Im Interview

belgien stopttip ptb23.10.2016: Das von den Doktrinen des Neoliberalismus bestimmte „Freihandelsabkommen“ der EU mit Kanada, CETA, stand in den letzten Tagen auf der Kippe. Die Unterzeichnung des seit Jahren im Geheimen ausgehandelten und unlängst fertig gestellten Vertrags wurde durch ein Nein der belgischen Region Wallonien blockiert. Die belgische Föderalregierung kann nämlich nach der geltenden belgischen Verfassung nur unterschreiben, wenn alle drei mit starken Autonomierechten ausgestatteten Landesteile Flandern, Wallonien und die Region Brüssel ihre Zustimmung geben. Die EU aber braucht nach den geltenden EU-Verträgen die Zustimmung aller derzeit (mit Großbritannien) noch 28 EU Staaten, um den Vertrag namens der EU unterschreiben zu können.

Nachdem Walloniens sozialdemokratischer Regierungschef Paul Magnette unter Berufung auf die befürchtete Aushöhlung von Sozial- und Umweltstandards ein Nein zu dem Abkommen geltend gemacht hatte, hatte die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland versucht, die wallonische Regierung in direktem Gespräch mit Scheinzugeständnissen umzustimmen. Als Magnette jedoch bei seiner Forderung nach Nachverhandlungen zur Verbesserung einiger Vertragsbestimmungen und damit bei seinem Nein zu der jetzt vorliegenden Fassung des Vertrags blieb, verkündete sie, dass sie keine Chance mehr für eine Unterzeichnung sehe und ihren Rückflug antreten werde. Damit schien CETA zumindest vorläufig definitiv gescheitert. Inzwischen allerdings hat es den Anschein, dass diese Erklärung nur ein weiterer Schachzug gewesen war, um mit der Drohung des endgültigen Aus noch stärkeren Druck auf die wallonischen Sozialdemokraten auszuüben. Dies nutzend, warf sich der sozialdemokratische EU Parlamentspräsident Martin Schulz in die Bresche, um „von Parteifreund zu Parteifreund“ weiteren Druck auf Magnette auszuüben und ihn doch noch zu einer Zustimmung zu drängen. Dieser erklärte danach, man benötige noch Zeit, um „einige kleine Schwierigkeiten“ zu beseitigen  und bessere Garantien für die geltenden Standards zu erreichen. Schulz machte daraufhin in Optimismus und erklärte, es sei „eine interne Angelegenheit der EU, die verbliebenen Fragen zu klären“. Die kanadische Ministerin ließ wissen, man bleibe weiterhin zur Unterzeichnung und zum Abwarten bereit, bis die EU „ihren Job gemacht“ habe.

Ungeachtet dieser Winkelzüge hat der Abgeordnete der belgischen „Partei der Arbeit! (PTB/PvdA), Frédéric Gilliot, die Haltung der wallonischen Region als einen „tollen Sieg der sozialen Bewegung“ bezeichnet, den es jetzt auszuweiten gelte, um die endgültige Zurückweisung dieses giftigen Abkommens zu erreichen. In einem ausführlichen Interview, das am 21. Oktober auf der Internetseite der PTB veröffentlicht wurde, hat der Parteivorsitzende der PTB, Peter Mertens, seinen Standpunkt zu dem Vorgang und verschiedene Hintergründe erläutert. Nachfolgend eine Übersetzung dieses Interviews:

„Wir können glücklich sein, dass die wallonische Regionalregierung ein Alarmsignal gesetzt hat“

Peter Mertens: Die EU hatte sich voll Selbstsicherheit darauf vorbereitet, ein Freihandelsabkommen mit Kanada zu unterzeichnen. Obwohl dieses Abkommen, CETA, extreme Folgen für Europa, für seine Einwohner und für das Klima hätte, hatte das EU Establishment nicht wirklich die Absicht, viel Spucke darauf zu verschwenden, von diesem Vertrag zu sprechen. Bis zu dem Moment, als die wallonische Regierung sich anschicke, alles zu vermurksen. Sie hat immerhin eine Debatte über die Frage angestoßen, und plötzlich ist die internationale Presse eiligst nach Namur und Brüssel gefahren. Belgien war im Auge des Zyklons, mit dem  sozialistischen Ministerpräsidenten Paul Magnette ganz vorn.

