Im Land des Sandes. In der Westsahara

Westsahara EingangBericht von Kerem Schamberger |

11.02.2019: Wochenlang hat es gedauert, bis wir ein Visum bekommen haben. Erst drei Tage vor Abflug kommen die Pässe von der Botschaft zurück. Denn: Unser Ziel, Tindouf, im äußersten Südwesten Algeriens gelegen, ist nach wie vor militärisches Sperrgebiet. Und das, obwohl der »Sandkrieg« zwischen Marokko und Algerien mehr als 55 Jahre her ist.

Damals wollte König Hassan II. seine Ideologie eines „Großmarokkos“ Realität werden lassen und ließ das Gebiet angreifen. 1.000 Tote später musste er seine Truppen zurückziehen. Bis heute nicht abziehen muss das Königreich Marokko aus der seit 1975 besetzten Westsahara. Als sich Spanien aus einer seiner letzten Kolonien verabschiedete, nutzten Marokko und Mauretanien die Gelegenheit und rückten mit ihren Truppen ein. Ein „Grüner Marsch“, bestehend aus ca. 350.000 marokkanischen Zivilisten, sollte zeitgleich Fakten schaffen und die marokkanischen Ansprüche auf das Gebiet geltend machen.

Es folgte ein Guerillakrieg der ELPS (Ejército de Liberación Popular Saharaui) und den bewaffneten Einheiten der Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro), also der Widerstandsorganisation der Sahrauis, die bereits 1973 gegründet wurde. 1979 musste sich Mauretanien geschlagen geben. Doch Marokko änderte nach anfänglichen Niederlagen seine Kriegsstrategie und errichtete nach und nach eine mehr als 2.700 Kilometer lange Mauer bzw. einen Sandwall, „Berm“ genannt, der die effektiven Angriffe der Polisario abwehren sollte.

1991 „endete“ der Krieg mit einem Waffenstillstand und dem Versprechen ein Referendum über den Verbleib oder die Unabhängigkeit der Westsahara durchzuführen. Marokko jedoch spielt bis heute auf Zeit und nutzt die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens (Stichwörter: „Kampf gegen den Terrorismus“, Phosphat und Fischfang) aus, um am Status Quo nichts verändern zu müssen. Im Laufe des Krieges flohen bereits 1975/1976 zehntausende Sahrauis vor den Kämpfen ins nahegelegene Tindouf auf algerischer Seite. Dort hat auch die Exilregierung der Saharauisch Arabisch Demokratischen Republik ihren Sitz. Bis heute leben dort nun um die 200.000 Menschen in fünf Flüchtlingslagern mitten in der unwirtlichen Sahara-Wüste. Genau wie der Konflikt an sich, sind diese Menschen von der Weltöffentlichkeit vergessen. Medico International, eine der wenigen internationalen NGOs, die vor Ort sind, nennt die Sahrauis auch „eine vernachlässigbare Menge“, die zum „Nichtstun“ verdammt und von UN-Lebensmittelrationen abhängig sind. Seit fast 45 Jahren.

Polisario Informationsdienst der Saharauisch Arabisch Demokratischen Republik
Sahara Press Service

 

Eigentlich unvorstellbar. Auch für mich, der den Konflikt erst im Dezember 2010 in Südafrika auf den Weltfestspielen kennenlernte, als sich die marokkanische und sahrauische Delegation prügelten. Erst wenige Wochen zuvor war Ende Oktober 2010 in Gdim Izik ein sahrauisches Protestcamp für ein Leben in Würde, Arbeitsplätze und Unabhängigkeit von der marokkanischen Polizei brutal zerstört worden. Mehr als 10 Menschen wurden dabei ermordet. Für Noam Chomsky übrigens der Beginn des Arabischen Frühlings, noch vor der Selbstverbrennung in Tunesien. In Pretoria/Südafrika war das der konkrete Auslöser der Schlägerei. Wir versuchten damals dazwischen zu gehen und lernten dabei Najla Mohamedlamin kennen. Die 21-Jährige war in der Polisario-Jugend aktiv. Seit zehn Jahren besteht die Freundschaft nun, mit Besuchen in Wien (wo sie später als Au-pair arbeitete), in Dortmund (auf dem UZ-Pressefest) und München. Jetzt ist es an uns, sie an ihrem Geburtsort zu besuchen. Dieser liegt nicht in ihrem Heimatland Westsahara, sondern im Flüchtingslager Smara bei Tindouf.

Westsahara SmarasEs ist halb drei nachts, als unser Flieger in der Wüste landet. Um uns herum wird Hassania gesprochen, ein arabischer Dialekt aus der Region. Im Konvoi geht es, begleitet von algerischer Polizei und Blaulicht, in die Camps. Im militärischen Sperrgebiet soll bloß keiner verloren gehen.

Najla, die uns mit einem offiziellen Fahrzeug des Protokolls der Polisario abgeholt hat, ist im Januar 30 geworden. Sie ist eine Grenzgängerin, die bereits in Spanien und Österreich gelebt und bis Dezember 2018 in den USA/Washington studiert hat. Jetzt ist sie wieder bei ihren acht Geschwistern, der Mutter und dem Stiefvater im Camp und muss mit dem harten Leben klarkommen. Elektrizität gibt es erst seit drei Jahren, fließend Wasser bis heute nicht. Überall ist Sandstaub, er dringt in jede Ecke des Lehmhauses ihrer Familie, in jede Ritze, in jede Pore. Najla sagt, man muss Frieden mit dem Sand schließen, sonst macht er einen verrückt. Im letzten Sommer waren es bis zu 54 Grad Celsius. Dann werden die Teppiche zum Schlafen vom Wohnzimmer ins Freie getragen – an Abkühlung ist trotzdem nicht zu denken. Im Winter hat es nachts um die 0 Grad. Heizungen gibt es so gut wie keine. Unter diesen Bedingungen leben alleine im Camp Smara um die 70.000 Menschen. Genaue Zahlen gibt es nicht, da sie Teil des politischen Kampfes sind: Marokko spielt sie herunter, die Polisario versucht sie möglichst groß zu machen.

