Der Kommentar

Tuerkei Asli-Erdogan17.11.2016: Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan ruft Europa zu Hilfe und Solidarität auf  
„Liebe Freundinnen, Kolleginnen, Journalisten und Mitarbeiter der Presse,

ich schreibe Ihnen diesen Brief am 1. November aus dem Gefängnis Bakirköy, am Tag nach der Polizeiaktion gegen die Zeitung „Cumhuriyet“, eine der ältesten Zeitungen und Stimme der Sozialdemokraten.

Gegenwärtig sind mehr als 10 Autoren dieser Zeitung in Haft. Vier davon, darunter Can Dündar, (Ex-)Chefredakteur, werden von der Polizei gesucht. Selbst ich stehe unter Schock. Das zeigt klar, dass die Türkei beschlossen hat, keines ihrer Gesetze noch das Recht zu respektieren. In diesem Augenblick sind mehr als 130 Journalisten im Gefängnis. Das ist ein Weltrekord. In zwei Monaten sind 170 Zeitungen, Magazine, Radio- und Fernsehstationen geschlossen worden. Unsere derzeitige Regierung will die „Wahrheit“ und die „Realität“ monopolisieren, und jede Meinung mit noch so geringen Unterschieden gegenüber der der Staatsmacht wird mit Gewalt unterdrückt: polizeiliche Gewaltakte, Tage und Nächte in Polizeihaft (bis zu 30 Tagen)…

Ich bin nur festgenommen worden, weil ich eine der Beraterinnen von „Ozgür Gündem“, einer „kurdischen Zeitung“ war. Trotz der Tatsache, dass die Beraterinnen nach Artikel 11 des Pressegesetzes keinerlei Verantwortung für die Zeitung habe, was dort klar festgehalten ist, bin ich noch nicht vor ein Gericht gekommen, das meine Geschichte anhört. In diesem kafkaesken Prozess ist auch Necmiye Alpay, ein 79 Jahre alter Sprachwissenschaftler zusammen mit mir festgenommen und wegen Terrorismus verurteilt worden.

Dieser Appell ist ein Notruf!

Die Situation ist sehr ernst, erschreckend und äußerst beunruhigend. Ich bin überzeugt, dass das totalitäre Regime in der Türkei sich unvermeidlich auch auf ganz Europa ausdehnen wird. Europa ist gegenwärtig auf die „Flüchtlingskrise“ fokussiert und scheint sich keine Rechenschaft zu geben über die Gefahren des Verschwindens der Demokratie in der Türkei.

Gegenwärtig zahlen wir - AutorInnen, JournalistInnen, Kurden, AlevitInnen und natürlich die Frauen – den schweren Preis für die „Krise der Demokratie“. Europa muss seine Verantwortung übernehmen und zu den Werten zurückkehren, die nach Jahrhunderten vergossenen Blutes festgelegt worden sind und die ausmachen, dass Europa Europa ist: Demokratie, Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit…

Wir brauchen Ihre Hilfe und Solidarität.

Wir danken Ihnen für all das, was Sie bisher für uns getan haben.

Mit herzlichen Grüßen!

Ash Erdogan, 1. November 2016, Gefängnis Bakirköy Cezaeryi, C-9, Istanbul.


Die Schriftstellerin Asli Erdogan gehört zu den türkischen AutorInnen, die in einer der Verhaftungswellen nach dem gescheiterten Putschversuch am 16, August dieses Jahres auf Weisung von Staatschef Erdogan verhaftet worden ist. Die Staatsanwaltschaft hat im November gegen sie eine Verurteilung zu Gefängnis auf Lebenszeit wegen angeblicher Unterstützung der „terroristischen“ PKK beantragt.

Die 1967 in Istanbul geborene Autorin hatte ursprünglich Physik und Informatik studiert, war mehrere Jahre in Genf am Kernforschungszentrum CERN in Genf und später als Universitätslehrerin an der Päpstlichen Universität in Rio de Janeiro (Brasilien) tätig. Erst 1996 machte sie die Schriftstellerei, das Verfassung von Büchern, Kolumnen und Artikeln zu ihrem Hauptberuf. Sie war Mitarbeiterin und Beraterin zunächst der linksliberalen Tageszeitung „Radikal“, dann der Zeitung „Özgür Dündem“, in denen sie u. a. Berichte über die katastrophalen Zustände, Folter und Gewalt in türkischen Gefängnissen anprangerte und sich gegen die Unterdrückung der Kurden äußerte. Ihre Bücher „Der wundersame Mandarin“, „Holzvögel“ und „Die Stadt mit der roten Pelerine“ wurden internationale Erfolge und in mehrere Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche.