Diese Angelegenheit ist sehr aufschlussreich für die Art, wie die EU funktioniert: beginnen mit langen Monaten von Geheimverhandlungen, um dann in einem Minimum von Zeit ein Abkommen durchzusetzen, das nur noch anzunehmen oder abzulehnen ist, und schließlich Erpressungen und politischen Druck auf die Widerspenstigen ausüben.

Welche gründliche Debatte hat es über dieses Abkommen in Flandern gegeben? Faktisch keine. Ebenso wenig wie in anderen Staaten. Wir können glücklich sein, dass die wallonische Regionalregierung ein Alarmsignal gesetzt und damit wenigstens eine demokratische Debatte ermöglicht hat. Die Angst der Parteien des Establishments vor der Debatte ist bezeichnend. Man möchte ein Herden-Verhalten durchsetzen: alle sind dafür, also ist es gut. Eben nicht! Von Anfang an haben regierungsunabhängige Organisationen, Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltschutzverbände grundsätzliche Kritiken zu Gehör gebracht. In ganz Europa haben Millionen Menschen demonstriert gegen CETA und seinen großen Bruder TTIP, das Freihandelsabkommen mit den USA. Und jetzt, da eine Grundsatzdebatte in Gang kommt, herrscht plötzlich Durcheinander im Hühnerstall.

Frage: Wie beurteilen Sie die politische Blockade?

Peter Mertens: Die Haltung der wallonischen Regierung ist richtig und mutig. Die Abgeordneten der PTB im wallonischen Parlament unterstützen den Widerstand und die grundlegenden Kritiken gegen CETA.

Ministerpräsident Magnette und die wallonische Regierung werden jetzt von allen Seiten attackiert und von den Helfershelfern des belgischen, europäischen und kanadischen Big Business unter Druck gesetzt. Das ist die Karikatur eines demokratischen Verfahrens. Es waren die flämischen Nationalisten, die immer gefordert haben, dass die Regionalregierungen mehr Kompetenzen bekommen. Aber wenn eine Region ihre Kompetenzen benutzt, ist das auch nicht gut. Man kann nicht darüber lamentieren. Jedenfalls gibt es keinerlei zustimmende Basis für dieses Abkommen in der Bevölkerung, weder in Wallonien noch im Rest des Landes, noch in Europa.

Man sollte ein europäisches Referendum abhalten

Frage: In den anderen Staaten gibt es aber doch wohl eine politische Übereinstimmung über CETA…

Peter Mertens: Ja - innerhalb der politischen Kaste! Da herrscht das große Einheitsdenken. Aber weil es in den Mauern gewisser Parlamente eine große Einmütigkeit gibt, existiert noch lange keine tragfähige Basis innerhalb der Bevölkerung, nicht wahr? Diesem Irrtum sollte man sich nicht hingeben. Es sollte ein europäisches Referendum über so wichtige Verträge organisiert werden, aber das wird nicht gemacht. Nein, man will der Region Wallonien den Arm verdrehen mit Hilfe der großen Artillerie.

Die Missachtung demokratischer Prozesse auf regionaler oder nationaler Ebene in der EU ist enorm. Wir hatten das schon festgestellt, als das französische „Nein“ zur EU-Verfassung ganz einfach in den Papierkorb geworfen worden ist – der gleiche Text kam unter einer anderen Bezeichnung zurück, und das ohne Referendum. Wir haben das auch gesehen mit Griechenland, das seine eigenen Entscheidungen zu seiner eigenen Wirtschaft nicht umsetzen konnte. Schließlich wurden sogar die griechischen Banken trockengelegt, um gegenüber allem diese absurde Sparzwang- und Privatisierungspolitik durchzusetzen.

