ein Ende der Entnazifizierung - und das aus gutem Grund: Fanden sich in ihren Reihen doch viele ehemalige NSDAP-Mitglieder wieder. So war der Landesvorsitzende und spätere Bundesvorsitzende Waldemar Kraft Mitglied der NSDAP und Ehrensturmführer der SS gewesen.

Reinefarths Nachkriegskarriere ist in der Bundesrepublik ohne Beispiel: Er war der einzige ehemalige SS-Führer im Generalsrang, der nach dem Krieg in ein Länderparlament einzog. Die Vorwürfe gegen Reinefarth, so z.B. von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) vorgebracht, werden als Kalte-Kriegs-Propaganda aus dem Osten abgetan.

Selbst die 1957 entstandene Dokumentation der antifaschistischen Filmemacher Annelie und Andrew Thorndike in ihrem DEFA-Film "Urlaub auf Sylt" , die Reinefarth als Henker von Warschau demaskiert, führte zu keinen Konsequenzen.  Es dauert noch bis 1961, bis der schleswig-holsteinische Landtag  im "braunen Naturschutzgebiet" (Die Zeit) schließlich Reinefarths Immunität als Abgeordneter aufhebt; zwei Jahre später muss er auch als Bürgermeister von Westerland zurücktreten.  Für die Verbrechen in Warschau musste er sich jedoch nicht verantworten; die Staatsanwaltschaft Flensburg stellte ihre jahrelangen Ermittlungen schließlich „mangels Beweisen“ ein.

Und auch in Westerland selbst gab es bis in die Gegenwart hinein kein Bedürfnis danach, die Person Reinefarth und seine Funktion als Bürgermeister kritisch aufzuarbeiten. Der "Fall Reinefarth" war in den vergangenen Jahrzehnten publizistisch zwar immer mal wieder kritisch thematisiert worden (so im Stern und in der Zeit) – für die Westerländer blieb es aber nach wie vor kein Thema.

Erst in diesem Jahr diskutierte man auf Sylt, wie mit dem Täter Reinefarth und seinen Opfern umgegangen werden soll und die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass jemand wie er im Nachkriegs-Schleswig-Holstein Karriere als Bürgermeister und Landtagsabgeordneter machen konnte. Auslöser war ein Anfang des Jahres im Kirchengemeinderat eingegangener Brief eines polnischen Historikers.

Im Kulturausschuss des Gemeinderats wurde die Initiative der Pastoren zunächst verhalten aufgenommen, aus Anlass des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstandes, eine Gedenktafel am Rathaus anzubringen. Vor allem die CDU-Vertreter drangen darauf, dass die Tafel nur auf den Warschauer Aufstand hinweisen sollte, nicht jedoch auf die Person Reinefarth, seine Beteiligung an der Niederschlagung und seine folgende Rolle in Westerland. Schließlich müsse man die Persönlichkeitsrechte beachten, „und überhaupt – so etwas macht man nicht“, wie der christdemokratische Bürgervorsteher damals sagte. Gerd Nielsen, SPD-Fraktionschef im Westerländer Rathaus: „Nach all den Jahrzehnten der Verdrängung müssen wir uns nun endlich im öffentlichen Raum der Frage stellen: Wie konnte Reinefarth hier Bürgermeister werden?“

Zeitgleich mit der Einweihung der Gedenktafel wird im Westerländer Rathaus eine Wanderausstellung über deutsche NS-Verbrechen eröffnet und der Schweizer Historiker Philipp Marti wird im Gemeindesaal der Kirchengemeinde aus seinem Buch „Der Fall Heinz Reinefarth“ lesen. Auch die Reise einer Delegation von Westerländer Bürgern nach Warschau wird derzeit vorbereitet.

In einer von allen Fraktionen getragenen Resolution hat der Landtag von Schleswig-Holstein des 70. Jahrestages des Warschauer Aufstandes am 1. August 1944 gedacht. Darin heißt es u.a.:  Der Landtag bedauert zutiefst, dass es nach 1945 in Schleswig-Holstein möglich werden konnte, dass ein Kriegsverbrecher Landtagsabgeordneter wird. Er verurteilt die Gräueltaten, die sein ehemaliges Mitglied, Heinz Reinefarth, insbesondere bei der brutalen Niederschlagung des Warschauer Aufstandes begangen hat sowie die sich hieran anschließenden menschenverachtenden Racheaktionen der Nationalsozialisten aufs Schärfste. Der Schleswig-Holsteinische Landtag bittet die Opfer der Untaten um Verzeihung.

Text:gst   Foto:Yad Vashem Photo Archive (Reinefarth in der Mitte)

Philipp Marti. Der Fall Reinefarth. Eine biografische Studie zum öffentlichen und juristischen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Wachholtz-Verlag 2014, 400 Seiten, ISBN: 9783529022517

Annelie und Andrew Thorndike: Urlaub auf Sylt. DEFA Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme, 1957

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