Analysen

20.11.2015: In diesem Jahr feiert das isw sein 25. Jubiläum. Dieser report 103 soll als Jubiläumsreport verstanden werden, in dem eine Vielzahl von WissenschaftlerInnen und AktivistInnen sich der Frage widmen, wie und wo es aus dem Kapitalismus herausgeht.

Autoren: Elmar Altvater * Ulrich Brand * Mario Candeias * Giorgos Chondros * Frank Deppe * Bettina Jürgensen * Leo Mayer * Anna Ochkina * Werner Rügemer * Helmut Selinger * Hubert Thiermeyer * Hans-Jürgen Urban


Inhaltsverzeichnis:

Elmar Altvater: Der Doppelcharakter der ägäischen Ziege
Das Konzept Austerity hat zum Ziel, den Schuldner schuldendienstfähig zu machen. Die Verwertung des Vermögens verlangt einen ständigen Renditefluss von den Schuldnern zu den Geldvermögensbesitzern. Bis hin zum Bankrott oder zur Liquidierung des Vermögens wird die Schuldendienstfähigkeit der Schuldner erzwungen. Dies exerzieren die Euro- und IWF-Gewaltigen jetzt am Beispiel Griechenland. Die sozialen Bedürfnisse der Menschen haben zurück zu stehen hinter den Ansprüchen der Kreditgeber, allen demokratischen Abstimmungen im Schuldnerland zum Trotz.
Alternativen gibt es, aber keine ökologische, soziale, politische Alternative ergibt sich von selbst. Sie muss dem real existierenden Kapitalismus aufgedrängt werden, sie entfaltet sich nur in sozialen Auseinandersetzungen.

Ulrich Brand: Wie wollen wir leben? Gutes Leben für alle
Kernelement der Forderung nach einem guten Leben für alle: Wir brauchen Formen des individuellen und gesellschaftlichen Wohlstands, die auf politische Gestaltung, sozial-ökologisch verträgliche Produktion und ein attraktives Leben für alle Menschen setzen. Es geht also nicht um Aufrufe zu „Verzicht“ – viele Menschen haben auf nichts zu verzichten – oder den grün-liberalen Wunsch nach „Befreiung vom Überfluss“, sondern neben individueller Verantwortung auch um gesellschaftliche Mitgestaltung.

Mario Candeias: Griechenland – Ein Moment der Katharsis. Oder: „Erfolgreiches“ Scheitern muss organisiert werden.
Im Scheitern der griechischen Regierung ist auch das Scheitern der gesamten Linken in Europa zu erkennen. Doch jede Niederlage birgt die Chance der Aufarbeitung, der Reinigung.
Für uns und für Europa bedeutet die Niederlage in Griechenland nicht zuletzt: Von links kann das Projekt europäischer Einigung kaum noch verteidigt werden. Die eingefahrenen Formen linker Politik, Bewegungen, Gewerkschaften, Parteien taugen nicht. Ein Strategiewechsel ist nötig: vom Diskursiven zum Materiellen, von programmatischen Argumenten hin zur Intervention in konkrete soziale Alltagsverhältnisse durch zivilgesellschaftliche Organisationen.
Aber auch die Idee Europa muss neu gefüllt und gestaltet werden. Den möglichen Start für eine Neugründung Europas könnte eine Europäische Bürgerinitiative mit einigen wenigen und europaweit breit zu diskutierenden Kernzielen schaffen.

Giorgos Chondros: Die aktuellen Machtverhältnisse dürfen nicht der Horizont linker Politik sein.
Die Strategie von Syriza basierte auf der Annahme, dass die neue griechische Regierung unter den gegebenen Kräfteverhältnissen in der Eurozone einseitig die Austeritätspolitik würde abschaffen können. Ihre Taktik gründete darauf, dass die Gegner es nicht wagen würden, Griechenland aus dem Euro zu werfen, weil sie dann ein Vielfaches draufzahlen würden. Sowohl strategisch als auch taktisch lag Syriza damit falsch. Die große Gefahr besteht nun darin, dass die Kapitulation beim Abschluss des Memorandums zu einer politischen Linie transformiert wird. Das wäre das Einschwenken auf eine Politik, die davon ausgeht, dass die gegenwärtigen Machtverhältnisse unser Horizont sind und wir daran nichts verändern könnten.