In einem von ihr verfassten autobiographischen Text, der von dem französischen öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogramm „France Inter“ im September dieses Jahres veröffentlicht wurde, schildert sie ihren Werdegang so:

„Ich bin 1967 in Istanbul geboren. Ich bin aufgewachsen auf dem Land, in einem Klima der Spannung und Gewalt. Das Gefühl von Unterdrückung ist tief in mir verwurzelt. Eine meiner Erinnerungen ist, als ich viereinhalb Jahre alt war, die Ankunft eines mit bewaffneten Soldaten gefüllten Lkw bei uns. Meine Mutter weinte. Die Soldaten nahmen meinen Vater mit. Sie ließen ihn mehrere Stunden später wieder fei, weil sie jemand anderen gesucht hatten. Mein Vater war ein bedeutender Aktivist der stärksten linken Studentengewerkschaft.

Meine Eltern haben ihre linken Ideale in mich eingepflanzt, aber danach haben sie sie preisgegeben. Mein Vater ist ein gewalttätiger Mann geworden. Heute ist er Nationalist. Ich war ein sehr einsames Kind, das nicht leicht zu anderen ging. Noch ganz jung habe ich zu lesen begonnen, ohne die Absicht zu haben, daraus meinen Beruf zu machen. Ich verbrachte ganze Tage mit den Büchern. Die Literatur wurde mein erstes Asyl. Ich habe ein Gedicht und eine kleine Geschichte geschrieben, die meine Großmutter an eine Zeitschrift in Istanbul geschickt hat. Meine Texte wurden veröffentlicht, aber das gefiel mir überhaupt nicht: ich war viel zu ängstlich, um mich darüber freuen zu können.

Mehrere Jahre später, mit 22 Jahren, habe ich meine erste Novelle geschrieben, die mir einen Preis in einer Zeitung einbrachte. Ich hatte nicht gewollt, dass mein Text veröffentlicht wird. Ich war damals Physik-Studentin. Dann bin ich nach Genf gefahren, um meine Studien über Teilchen hoher Energie am Europäischen Kernforschungszentrum (CERN) weiterzuführen. Am Tag bereitete ich mich auf mein Diplom vor und nachts schrieb ich. Ich trank und rauchte Haschisch, um Schlaf zu finden. Ich war schrecklich unglücklich. Als ich nach Genf kam, dachte ich naiver ‚Weise, dass wir über Einstein und Higgs und die Bildung des Universums diskutieren würden. Doch faktisch fand ich mich umgeben von Leuten, die einzig und allein um ihre Karriere besorgt waren. Wir wurden alle als potenzielle Nobelpreisträger angesehen, auf die die Industrie Millionen Dollar setzte. Wir waren da nicht, um Freunde zu werden. Das ist das, was ich in „Der wundersame Mandarin“ beschrieb. Anfänglich habe ich diese Novelle allein für mich geschrieben, ohne die Absicht, sie anderen zum Lesen zu geben. Sie wurde schließlich mehrere Jahre später publiziert.

Ich kehre in die Türkei zurück, wo ich in einer Reggae-Bar Sokuna traf. Er war Teil der ersten Welle von afrikanischen Einwanderern in die Türkei. Sehr rasch habe ich mich in ihn verliebt.

Gemeinsam haben wir alle möglichen und unvorstellbaren Probleme erlebt. Haussuchungen der Polizei, gewöhnlicher Rassismus: man hielt sich auf der Straße an den Händen und die Leute spuckten darüber, beschimpften mich und versuchten sogar, mich zu schlagen. Die Situation der Immigranten war damals schrecklich. Die meisten waren in einem Lager an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei eingesperrt worden. Mehrmals habe ich versucht, das Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen der UNO über ihr Los zu alarmieren. Aber das war verlorene Liebesmühe. Dann wurde Sokuna in eine Drogengeschichte verwickelt und wir mussten weggehen. Freunde haben mir einen Platz in einem Wissenschaftlerteam in Brasilien verschafft, das über meine Spezialität arbeitete. Ich konnte meine Doktorarbeit beenden, aber Sokuna konnte nicht zu mir nachkommen. Ein Jahr später ist er verschwunden. Ich bin mit meinen Gewissensbissen allein geblieben.

