Im Interview

Tuerkei Dilek-Duendar15.02.2016: Can Dündar, der Chefredakteur der in Istanbul erscheinenden Tageszeitung „Cumhurriet“, und der Leiter des Hauptstadtbüros der Zeitung in Ankara, Erdem Gül, sind am 25. November 2015 inhaftiert worden. Am 27. Januar 2016 hat der Staatsanwalt bei einer Anhörung „verschärfte Inhaftierung auf Lebenszeit“ und zusätzlich 30 Jahre Gefängnis gegen die beiden Journalisten wegen „Spionage“, des „Versuchs eines Staatsstreichs“ und der „Hilfe für eine terroristische Organisation“ beantragt. Der Prozess soll am 25. März beginnen. Wir veröffentlichen ein Interview mit der Ehefrau von Can Dündar, Dilek Dündar:


Frage: Seit dem 26. November sind ihr Mann, Can Dündar, und sein Kollege Erdem Gül, nachdem sie eine Untersuchung veröffentlicht hatten, die die Komplizenschaft der Regierung mit den islamistischen Netzwerken in Syrien nachwies, im Gefängnis Silivri in Istanbul eingekerkert. Der Staatsanwalt hat Gefängnis auf Lebenszeit wegen „Spionage“, „versuchtem Staatsstreich“ und „Hilfe für eine terroristische Organisation“ beantragt. Welche Gefahr droht ihnen?

Dilek Dündar: Die Anklagepunkte können in einem Prozess nicht standhalten, es gibt keinerlei Beweis, um sie zu untermauern. Die einzigen vorgelegten Materialien sind in „Cumhurriet“ veröffentlichte Artikel. Man behält die Hoffnung in unser Gerichtssystem. Wenn die Entscheidung auf rein juristischer Grundlage fällt, dürfte ihre Freilassung wahrscheinlich sein. Alles hängt von der Haltung der türkischen Staatsmacht ab. Präsident Erdogan hat sich zum zivilen Kläger in dieser Angelegenheit gemacht, indem er persönlich eine Klage gegen Can Dündar und Erdem Gül bei der Staatsanwaltschaft Ankara eingereicht hat. Der politische Druck bleibt sehr stark mit der Absicht, jetzt ihre Angelegenheit mit einem Prozess gegen die Organisation Gülen zu verbinden, der am 6. Januar begonnen hat. Wenn diese Spur beibehalten wird, könnte ihre vorläufige Haft Jahre dauern… Das Schlimmste an dieser Absicht, die zwei Prozesse miteinander zu verbinden, ist, dass das Gülen-Netzwerk meinen Mann mehrfach Abhöraktionen unterworfen hatte. [1]

Frage: In welcher Verfassung sind sie vor dem Beginn des Prozesses, der auf den 25. März festgelegt worden ist?

Dilek Dündar: Sie sind engagiert in einem Kampf zur Verteidigung der Wahrheit gegen die staatliche Lüge. Can und Erdem sind auf der richtigen Seite in diesem Kampf, und sie sind bereit, dafür den Preis zu zahlen. Sie werden weiter schreiben und die Lügen enthüllen, die Korruption, die Vetternwirtschaft, den Waffenhandel anprangern, Sie sind sich bewusst, dass die Gewalt des Strafantrags des Staatsanwalts, der Gefängnis auf Lebenszeit fordert, eine Botschaft ist, die an die Gesamtheit der Journalisten und der türkischen Gesellschaft adressiert ist. Jeder und jede kann sich unter falschen Anschuldigungen im Gefängnis wiederfinden, wenn man Sultan Erdogan zu sehr gestört hat.

Frage: Waren sich die beiden in einem Land, in dem 70 Journalisten eingekerkert sind, der Gefahr bewusst, eine solche Untersuchung zu veröffentlichen?

Dilek Dündar: Das war keine Überraschung. Eine solche Reaktion war seitens der türkischen Behörden zu erwarten, vor allem nach dem von der AKP erreichten Wahlsieg bei den Parlamentswahlen im November. Die islamistische Partei von Präsident Erdogan hat, indem sie die bei der vorhergehenden Wahl am 7. Juni verlorene Mehrheit wiedererrungen hat, die volle Handlungsfreiheit zurückerlangt, um ihre Opponenten zu bestrafen. In einer Fernsehsendung hatte sich der Staatschef sehr klar ausgedrückt, indem er Erdem und meinen Mann direkt bedrohte. Wir waren in Erwartung einer Hausdurchsuchung durch die Polizei an unserem Wohnsitz. Schließlich sind sie zum Gericht bestellt worden, das ihre Verhaftung angeordnet hat, obwohl die Richter uns versichert hatten, dass dies unmöglich sei.