Jetzt will man das Gleiche mit Wallonien machen. Sie haben sogar schon eine „interpretierende Erklärung“ vorbereitet, die dem Vertrag beigefügt werden soll. Darüber werden die Generalstäbe der großen Multis nur ins Lachen geraten. Eine solche Erklärung hat nicht den geringsten juristischen Wert, was alle Experten in Sachen Recht und internationalem Handel bestätigen. Im Lauf der nächsten Stunden und nächsten Tage rechne ich damit, dass Magnette weitere rein kosmetische Änderungen vorgeschlagen werden, um die Tür zu einem Ausweg zu finden.

Wallonien ist nicht die große Ausnahme in Europa

Frage: Die PTB erlebt eine deutlich aufsteigende Phase in allen drei Teilen des Landes, aber vor allem in Wallonien. Außenministier Didier Reynders (MR – „Mouvement Reformateur“, liberal) behauptet, dass es das Ansteigen der PTB in den Umfragen in Wallonien sei, was die PS (Sozialisten) dazu drängt, sich mehr nach links zu profilieren – ist das der Grund für die Opposition der PS zu CETA, ist das exakt?

Peter Mertens: Manche politische Kommentatoren und Blabla-Schwätzer stellen Wallonien gern als die große Ausnahme in Europa dar. Die flämischen Regierungsparteien meinen, dass das ein Skandal sei und sehen darin eine Oppositions-Haltung gegen die rechte Föderalregierung (zentrale belgische Regierung), in der die PS nicht vertreten ist. Noch einmal: soll man doch ein europäisches Referendum organisieren! Soll man den Bürger sich äußern lassen! Im September 2016 gab es in Deutschland 320 000 Demonstranten gegen die Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA). Am 20. September waren es in Brüssel mehr als 10 000. Die Mehrheit der Franzosen ist der Meinung, dass die Verhandlungen über TTIP eingestellt werden sollten. Außer den Regierungen von Wallonien und der Region Brüssel und der Französischen Gemeinschaft (Communauté française) hat der Senat Irlands seiner Regierung ebenfalls empfohlen, gegen CETA zu stimmen. Und in Österreich, in Slowenien, in Polen und in Deutschland ist noch nicht endgültig grünes Licht für den Vertrag gegeben. Eine europäische Petition hat mehr als 3 Millionen Unterschriften bekommen, ein Rekord in Europa!

Frage: Aber ist die PTB der Grund für das wallonische Nein zu CETA?

Peter Mertens: Also nein, wir sind dafür nicht der Grund.

Die Protestbewegung ist sehr breit: genossenschaftliche Vereinigungen, Nord-Süd-Bewegungen, Gewerkschaften, Verbraucherorganisationen, kleine und mittlere Unternehmer, Landwirte, Frauenbewegungen, Klima-Aktivisten, Juristen – die Liste ist lang. Natürlich haben wir in der PTB den Widerstand stets unterstützt, wie es übrigens auch die Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken und Nordischen Grünen (GUE/NGL) im EU-Parlament tut. Und natürlich gibt es auch die besondere Situation in Wallonien und der Region Brüssel, wo gemäß den Umfragen unsere Partei die drittstärkste Partei werden könnte, mit bis zu 16 Prozent in Wallonien. Das spielt natürlich in der Haltung der Sozialistischen Partei eine Rolle, die sich schwer tut, da ein Doppelspiel zu treiben. Die vorhergehende Regierung unter Führung dieser gleichen PS hatte absolut kein Problem damit gehabt, unserem Land für die Verhandlungen über die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada ein Mandat zu erteilen. Premierminister Di Rupo hatte sogar seine Unterschrift darunter gesetzt. Das wagt die Sozialistische Partei heute nicht mehr, wahrscheinlich zum Teil, weil sie den heißen Atem der PTB in ihrem Rücken spürt. Aber das Wesentliche bleibt, dass der Widerstand von einer sehr breiten Basis getragen wird. Der Druck kommt von unten, und das ist eine gute Sache.