Frank Deppe: Geht der neoliberale Hegemoniezyklus zu Ende?
Mit der Entfaltung innerer Widersprüche wird in den kapitalistischen Systemen Hegemonie, die auf Konsens beruht, mehr und mehr durch Elemente des Zwangs ersetzt. Diese Transformation von Hegemonie in Zwang realisiert sich in drei Dimensionen: Die zugespitzte soziale Spaltung in den Kapitalmetropolen und zwischen armen und „reichen“ Regionen der Weltgesellschaft erzeugt mannigfache Formen der strukturellen und unmittelbaren Gewalt; da die Reproduktion stabiler Herrschaft über Marktmechanismen nicht mehr ausreicht, treten wieder stärker Elemente des „autoritären Etatismus“ (Poulantzas) in den Vordergrund; in der internationalen Politik nehmen Gewaltverhältnisse signifikant zu, unter Führung der USA und der NATO werden sogenannte „Störenfriede“ (Irak, Afghanistan, Syrien u.a.) bekämpft, in Ostasien geht es um die „Eindämmung“ Chinas, im Osten Europas um die Zurückdrängung Russlands.

Bettina Jürgensen/Leo Mayer: „Die Geschichte ist eine listige Dame“ (A. Gramsci)
Die Linke in Europa war unfähig, in ihren Ländern und europaweit einen solchen Druck zu entwickeln, der die Euro-Troika in der Auseinandersetzung mit der griechischen Regierung zu Zugeständnissen gezwungen hätte. Wie kann die Linke stärker werden? Jetzt geht es um das Zusammenführen von rot-rot-grün (plus lila) als gesellschaftliche Strömungen und Bewegungen: soziale Fragen wie Prekarisierung, bessere soziale Infrastruktur, öffentliche Güter, Wohnen, Kultur, soziale und politische Rechte müssen in zivilgesellschaftliche Kämpfe überführt werden; Gesellschaft und Wirtschaft müssen national, regional, globale grundlegend demokratisiert werden; der Umbruch zu einer zukünftigen Gesellschaft muss ökologisch sein; wir brauchen eine Feminisierung von Gesellschaft und Wirtschaft.

Anna Ochkina: Die Chance auf Geschichte oder Dialektik am Scheideweg
Wir können die Zukunft nur gestalten, wenn wir die Vergangenheit richtig verstehen und aufgreifen. Doch ist diese nicht in Stein gemeißelt, erscheint jeweils in neuem Licht. Was einst als Fortschritt gewürdigt wurde, wird heute schnell verteufelt. Denn progressive Umgestaltung ist immer auch mit sozialen Tragödien verbunden, eine gute Chance für die Reaktion zur Manipulation des historischen Gedächtnisses. Dies gilt für die Krise der europäischen Sozialstaaten, wo Demokratie und Sozialstaat unter dem Druck des Kapitals von innen zerstört und pervertiert werden. Es gilt in Russland für das Bild der Sowjetunion, die von den neoliberalen Eliten verteufelt und von Opfern der Umwälzung idealisiert wird. Beides ist falsch. Vielmehr muss man die wertvollsten Erfahrungen der Sowjetunion zum Aufbau der Zukunft Russlands nutzen.

Werner Rügemer: Die Transnationale kapitalistische Klasse – wer ist sie, was macht sie, mit wem und warum?
Der Kapitalismus kann sich nicht nur mit verschiedenen Religionen schmücken, selbst ein kommunistischer Kapitalismus ist möglich, wie in China. Wir müssen diese sich ständig ändernden Organisationsformen des Kapitalismus kennen, um genauer herauszufinden, wie wir ihn überwinden können. Ein wesentlicher Untersuchungsgegenstand ist dabei die Transnationale kapitalistische Klasse. Sie ist heute internationaler denn je organisiert. Ihren Kern bilden Kapitaleigentümer der am intensivsten gegenseitig vernetzten Standorte, also der USA und der EU. Von der „Verantwortung“ für das (relative) Wohlergehen nationaler Volkswirtschaften haben sie sich abgelöst. Ihre transnationalen Strukturen sind darauf gerichtet, die staatlichen, politischen, medialen, wissenschaftlichen Institutionen und Prozeduren „im Griff“ zu haben, nicht mehr nur eines Staates, sondern gleichzeitig mehrerer Staaten.