Frage: Was erwarten Sie sich von Ihrem Besuch in Frankreich und bei der französischen Regierung, nachdem Sie am Quai d’Orsay empfanden worden sind?

Dilek Dündar: Wir würden uns mehr Unterstützung vonseiten Europas wünschen. In der Türkei haben wir manchmal den Eindruck, allein zu kämpfen, um die sogenannten europäischen Werte zu verteidigen. Die Pressefreiheit, die Freiheit der Justiz, die Freiheit zu demonstrieren, die Meinungsfreiheit, sie alle sind Teil der europäischen Menschenrechtskonvention. Bloß das Schweigen über die Angriffe, deren Opfer wir in der Türkei sind, ärgert uns. Europa zieht es vor, Abkommen mit den türkischen Behörden zu unterzeichnen, um die Flüchtlingskrise an Ankara als Subunternehmer zu vergeben, und nichts zu sagen über die diktatorischen Abwege dieses Regimes.

Glücklicherweise hat Frankreich zum Unterschied von anderen europäischen Staaten Bürgerbewegungen und Gewerkschaften, die mobilisieren, um gegen ein langsames Sterben der türkischen Demokratie zu protestieren… Die Mobilisierung, die Unterstützungsaktionen der europäischen und internationalen Journalistenverbände helfen uns sehr, das Schweigen um dutzende verhaftete Journalisten in der Türkei zu brechen, deren lange Liste Can Dündar und Erdem Gül kürzlich vervollständig haben. Dank der französischen Gewerkschaften, darunter der CGT, konnten wir eine Unterredung mit dem Außenministerium erreichen, um für die Freilassung unserer Freunde zu plädieren und erneut unsere Beunruhigung über das Schicksal der Journalisten in der Türkei mitzuteilen. Diese Solidarität ist sehr wichtig für uns.

Frage: Was denken Sie von diesem Regime?

Dilek Dündar: Die Türkei wird im Lauf der Jahre ein Staat einer Partei, und es scheint immer schwieriger, aus dieser Logik herauszukommen. Wir wenden uns gegen den Autoritarismus des Präsidenten. Es bleiben Widerstände in der Presse, der Justiz und bei den Bürgern, die in großem Umfang auch für die kurdische Partei HDP und die weltliche Partei CHP gestimmt haben. Nur scheint die Gesellschaft völlig fraktioniert. Erdogan hat sich entschlossen, sich an der Macht zu halten, indem er unser Land polarisiert, das eine Reihe von Attentaten erlebt hat. Er hat ein Klima der Angst und des Krieges im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus eingeführt, mit dem er auf die Kurden abzielte. Heute befindet sich der Südosten des Landes voll in einem bewaffneten Konflikt.

(leicht gekürzte Übersetzung des Interviews, das am 13. Februar 2016 von der französischen Zeitung „Humanité Dimanche“ veröffentlicht wurde)
Übersetzung: Georg Polikeit

[1] Anm. Übers.: Fethullah Gülen ist der Chef eines umfangreichen ultrakonservativen islamistischen Netzwerks von Islam-Schulen mit Verzweigungen in Medien und Armee, der seit 1999 in den USA im Exil lebt. Seine „Bewegung“ gehörte zu den Kräften, die Erdogan und seine islamistische AKP 2002 an die Macht verhalfen. Doch seit einigen Jahren sieht der Staatschef in der Gülen-Bewegung eine Bedrohung seiner persönlichen Macht. 2013 nutzte er einen bekannt gewordenen Korruptionsskandal als Vorwand, um eine umfangreiche Umbesetzung in der Regierung und Justiz vorzunehmen, nachdem 2008 bereits mehrere hohe Militärs abgesetzt worden waren, um den angeblich von den Gülen-Anhängern entwickelten „Parallelstaat“ in Verwaltung, Polizei und Militär zu zerschlagen und einem Putschversuch zuvorzukommen.


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