05.05.2016: Die Zustimmung im Senat ist nur noch Formsache. Auch dort haben die Rechten die Mehrheit. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wird mit einem kalten Staatsstreich aus dem Amt gedrängt. Eine Praxis, die die Rechten anwenden, wenn sie bei Wahlen keine Mehrheit finden. Ihr Ziel: Die Präsidentin abzusetzen, um ihr neoliberales Programm umzusetzen. Also die Liquidierung sozialer Errungenschaften, von Arbeiterrechten, und vor allem die Senkung der Mittel für Gesundheit und Erziehung. Die konservativen Kräfte und die USA wollen den Linkstrend und die Integration Lateinamerikas wieder umkehren. Auf dem XX. Internationalen Seminar der PT Mexicos sprachen wir mit José Reinaldo Carvalho, Sekretär der KP Brasiliens (PCdoB) für Internationale Beziehungen.
Am 17. April 2016 hat die brasilianische Rechte die wichtigste Hürde in ihrer Strategie des kalten Staatsstreichs genommenen: 367 von 513 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses stimmten für die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT. Wenn in den nächsten Tagen im Senat noch die einfache Mehrheit ebenfalls für das Amtsenthebungsverfahren votiert, wird die Staatschefin für 180 Tage suspendiert. Dann wird der bisherige Stellvertreter von Rousseff, Michel Temer von der PMDB (Partido del Movimiento Democrático Brasileno), das Präsidentenamt übernehmen – und voraussichtlich bis 2018 behalten.
Salsa korrupti
Die PMDB war bis vor einigen Wochen Koalitionspartner der PT, und obwohl die Partei die Koalition verließ, blieben ihre Minister und auch Michel Temer im Amt und betreiben das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff. Sie wollen die Regierung übernehmen. Die PMDB und ihre führenden Politiker gelten als die korruptesten im ganzen Land. Dies wurde jüngst auch durch die Veröffentlichung der "Panama Papers" bestätigt. "Eine direkte Verbindung zu Präsidentin Rousseff oder zu deren Vorgänger Lula da Silva ist in den Dolkumenten nicht zu finden. Auffällig viele dieser Firmen können dagegen Politikern oder Lobbyisten der Partei der Demokratischen Brasilianischen Bewegung (PMDB) von Vizepräsident Michel Temer zugeordnet werden", schreibt die Süddeutsche Zeitung in ihren Enthüllungsstorys. (SZ, 8.4.2016)
Gegen Temer läuft eine Untersuchung aufgrund von Zeugenaussagen, die ihn in Verbindung mit einem riesigen Bestechungsskandal bringen. Ein hohes Gericht empfahl dem Kongress, ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einzuleiten. Doch die rechte Kongressmehrheit und der Justizapparat halten ihre schützenden Hände über Temer.
Ein weiterer PMDB-Spitzenmann wurde ebenfalls als schamlos korrupt entlarvt: Der evangelikale Eiferer und Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha. Er steht an der Spitze des Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff, obwohl er letztes Jahr dabei erwischt wurde, wie er Bestechungsgelder in Höhe mehrerer Millionen US-Dollar auf schweizerischen Bankkonten deponierte – nachdem er den Kongress mit der Aussage belogen hatte, er verfüge über keinerlei Konten im Ausland. So hat z.B. ein Bauunternehmer aus Rio ausgesagt, dass er ein Schmiergeld in Höhe von 702.000 USD an Cunha auf ein Konto bei der BSI-Bank in der Schweiz überwiesen hat. Eduardo Cunha taucht auch im Zusammenhang mit anonymen Offshore-Firmen von Mossack Fonseca in den "Panama Papers" auf. (SZ, 8.4.2016)
Wer soll da noch ernsthaft glauben, die Anstrengungen der Elite, Rousseff aus ihrem Amt zu entfernen, sei einem Kampf gegen Korruption geschuldet, wenn sie nun jemanden als Präsidenten einsetzen will, der von viel schwerwiegenderen Korruptionsvorwürfen belastet ist?
Kein Wunder auch, dass den PMDB-Spitzenmann und voraussichtlich künftigen Präsidenten Michel Temer nach einer jüngsten Umfrage nur zwei Prozent der BrasilianerInnen wählen würden. In dieser Situation greifen die rechten Kräfte Brasiliens und ihre ausländischen Unterstützer zu einer Praxis, die sie in den letzten Jahren erfolgreich in Paraguay und Honduras ausprobiert haben: Sie greifen zum Mittel eines neuen Typs von Staatsstreich, um Dilma Rousseff zu stürzen und Arbeiterpartei PT, Demokratische Arbeitspartei (PDT) und PCdoB aus der Regierung zu drängen.
Krieg der Medien
Eine zentrale Rolle spielen dabei die Medien, sagt José Reinaldo Carvalho, Sekretär der KP Brasiliens (PCdoB) für Internationale Beziehungen. Die Medien sind in der Hand der reichsten und reaktionärsten Cliquen Brasiliens.