Auch unsere vierköpfige Besuchsgruppe wird in den nächsten zehn Tagen Teil ihrer Familie sein und versuchen Westsahara Unterkunftden alltäglichen und politischen Kampf der Sahrauis besser kennenzulernen. Bei unserem ersten Spaziergang fällt auf, dass viele Häuser nur noch Ruinen sind. Sie wurden bei einer Flut Ende 2015 zerstört. Flut und Wüste, wie passt das zusammen? Wenn es einmal regnet, dann ist der ausgetrocknete Boden nicht in der Lage das Wasser sofort aufzunehmen ­– es bilden sich Bäche, die am Fundament der Lehmhäuser nagen und diese schließlich zum Einsturz bringen. Ein Problem, das mit ausgedienten Autoreifen gelöst werden soll, die jetzt als Untergrund beim Hausbau dienen. Es muss sich noch zeigen, ob diese Methode wirklich effektiv ist. Viel mehr Baumaterial steht den Menschen hier sowieso nicht zur Verfügung.

Unser erstes Gespräch führen wir mit Dumaha. Sie ist Vorsteherin des Tifariti-Distriktes, der ungefähr 7.000 Menschen umfasst. Smara hat insgesamt sieben Distrikte, Daire genannt. Ein Distrikt besteht aus vier Barrios. Derzeit stehen den sieben Distrikten Smaras zwei Frauen und fünf Männer vor. Ihre StellvertreterInnen sind zwei Männer und fünf Frauen. Dumaha ist Mutter von acht Kindern (zwei davon blind) und muss sich als Vorsteherin um alltägliche Probleme, wie zum Beispiel die Wasser- und Essensversorgung kümmern, sowie die (sehr geringen) Budgets verteilen.

Westsahara DumahaJede Woche sonntags (also unserem Montag entsprechend) trifft sich der Regional-Rat, bei dem die sieben DistriktvorsteherInnen, die Leitung der Stadt, VertreterInnen des Roten Halbmondes und andere verantwortliche Personen zusammenkommen. Die dort getroffenen Entscheidungen werden auf einer Sitzung am nächsten Tag in den Distriktleitungen bekanntgegeben und diskutiert. Dienstags finden offene Volksversammlungen statt, auf denen die AnwohnerInnen eines Distriktes ihre Anliegen und Probleme zur Sprache bringen können. Ein System, dass von oben nach unten und unten nach oben durchorganisiert ist. Die unteren und mittleren Strukturen der Stadt sind sehr weiblich geprägt. Früher war das kriegsbedingt: die Männer an der Front, die Frauen mit den Kindern in den Lagern. Bis heute hat sich das nicht geändert. Mit dem großen Unterschied, dass die Männer jetzt da sind. „Frauen machen die Arbeit, Männer das Reden“, bemerkt Najla kritisch dazu.

Insgesamt sind die politischen Strukturen hier sehr weiblich dominiert, allerdings nicht auf oberster Ebene. Dort haben vor allem Männer das Sagen. Ein System von Ko-Vorsitzenden, einer Idee der kurdischen Freiheitsbewegung, könnte hier Abhilfe schaffen. Aber dies muss vom dominanten Mann erst einmal akzeptiert werden. Trotzdem: Frauen spielen in der Politik und in der Organisation des Alltags eine wichtige Rolle. Männer akzeptieren auf vielen Ebenen die Entscheidungen der Frauen. Doch diese Doppelbelastung ist nicht immer einfach. Auch in der Familie genießen Frauen größere Freiheiten. So gehören zum Beispiel Scheidungen zum Alltag. Najlas Mutter lebt heute mit ihrem dritten Ehemann zusammen. Und wer sie einmal erlebt hat, weiß, dass es ihr Wille war, dem sich ihre Söhne bis heute beugen müssen.

Dumaha ist auch für das reibungslose Funktionieren der Lebensmittelverteilung zuständig. „Ohne UN-Hilfe könnten die meisten Familien hier nicht überleben“, übersetzt Najla. Die UNHCR gibt für jedes Familienmitglied eine gewisse Menge an Essen pro Monat: 1kg Bohnen, Reis, Couscous. Wenn es Probleme gibt, muss Dumaha eingreifen. Zur generellen Konfliktlösung gibt es, als zentrale Ebene des Rechtssystems ein Rätesystem, mit dem die meisten Probleme im Dialog und mit Schlichtung gelöst werden. Das erinnert mich an Rojava, wo eine ähnliche, auf alte Traditionen zurückgreifende Form eines Rechtssystems ausprobiert wird. Am Ende des Gesprächs, das von unzähligen kleinen Tassen mit pappsüßem Tee begleitet war, gibt uns Dumaha einen Auftrag mit: „Wir brauchen keine materielle, sondern vor allem eine politische Unterstützung. Geht zurück nach Europa und macht das, was hier vor sich geht, bekannt. Brecht das Schweigen!“

Das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen auf kommunisten.de und im Anschluss an die Reise in Deutschland versuchen.

Westsahara Auto in Smara