Helmut Selinger: Ein grundlegend anderes Mensch-Naturverhältnis ist für die Menschen überlebenswichtig
Alle Industrien, deren Geschäft direkt oder indirekt mit fossilen Brennstoffen verbunden ist – die transnationale Energie-, Fahrzeug-, Flugzeug- und Chemieindustrie sowie die globalisierte Weltwirtschaft mit ihren weltweiten Transportwegen – hintertreiben eine Ablösung des selbstmörderischen Energie- und Transportsystems. Wenn die Menschheit auf dieser Erde überhaupt eine natürliche Zukunft haben will, dann muss sie schnellstmöglich einen radikalen Wandel herbeiführen. Durch eine Änderung des Lebensstils vor allem in den reichen Ländern und durch radikale Energieeffizienzmaßnahmen könnte dies erreicht werden. Ein Konzept der globalen Klimagerechtigkeit wird vorgestellt, worin CO2-Überschreitungen als „Klimaschulden“ in einem globalen Klimafonds zu Buche schlügen, mit dessen Mitteln weltweit Verhinderungs- und Anpassungsmaßnahmen hinsichtlich des Klimawandels auch in ärmeren Regionen der Welt durchgeführt werden könnten.

Hubert Thiermeyer: Die Zukunft der gewerkschaftlichen Arbeit im Betrieb entscheidet
Auch und gerade im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung kann die Zukunft der Arbeit nicht ohne die Zukunft der Gewerkschaften gedacht und gestaltet werden. Deren zentrales Betätigungs- und Bewährungsfeld liegt im Betrieb. Priorität bei der gewerkschaftlichen Arbeit im Betrieb muss die Aufgabe haben, abhängig Beschäftigte zu Handelnden in den eigenen Konfliktfeldern zu machen. Jede Stellvertreter-Strategie widerspricht dieser fundamentalen Erfordernis. Den Folgen der Kapitalstrategien in den Betrieben muss „konfliktorisch“ begegnet werden. Druckkampagnen müssen alltägliches Element der gewerkschaftlichen Arbeit werden. In zentralen gesellschaftlichen Fragen – in welcher Gesellschaft wollen wir leben, welches Wirtschaftssystem brauchen wir – müssen Gewerkschaften Teil gesellschaftlicher Kampagnen sein.

Hans-Jürgen Urban: Und wo bleibt der Widerstand? Fragen an eine Mosaiklinke im autoritären Euro-Kapitalismus
Während der nationale Nachkriegskapitalismus in Deutschland noch willens und in der Lage war, eine Balance von Kapital und Demokratie herzustellen, ist das im Finanzmarktkapitalismus seit den 70er Jahren nicht mehr vorgesehen. Wir erkennen klare Anzeichen für die Entwicklung zur Postdemokratie und New Economic Governance: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten werden auf Deregulierungs- und Austeritätspolitik festgelegt.
Wo bleibt der Widerstand? Der neoliberalen Deformation Europas steht keine transnationale Widerstandsbewegung gegenüber. Das Mosaik-Linken-Konzept bietet eine solche kapitalismuskritische Perspektive. Als Assoziation von „Feldakteuren“ könnte sie im jeweiligen sozialen Mikrokosmos die Kräfteverhältnisse sondieren und verändern, um dann als „mosaiklinker Kollektivakteur“ gemeinsame politische Ziele zu verfolgen. Dabei läge die Schlüsselressource in der Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Zugänge, nicht in der Vereinheitlichung. Wo auch immer diese mosaiklinken Akteure ansetzen würden: die Kapitalismusfrage würde sich quasi im Selbstlauf auf die Tagesordnung setzen.

Der isw report 103 erscheint Ende November 2015 mit einem Umfang von 56 Seiten.   
Für 4,50 € zzgl. Versandkosten können Sie diesen Report ab Ende November hier bestellen:
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