Diese international gut vernetzten Medienkonzerne spielten auch bei früheren Staatsstreichen eine wesentliche Rolle. 1954 und vor allem 1964 heizten sie die öffentliche Stimmung auf, kritisierten die Korruption der Regierung und appellierten an die Militärs, Ruhe, Ordnung und Demokratie wiederherzustellen.
Heute haben sie ihre Techniken noch weiter verfeinert. Seit Monaten füllen die vier Nachrichtenmagazine Brasiliens Titelgeschichte um Titelgeschichte mit aufhetzenden Angriffen gegen Dilma und Lula. Insbesondere TV GLOBO handelt geradezu kriminell gegen Brasilien und die Mehrheit der Bevölkerung. Konzepte wie Gesetz, Staat und Demokratie werden in einer grotesken Weise verzerrt gegenüber einer Bevölkerung mit Millionen politisch und kulturell unwissenden Menschen dargestellt. Und nicht nur verzerrt, sondern falsch und betrügerisch – lügnerisch in einem Umfang und einer Eindringlichkeit, dass bei vielen eine völlig falsche Wahrnehmung der Realität hervorgerufen wird. Auf diesem Weg hat das TV- Monopol GLOBO quasi die politische Macht übernommen, ein Klima des Putsches erzeugt. Es handelt sich um eine Kampagne, die demokratischen Errungenschaften Brasiliens zu untergraben, betrieben von Gruppen mit viel Geld, die für Resultate demokratischer Wahlen nur Verachtung haben und die nun trügerisch unter Anti-Korruptions-Banner marschieren, ganz ähnlich wie beim Putsch 1964.
Der öffentlich-rechtliche Sender TV Brasil habe gegen die privaten Medien keine Chance, meinte José Reinaldo Carvalho. Nun räche sich, dass weder Lula noch Rousseff in gut 13 Jahren Regierungszeit auf die Vorstöße der PCdoB eingegangen sind und das private Medienmonopol ernsthaft infrage gestellt hätten.
Die alten Eliten gegen Rousseff und die Linke
Rousseff scheitert am wiederhergestellten Bündnis der alten Eliten, das neben der reaktionären Mehrheit im Kongress die zentralen Kräfte des Unternehmerlagers, die großen Medien und wichtige Teile des Justizapparats umfasst. Die reaktionärsten Kräfte wie z.B. der Finanzsektor hätten die Linksregierung nie akzeptiert, meinte Carvalho, und seien immer in Opposition zur Linksregierung gestanden. Ein anderer Teil der Bourgeoisie tolerierte die Regierung, weil Lula vor der Wahl im Jahr 2002 einen Pakt mit ihnen geschlossen hatte. Dieser beinhaltete, dass z.B. alle Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfond eingehalten werden, die Regierung für eine niedrige Inflationsrate und einen Primärüberschuss im Staatshaushalt sorge, der brasilianische Real frei auf den Devisenmärkten gehandelt werden kann, ... . Unter diesen Bedingungen akzeptierten sie, dass die Regierung eine aktive Sozialpolitik zur Bekämpfung der Armut und eine von den USA unabhängige Außenpolitik betreibt.
Dieses Modell funktioniert so lange wie Brasiliens Wirtschaft hohe Wachstumsraten verzeichnete und die ungewöhnlich hohen Rohstoffpreise die Staatskasse füllten. Sozialprogramme waren finanzierbar, ohne dass Umverteilungskämpfe geführt werden mussten. Gleichzeitig führte diese Wirtschaftspolitik jedoch auch dazu, dass die mächtigen Wirtschaftssektoren noch mächtiger und einflussreicher wurden, insbesondere der Finanzsektor. Außenpolitisch wuchs Brasilien im Bündnis mit anderen progressiv regierten Ländern Lateinamerikas und mit China in eine neue geopolitische Rolle und kam in Konflikt mit US-Interessen.
Mit der drastischen Abschwächung der brasilianischen Wirtschaft stieß dieses Modell an seine Grenzen. Ohne Verteilungskämpfe lassen sich die Sozialprogramme nicht fortführen. Notwendig wäre eine progressive Steuerreform, die einen höheren Beitrag von den Reichen und den großen Unternehmen einfordert. Dies scheitert an den Kräfteverhältnissen. Die konservativen Mittelschichten rebellieren auf der Straße zur Verteidigung ihrer kleinen Privilegien gegen die Armen. Gleichzeitig verschlechterten sich die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, weil die Regierung zu Austeritätspolitik überging und sich damit von ihrer eigenen Basis entfremdete. Das Führungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT, Marco Aurélio Garcia, gestand ein: "Wir haben den Kontakt mit der Gesellschaft verloren, wir hörten auf nachzudenken und bürokratisierten uns." In Brasilien sei zwar ein linker Diskurs geführt, aber gleichzeitig die praktischen Rezepte der Rechten angewandt worden.