Frage: Warum Abkommen wie CETA und TTIP verwerfen?

Peter Mertens: Weil wir so nicht aus der europäischen Krise herauskommen werden. Das ist eine Illusion, eine falsche Lösung, eine Flucht nach vorn. Eines der Grundelemente der europäischen Krise besteht in der Niedriglohn- und Sparzwangpolitik, die auf Verlangen Deutschlands überall in Europa praktiziert wird. Die Bilanz ist sehr schlecht. Wer glaubt heute ernsthaft, dass wir das Problem lösen werden über ein Freihandelsabkommen mit Kanada?

Die amerikanische Tufts University hat eine Studie über die Auswirkungen von CETA auf die Beschäftigung durchgeführt und kam zu dem Schluss, dass 200 000 Jobs in der Versenkung verschwinden werden. Das Phänomen des Sozialdumpings, das wir in Europa bereits spüren, wird sich weiter verstärken. Statt einer Harmonisierung der Normen und Regeln nach oben, zum Schutz der Arbeitenden, der Gesundheit und der Umwelt, laufen wir Gefahr, weiter nach unten abzurutschen.

Die Bürgerbewegungen Kanadas selbst warnen uns vor diesem Risiko, weil sie damit die bittere Erfahrung gemacht haben, als ihr Land ein Freihandelsabkommen mit den USA und Mexiko, das ALEMA, abgeschlossen hat. Ergebnis: Betriebsschließungen, Umstrukturierungen, Reduzierung der Löhne und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Eine Abwärtsspirale. Der Sitz von Caterpillar in Kanada schloss seine Tore und ging in die USA, wo geringere Löhne gezahlt wurden, um danach auch dort zu schließen und nach Mexiko zu gehen, wo die Löhne noch niedriger waren. Ohne jedes Hindernis. Wollen wir das auch?

Das Gleiche gilt für die Normen, die wir in Sachen Umweltschutz und Gesundheit verwenden. Hinter diesem Vertrag steht die sehr harte Logik der Konkurrenz, und dies können auch die Liberalen wie De Gucht nicht leugnen. Das bedeutet, dass alle Normen nach unten gedrückt werden, und nicht nach oben.

Frage: Die Kampagne gegen CETA und TTIP warnt auch vor den Sondertribunalen, die von diesen Abkommen vorgesehen sind (das „Investment Court System“ für CETA, das „Investor State Disput Settlement“ für TTIP)…

Peter Mertens: In Kürze werden die multinationalen Konzerne ein Land vor ein Sondertribunal ziehen können, wenn die Gesetzgebung dieses Landes ihre Interessen beeinträchtigt. Auf der Grundlage von dieser Art von Handelsverträgen ist Ägypten von dem Multi Veolia angegangen worden, als das Land einen Mindestlohn eingeführt hat. Das schwedische Unternehmen Vattenfall hat von Deutschland eine Entschädigung von 4,7 Milliarden Euro eingefordert, weil unsere Nachbarn nach der Katastrophe von Fukushima beschlossen hatten, aus der Kernenergie auszusteigen. Und das US-amerikanische Unternehmen Ethyl Corporation hat die kanadischen Behörden attackiert, nachdem diese die sehr schädliche Substanz MMT im Dieselöl verbieten wollten. Alles in allem gibt es auf der weltweiten Ebene fast 700 Prozesse, in denen Unternehmen staatliche Behörden attackiert haben. Das kostet die Staaten Milliarden Euro an Prozesskosten und noch zehnmal mehr für Entschädigungen, die sie den Multis bezahlen müssen. Diese Sondertribunale im Dienst der Gro0unternehmen sind Ausnahmetribunale und haben absolut nichts mit Demokratie zu tun. Man darf da auf dieser Ebene keinerlei Konzessionen machen, außer natürlich, wenn man will, dass die einfachen Bürger überhaupt nichts mehr zu sagen haben.

Übersetzung: Georg Polikeit       Foto: ptb

Dans les autres pays, il y a quand même bien un accord politique sur le CETA...