Meinungen

Zu den Thesen von Sam Webb, Vorsitzender der Kommunistischen Partei der USA


Die theoretische Zeitschrift der Kommunistischen Partei der USA, Political Affairs veröffentlichte im Februar einen Artikel von Sam Webb, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der USA: "Eine Partei des Sozialismus im 21. Jahrhundert: Wie sie aussieht, was sie sagt und was sie tut" (siehe Anlage). Sam Webb wirft Fragen auf, wie z. B. "Was muss die Kommunistische Partei und die Linke insgesamt tun, um zu effektiveren Kämpfern für soziale Gerechtigkeit und für Sozialismus zu werden?" und versucht Antworten zu geben auf die veränderten Kampfbedingungen der Kommunisten im 21. Jahrhundert. Für ihn ist klar, dass "eine Partei des Sozialismus von den Konzepten der Klasse und des Klassenkampfes durchdrungen ist", und gleichzeitig warnt er vor "Klassenreduktionismus, ökonomischen Determinismus und simplifizierte Erklärungen des historischen Prozesses".

Er beschäftigt sich mit der Herausforderung wie eine Kraft geschaffen werden kann, die den "Weg zu radikaler Demokratie und Sozialismus" öffnet? In diesem Zusammenhang fordert er dazu auf, sich die Erfahrungen der Transformationsprozesse in Lateinamerika anzueignen: "Eine Partei des Sozialismus im 21. Jahrhundert sollte diese Erfahrung genau studieren. Allgemein gesprochen wird, wie ich annehme, der Übergang zum Sozialismus in den USA ähnlich ablaufen, wobei es natürlich auch Unterschiede geben wird. Das traditionelle Bild vom revolutionären Prozess - wirtschaftlicher Zusammenbruch, Aufstand, Doppelherrschaft, Gewalt, blutige Zusammenstöße,  Zerschlagung des Staates und schneller Übergang zum Sozialismus - liefert wenig Einsichten. Ich würde sogar sagen, dass es analytisch gar nichts bringt: Es zieht die Vereinfachung der Komplexität vor, es macht die Vorstellungskraft vom Sozialismus träge und schwerfällig und es nimmt strategische und taktische Fähigkeiten weg."

Zur Geschichte des Sozialismus schreibt er: "Eine Partei des Sozialismus im 21. Jahrhundert nimmt die enormen Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaften wahr und zieht ihre Lehren aus ihnen. Soziale Probleme, die in kapitalistischen Gesellschaften immer noch bestehen, wurden in vielen Ländern des Sozialismus wenn nicht gelöst, so doch entscheidend verringert. Wir können auch die Solidarität nicht vergessen, die die Sowjetunion und andere sozialistische Länder den Ländern geleistet hat, die darum kämpften, aus dem Netz des Kolonialismus und Neokolonialismus auszubrechen; ebenso wenig wie die entscheidende Rolle der Roten Armee bei der Zerschlagung Nazideutschlands oder den immer verlässlichen Widerstand der Sowjetunion gegen einen Atomkrieg. Das gesagt, sollte eine Partei des Sozialismus unmissverständlich mit Stalin und seinen Gefolgsleuten brechen, nicht um die Feinde oder Kritiker des Sozialismus zu befriedigen, sondern um Millionen Menschen gegenüber anzuerkennen, dass die erzwungene und gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die Säuberungen und Exekutionen von Hunderttausenden Kommunisten und anderen Patrioten, die Arbeitslager, die unzählige Menschen einkerkerten, ausbeuteten und ihnen einen frühen Tod brachten sowie die Umsiedelung ganzer Völker aus ihrer Heimat nicht mit dem Verweis auf historische Notwendigkeiten oder im Namen der Verteidigung des Sozialismus gerechtfertigt werden können. Das waren Verbrechen gegen die Menschheit. Diese Abscheulichkeiten als einen Fehler zu bezeichnen ist ein Fehler. Sie waren definitiv kriminell, ja, ein Horror, ja, ein hässlicher Flecken auf den Werten und Idealen des Sozialismus. Was die Sache noch schlimmer macht: Die Praktiken des Stalinregimes führten theoretische Meinungen, Führungsstrukturen, Gesetze der sozialistischen Wirtschaft, Rechtfertigungen für die Konzentration der Macht und das Phänomen des großen Führers ein, die schließlich den Sozialismus in der UdSSR und den anderen sozialistischen Länder schwächten."

Sam Webb ist sich bewusst, dass er mit seinen Thesen "Neuland" erforscht: "In anderen Worten, diese Arbeit ist eine Arbeit, die weitergeht, ein unfertiges Manuskript. Die Leser werden sicherlich Ungereimtheiten, Widersprüche, Fehlstellen und unfertige Ideen finden. Diese Grenzen könnten mich entmutigen, dieses Papier zu veröffentlichen, aber ich denke an zwei Dinge, die gegen mein Zögern sprechen. Erstens hat niemand eine vollständige Antwort auf die beängstigenden Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Zweitens muss jeder von uns etwas zur Erneuerung der Linken, von der die Kommunistische Partei ein unerlässlicher Teil ist, beitragen."

Er betont, "vom Standpunkt eines Menschen aus (zu schreiben), der seit vier Jahrzehnten der kommunistischen Bewegung angehört. In dieser Zeit habe ich mich politisch und ideologisch sehr wohl gefühlt. Ich hatte keine ‚großen Differenzen'. Meistens war ich in dieser Zeit in einer Führungsposition. .. Ich war also kein Dissident. Aber als die Berliner Mauer 1989 fiel und das erste Land des Sozialismus zwei Jahre später kollabierte, entwickelten sich einige Zweifel und Fragen in meinem Kopf - genug, um einen neuen Blick auf unsere bisherigen Überzeugungen und unsere Praxis zu werfen. ... Wenn ich gebeten würde, meine Schlussfolgerungen zusammenzufassen, würde die Antwort lauten: Unsere Theoriestruktur - der Marxismus-Leninismus - war zu unbeweglich und formelhaft, unsere Analysen waren zu überladen mit fragwürdigen Annahmen, unsere Methodik war zu undialektisch, unsere Struktur zu zentralistisch und unsere Politik hat sich von den politischen Realitäten entfernt. .. Aber ich erkannte auch, dass die Zukunft unserer Partei nicht in ihrer Vergangenheit liegt, sondern in der Welt des 21. Jahrhunderts, die ihre eigenen besonderen Herausforderungen für die Zukunft der Menschheit bereithält."

Die Thesen von Sam Webb - die ausgehend von der Geschichte und der aktuellen ökonomischen und politischen Situation auffordern, "in jedem Stadium des Kampfes eine Strategie" zu erarbeiten und auch Schlussfolgerungen daraus für die Organisationsstrukturen der Partei zu entwickeln - haben Widerspruch und Zustimmung hervor gerufen.

Wolfgang Teuber
(UZ, 10. Juni 2011)