Rio war keine leichte Stadt für Einwanderer. Ich habe dann beschlossen, auf die Physik zu verzichten, um mich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Aber erst nach meiner Rückkehr in die Türkei habe ich „Die Stadt mit der roten Pelerine“ geschrieben, deren Geschichte in Rio spielt. Die Heldin ist eine türkische Studentin, die sich in der Hölle der brasilianischen Stadt verliert. Ich war eine Fremde in Brasilien, aber auch eine Fremde in der Türkei. Ich fühle mich nur zu Hause, wenn ich schreibe.

Zwanzig Jahre später, heute, fühle ich mich immer noch wie eine Obdachlose. Ich liebte sehr Krakau, wo ich hätte länger bleiben können, aber ich weiß sehr wohl, dass man den Platz denjenigen überlassen muss, die auf Asyl warten. Ich musste also wohl in die Türkei zurückkehren. Inzwischen sage ich mir jeden Tag, dass alle in meinem Land sehr wohl wissen, dass ich die populärste türkische Schriftstellerin geworden bin. Alle Welt weiß das, aber dennoch schweigen alle. Das ist zweifellos heute das schlimmste Exil.“

(Beide Texte in deutsch nach der französischen Übersetzung aus dem Türkischen in der „Humanité“ v. 15.11.16.)
Übersetzung aus dem französischen: Georg Polikeit


siehe auch:

Wir sprechen über Palästina

Gazakrieg Grafik Totoe 2024 04 07

mit Rihm Miriam Hamdan von "Palästina spricht"

Wir unterhalten uns über den israelischen Vernichtungskrieg, die Rolle Deutschlands, die Situation in Gaza und dem Westjordanland und den "Tag danach".

Onlineveranstaltung der marxistischen linken
Donnerstag, 18. April, 19 Uhr

https://us02web.zoom.us/j/82064720080
Meeting-ID: 820 6472 0080


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Logo Ratschlag marxistische Politik

Ratschlag marxistische Politik:

Gewerkschaften zwischen Integration und Klassenkampf

Samstag, 20. April 2024, 11:00 Uhr bis 16:30 Uhr
in Frankfurt am Main

Es referieren:
Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie, Uni Göttingen
Frank Deppe, emer. Professor für Politikwissenschaft, Marburg

Zu diesem Ratschlag laden ein:
Bettina Jürgensen, Frank Deppe, Heinz Bierbaum, Heinz Stehr, Ingar Solty

Anmeldung aufgrund begrenzter Raumkapazität bis spätestens 13.04.24 erforderlich unter:
marxlink-muc@t-online.de


 

Farkha2023 21 Buehnentranspi

Farkha-Festival 2024 abgesagt.
Wegen Völkermord in Gaza und Staatsterror und Siedlergewalt im Westjordanland.
hier geht es weiter zum Text


 

 

UNRWA Gazakrieg Essenausgabe

UNRWA Nothilfeaufruf für Gaza
Vereint in Menschlichkeit, vereint in Aktion

Mehr als 2 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Palästina-Flüchtlinge, zahlen den verheerenden Preis für die Eskalation im Gazastreifen.
Zivilisten sterben, während die Welt zusieht. Die Luftangriffe gehen weiter. Familien werden massenweise vertrieben. Lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige. Der Zugang für humanitäre Hilfe wird nach wie vor verweigert.
Unter diesen Umständen sind Hunderttausende von Vertriebenen in UNRWA-Schulen untergebracht. Tausende unserer humanitären Helfer sind vor Ort, um Hilfe zu leisten, aber Nahrungsmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter werden bald aufgebraucht sein.
Das UNRWA fordert den sofortigen Zugang zu humanitärer Hilfe und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern für bedürftige Palästina-Flüchtlinge.
Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

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