Berücksichtigt werden muss zudem, dass die Allianz von Arbeiterpartei (PT) und Kommunistischer Partei Brasiliens (PCdoB) bei Wahlen nie eine Mherheit erreichten: bei der Wahl 2010 errangen PT und PCdoB gemeinsam 103 Sitze im 513 Mitglieder zählenden Abgeordnetenhaus; bei der Wahl 2014 waren es nur 68 Abgeordnete. Sie waren immer auf ein Bündnis mit der PMDB angewiesen, um eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Die letzte Regierungskoalition umfasste 13 Parteien. Dies ermöglichte politische Manöver, Abgeordnetenkauf, Verfolgung lokaler oder persönlicher Interessen, Korruption.
Lula – Symbol für die Hoffnungen der armen Bevölkerung
Jetzt haben sich die alten Eliten wieder zusammengeschlossen und führen gemeinsam – und unterstützt von den USA – den Kampf zum Sturz von Rousseff und der Arbeiterpartei. Da Lula nach wie vor der beliebteste Politiker Brasiliens und Symbol für die Hoffnung der armen Bevölkerung ist, wird vorbeugend auch gegen ihn eine Kriminalisierungskampagne geführt. Auch wenn es keine Beweise gibt, wird er immer wieder von den Medien und vom Justizapparat in einen Zusammenhang mit der Korruption gebracht. Spektakuläre und medienwirksame Verhaftungen und jetzt die Anklage durch Brasiliens Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot. Zwar wird diesmal Lula nicht Korruption unterstellt, aber Janot argumentiert, dass Lula als Präsident (2003-2011) von der systematischen Korruption gewusst haben müsse.
"Die Regierung Dilma, die wir bisher hatten, ist zu Ende. Auch wenn die Pro-Absetzungssektoren im Senat geschlagen würden, hätten wir ab Mai eine neue Regierung", meint João Stedile von der Landlosenbewegung MST. "Eine neue Regierung Dilma würde von Ex-Präsident Lula geleitet. Und die Ministerien würden von herausragenden Persönlichkeiten der Gesellschaft geleitet, nicht von Parteibündnissen. Dies würde die Regierung auf das Programm verpflichten, für das sie gewählt worden war." Deshalb die konzentrierten Angriffe auf Lula.
Der Widerstand gegen die Putschisten wächst
Nachdem die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften seit 2014 nur verhalten und defensiv agierten, ist es in den letzten Tagen zu mächtigen Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung gekommen. (Video über Demo in Rio de Janairo) Die Situation ist sehr dramatisch, sagte Carvalho. Aber wenn das Amtsenthebungsverfahren durchkommt und Michel Temer und Eduardo Cunha die Regierung übernehmen, gibt es ein politisches Chaos. Denn dieser ganze Diskurs, dass die Regierung wegen der Korruption der PT gestürzt werden müsse, würde hinfällig, da die PMDB die korrupteste Partei in der Geschichte Brasiliens ist.
Aber sie wollen vor allem ihr neoliberales Programm umsetzen: Liquidierung sozialer Errungenschaften, von Arbeiterrechten, und vor allem die Senkung der Mittel für Gesundheit und Erziehung. Heute ist die Regierung gesetzlich verpflichtet, 13 Prozent ihrer Einnahmen für Gesundheit und elf Prozent für Erziehung auszugeben. Sie wollen den obligatorischen Charakter dieser Sätze abschaffen, also nur noch so viel dafür ausgeben, wie es der Regierung gerade gut scheint. Und warum? Weil sie Gesundheit und Erziehung privatisieren wollen. Das steht genau so im Regierungsprogramm der PMDB.
Der Klassenkampf, die Mobilisierungen, die Streiks und Zusammenstöße werden zweifellos zunehmen. Denn die organisierten Sektoren der arbeitenden Klasse würden den Verlust ihrer Rechte nicht friedlich hinnehmen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass eine Regierung Temer nur kurz existieren würde.
txt: lm
siehe auch
- XX. Internationales Seminar: Geht der progressive Zyklus zu Ende?
- "Der progressive Zyklus wird in Venezuela entschieden"
- Carolus Wimmer von der KP Venezuelas: "Viele möchten mehr Revolution haben"
- Lateinamerika: "Ein Prozess, der sich nicht radikalisiert, geht rückwärts."
- Isabel Rauber: Lateinamerika - Ende eines Zyklus oder neue politische Zeit?
- Valter Pomar: Linksregierungen: Möglichkeiten und Grenzen
- Álvaro García Linera: Lehren für die Linke in der ganzen Welt
- Fin del ciclo progresista?
- Mexiko – Internationales Seminar 2015 „Die Parteien und eine neue Gesellschaft“
- Mexiko: Das XVIII. Internationale Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexiko - XVII Internationale Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexico: XVI. Internationales Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexico: XV. Internationales Seminar - Von der Reform zur Transformation